2. Der metaphysische Teil (VII-XII).

[11] Die zuletzt erwähnten Stellen zeigen, wie schroff und unvermittelt in unserem Gedichte der Pantheismus der alten Upanishad's und der aus ihm hervorgegangene Theismus neben einander stehen. Die Anschauungen unseres Dichters wie die seiner ganzen Zeit ruhen zunächst auf dem festen Grunde des aus den Upanishaden überkommenen Idealismus, nach welchem der Âtman in uns die alleinige Realität, die ganze vielheitliche Welt aber eine[11] blosse Mâyâ (Illusion) ist. Dieser Idealismus, welcher am reinsten in den den Namen des Yâj avalkya tragenden Texten der Bṛihadâraṇyaka-Upanishad vorliegt, musste weiterhin schon auf dem Boden der alten Upanishad's dem Realismus die Konzession machen, dass die vielheitliche Welt zwar existiert, dass aber diese ganze vielheitliche Welt in Wahrheit nur der Âtman ist. Aber diese Identität des einen Âtman und der vielen Dinge, so oft sie auch, namentlich in der Chândogya-Upanishad, behauptet wird, war und blieb doch unverständlich, und so ersetzte man diese nicht zu verstehende Identität durch die als populäre Vorstellung von alters her bestehende Kausalität und erklärte den Âtman für die Ursache, die Welt für die aus ihm hervorgegangene Wirkung. Ein weiterer Schritt führte dazu, den Âtman in uns als die individuelle Seele (jîvâtman) von dem weltschaffenden Âtman als dem höchsten Âtman (paramâtman) zu unterscheiden, wodurch dann der ursprüngliche Pantheismus in den Theismus umschlug, wie ihn unser Gedicht in der Weise vertritt, dass (wie in einem Codex palimpsestus) alle jene früheren Entwicklungsstadien noch in ihm durchschimmern. Der aus Kṛishṇa redende Allgott erklärt sich für Anfang, Mitte und Ende aller Wesen; er hat[12] alle Erscheinungen der Welt aus sich herausgesetzt, trägt und erhält sie, ohne doch in ihnen aufzugehen: »Ich trage die Wesen und bin doch nicht in den Wesen befasst, mein Selbst ist der Bildner der Wesen«, wie es S. 62, 5 heisst. Und wie er die Welt aus sich herausgesetzt hat, so schlingt er sie am Ende einer Weltperiode (kalpa) wieder in sich herein; wie Wasserströme in den Ozean, wie Mücken in das flammende Feuer, so stürzen alle Wesen in seinen zähneklaffenden, furchtbaren Rachen (S. 79, 27 fg.); er ist der Weltschöpfer und der Weltvernichter, aber immer wieder entstehen auf dem Wege der Seelenwanderung die Wesen aufs neue, bis sie endlich vom Samsâra erlöst in das Urwesen eingehen und in ihm zur Ruhe kommen.

Zwei Wege sind es, welche, wie S. 86, 2 fg. gelehrt wird, zu diesem höchsten Ziele führen; der eine besteht darin, dass man in der Weise der alten Upanishadlehre sich selbst in allen Wesen und alle Wesen in sich selbst sieht, sich als den ewigen Âtman weiss und durch diese Erkenntnis zur Erlösung eingeht. Aber dieser Weg ist für die Menschen schwer zu erlangen. Leichter und sicherer wird dasselbe Ziel erreicht, wenn man im Glauben an den persönlichen Gott und im Vertrauen auf seine Hilfe mit allem Denken und Tun ihm allein[13] sich hingibt: »Die, welche alle ihre Werke auf mich werfen, mich für das Höchste erachten, mich mit einer auf nichts anderes gerichteten Hingebung meditieren, verehren, für diese, die ihren Geist in mich versenken, werde ich, o Sohn der Pṛithâ, alsbald zum Erretter aus dem Ozean des Todes und der Seelenwanderung« (S. 87, 5-7). Die, welche »in Verehrung mir anhängen, die sind in mir und ich bin in ihnen«, wie es S. 66, 29 (in ähnlicher Wendung wie Ev. Joh. 14, 20) heisst. Wer so steht, der weiss sich selbst in Gott und Gott in allen Wesen, und so wird er alle Wesen lieben, wie sich selbst: »Wer in allen Wesen den höchsten Gott wohnen sieht, der nicht vergeht, wenn sie vergehen, wer den sieht, der ist wahrhaft sehend; denn indem er allerwärts denselben Gott wohnen sieht, wird er nicht sich selbst durch sich selbst verletzen wollen, und so geht er den höchsten Weg« (S. 94, 27-28).

Soweit das Gedicht sich in den bisher zusammengefassten Gedanken bewegt, vertritt es in lebendiger, poetischer Reproduktion die Âtmanlehre der alten Upanishad's, nur dass der Âtman, welcher voll und ganz in den Tiefen unseres eigenen Innern zu finden ist, behuss lebendigerer Erfassung vorgestellt wird als ein ausser uns bestehender, persönlicher Gott, in der Hingabe an welchen mit allem[14] unseren Tun und Denken wir die höchste Seligkeit finden.

Aber die realistischen Neigungen, welche jedem Menschen von Natur innewohnen, und auf denen auch im Grunde der Theismus beruht, haben in dem Zeitalter, welchem unser Gedicht verdankt wird, noch nach einer anderen Seite hin zu einer wesentlichen Modifikation der alten Vedântalehre geführt. Nach ihr war der eine ewige Âtman das allein Reale, und die ganze Welt der Vielheit und des Werdens wurde für eine blosse Mâyâ, eine trügerische Sinnestäuschung, erklärt. Aber diese Mâyâ, dieses blosse Nichtseiende, verdichtete sich allmählich zu einer konkreten, empirische Formen annehmenden Realität, der Prakṛiti, der »aus den drei Guṇa's bestehenden Mâyâ« (guṇamayî Mâyâ, wie es S. 53, 14 heisst), welche einerseits, der ursprünglichen Anschauung entsprechend, vom Âtman abhängig ist, andererseits aber als eine selbständige Wesenheit sich vom Âtman abgelöst hat, welcher ihr nunmehr als der Purusha, der Gleist, das Subjekt des Erkennens, gegenübertritt. Diese zweideutige Stellung der Prakṛiti als einer vom Purusha abhängigen und doch wieder ihm selbständig gegenüberstehenden Wesenheit ist für den Standpunkt unseres Gedichtes charakteristisch, und tritt uns als ein nicht ausgeglichener Widerspruch[15] überall aus demselben entgegen. So werden S. 51, 4 Elemente und psychische Organe, wie sie im späteren Sânkhyam die Evolutionen der Prakṛiti bilden, von dem Gotte für seine eigene, achtfach gespaltene Natur erklärt, und ebenso heisst es S. 52, 12: »Alle sattva-artigen Zustände, alle rajas-artigen und alle tamas-artigen stammen aus mir, das sollst du wissen«; S. 62, 4: »Von mir in der Gestalt des Unentfalteten ist diese ganze Welt ausgebreitet worden«; und so stammt in diesem Sinne auch alles Böse aus Gott (vgl. z.B.S. 64, 12; 68, 5). Hingegen wird S. 39, 14-15 erklärt, dass die Werke, böse wie gute, aus der eigenen Natur der Geschöpfe entspringen und nicht durch den Herrn der Welt gewirkt werden, und dass Gott im Gegensatze zur Prakṛiti, welche nur seine niedere Natur bilde, noch eine andere, höhere Natur besitze, welche allem Unvollkommenen als das Vollkommene gegenüberstehe. In diesem Sinne ist er, wie S. 52, 8 fg. weiter ausgeführt wird, das Beste in allem, der Verstand der Verständigen, die Stärke der Starken; S. 74, 41: »Alles was mächtig und gut, alles was schön und kraftvoll ist, das alles, sollst du wissen, entsteht als ein Teil aus meiner Kraft.« So steht schon hier der Prakṛiti als der niederen Natur Gottes seine höhere Natur als der Purusha gegenüber;[16] S. 59, 22: »Das ist, o Pṛithâsohn, jener höchste Purusha, der durch eine nur ihm zugewandte Verehrung ergriffen wird, der alle Wesen in sich befasst und durch den dieses ganze Weltall ausgebreitet ist.«

So sehen wir, wie in unserem Gedichte die alte Upanishadlehre von der alleinigen Realität des Âtman, neben welchem alles andere ein blosses Scheinwesen, Mâyâ, war, auf dem Wege ist, in einen Dualismus überzugehen, in welchem die Mâyâ als Prakṛiti zu einer vom Âtman unabhängigen und doch auch wieder abhängigen Stellung gelangt ist, während ihr der Âtman als Purusha gegenübersteht und sie doch auch wieder in sich befasst. Beide Begriffe, Purusha und Prakṛiti, sind noch nicht, was sie im späteren Sâ khyasystem geworden sind, aber sie sind auf dem Wege, es zu werden. Wir können daher der Ansicht derer nicht beipflichten, welche in der Bhagavadgîtâ eine Mischphilosophie, sei es einen durch Sâ khyaelemente modifizierten Vedânta, sei es ein mit Vedântagedanken durchsetztes Sânkhyam sehen, und bleiben, ohne dem auf diese Untersuchungen verwendeten Scharfsinn unsere Anerkennung zu versagen, doch bei unserer schon früher ausgesprochenen Ansicht, dass die Bhagavadgîtâ, wie auch die übrigen philosophischen Texte des Mahâbhâratam, Denkmäler nicht[17] einer Mischphilosophie, sondern einer Übergangsphilosophie sind, eines Vedânta, welcher durch die mehr und mehr sich geltend machenden und aus der Anlage der menschlichen Natur begreiflichen realistischen Tendenzen in einer Entwicklung begriffen ist, welche schliesslich zu dem zur Zeit der Entstehung unserer Dichtung noch gar nicht vorhandenen Sâ khyasysteme überleitete.

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. XI11-XVIII18.
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