Die altchinesische Poesie und das Schī-kīng.

[51] Bei den Chinesen, wie bei allen Völkern, finden wir die dichterische Gestaltungskraft schon in Zeiten thätig, die man noch nicht oder kaum zu den historischen rechnen darf. Das Schū-kīng hat mehre Strophen aus dem 22. Jahrhundert v. Chr. aufbewahrt, und sicherlich ist schon Älteres vorhanden gewesen. Vieles mag unaufgezeichnet verhallt, vieles Aufgezeichnete untergegangen sein, bevor die Blüthezeit altchinesischer Cultur zu Anfang der Tschēu-Dynastie die schönen und reifen Früchte zeitigte, welche das Schī-kīng aufbehalten hat. Lieder[51] und Gesänge durchklingen den ganzen von uns betrachteten Zeitraum.

Auffallend ist es, daß sich aus den mimischen Opfertänzen kein Drama entwickelt hat, während die heutigen Chinesen das Theater, das sie wahrscheinlich aus Indien erhielten, leidenschaftlich lieben. Noch auffallender, daß uns auch nicht die leisesten Spuren eines Epos begegnen, womit doch die Dichtung der meisten Culturvölker beginnt, sobald sie mit Bewußtsein schöpferisch wird. Erklärt jedoch den Mangel eines alten Dramas die Abwesenheit eines epischen Sagenschatzes, der zu dramatischer Vergegenwärtigung härte reizen können, so dürfte auch das Fehlen eines nationalen Epos nicht unerklärlich sein.

Wir wissen, daß die chinesische Menschheit nie dem wundersamen psychologischen Prozesse unterlegen ist, der andere alte Culturvölker zwang, ihre vielgestaltigen Mythen zu erzeugen. Das Gottesbewußtsein, das bei diesen in eine bunte begebenheitreiche Fülle von Göttern und Halbgöttern auseinanderging, blieb den Chinesen an die eine gestaltlose Macht des »Höchsten Herrn« oder des Himmels geheftet, welcher gegenüber alles Menschliche menschlich und natürlich vorging und von jeher vorgegangen zu sein schien. Eine solche Weltanschauung kann früh zur geschichtlichen Überlieferung und zur Geschichtschreibung reizen, hat dieß bei den Chinesen auch gethan, sie verleiht aber keine Zeugungskraft für das ursprüngliche Epos, welches hervorgeht aus der bewundernden Theilnahme für Heroen, die das gewohnte menschliche Maß überragen und in deren Thaten und Schicksale die Überirdischen lebendig eingreifen. Solche Heroengestalten erzeugt aber wieder nur eine mythologische Zeit, welche dieß auch ihrerseits symbolisch dadurch andeutet, daß sie jene zu Göttersöhnen macht. In China konnte kein Epos entstehen, weil alle Voraussetzungen dazu fehlten.

Wie mannigfaltige Saiten aber die altchinesische Lyrik angeschlagen hat, zeigt die vorliegende Übersetzung, und es[52] wäre unnöthig, sich darüber zu verbreiten. Doch wird man leicht bemerken, wie viele uns völlig neue Motive darin verwendet und wie geistreich dieselben in besonders schwierigen Fällen behandelt sind Über den dichterischen Werth der Lieder wird die Meinung je nach Urtheilsfähigkeit verschieden ausfallen. Wir glauben dem Urtheil Einsichtiger nicht vorgreifen zu sollen.

Einiges Fremdartige und Eigenthümliche der Form wird bald auffallen. So zeigen manche Lieder das, was wir als Variation bezeichnen möchten. Der Gedanke der ersten Strophe wiederholt sich in einer zweiten, dritten, auch wol noch mehren, während kleine Abänderungen, vielleicht nur in den Reimwörtern, ihm eine neue Färbung geben. Dergleichen erscheint beim bloßen Lesen als eine müssige Spielerei; aber man erinnere sich, daß diese Lieder für den lebendigen Gesang bestimmt waren. Wie gern, nach dem raschen Verklingen der Töne, hört man eine ansprechende Melodie wiederholt, ja, öfter wiederholt! Dem schmiegt sich hier der Dichter an. Was er sagen wollte, hat er bereits in einer einzigen Strophe gesagt. Je genauer sich damit der musikalische Ausdruck deckt, desto weniger wagt er, ihm für die erwünschte Wiederholung ein Neues unterzulegen. Diese ist ihm zwar selbst willkommen, sie prägt den Sinn des Gesagten um so mehr ein. Um dabei aber doch einen Reiz hinzuzufügen, läßt er jene zierlichen Abänderungen ein treten. Könnte man ein solches Lied mit einer schönen ächt empfundenen Melodie singen, man würde sich sofort von dem Angemessenen dieser Form überzeugen.

Die eigentlichen Lieder sind in Strophen abgegliedert, die in der Regel gleiche Verszahl haben. Mit Ausnahme einiger Feiergesänge des vierten Theils sind sie sämmtlich gereimt. Einen Rhythmus haben die Verse nicht, den Reim aber findet man schon in den oben erwähnten Überresten aus dem dritten Jahrtausend v. Chr. Eine wiederkehrende Reimstellung findet sich zwar, vornehmlich in kleineren Liedern, sie ist aber nicht[53] allgemeines Gesetz. In dieser Beziehung herrscht innerhalb der verschiedenen Strophen eine große Mannigfaltigkeit. Dabei kommen zwischen den gereimten Versen meist auch nichtgereimte vor. Freilich darf man, um in allen Fällen die Reime sicher zu erkennen, sich nicht auf die heutige Aussprache gebildeter Chinesen verlassen; man muß auf die alte Aussprache zurückgehen, wie sie Edkins in seiner »Introduction to the study of the Chinese Characters« (London, 1876) zu ermitteln gesucht hat. Auch chinesische Gelehrte stellten darüber bereits erfolgreiche Forschungen an, und wir haben uns den von Dr. Legge gewissenhaft mitgetheilten Angaben des Túan-Jü-thsâi (1735 bis 1815) angeschlossen.

Die chinesischen Herausgeber pflegen bei jeder Strophe anzumerken, ob sie unmittelbare Aussage (fú), oder ein Gleichniß (pì), oder eine sinnbildliche Einleitung (híng) enthalte. Nur dieß letzte ist etwas Eigenthümliches, indem dabei jeder Strophe, ehe sie zu dem wirklichen Gegenstande des Liedes übergeht, in einem oder ein paar Versen die Erwähnung einer besonderen Naturerscheinung oder eines bekannten Vorganges wie eine sinnvolle Arabeske vorausgeschickt wird, um Nachdenken, Empfindung und Stimmung für das Folgende vorzubereiten. Das Sinnbild ist dann entweder in allen Strophen dasselbe, oder auch wol jedesmal ein neues. Einige Mal finden sich auch Wiederholungen, wie unsere Refrains, am Ende, ausnahmsweise und selten am Anfang der Strophen.

Die Eintheilung dieser Dichtungen in vier Hauptabschnitte scheint nach der Entstehung und Verwendung getroffen zu sein. Im Deutschen lassen sich die chinesischen Titel derselben nicht wol wörtlich wiedergeben. Der erste Theil ist Kuŏ fúng benannt, d.h. was die Länder durchwehet, in ihnen verbreitet, gebräuchlich, Sitte ist. Wir haben es daher als »Landesübliches« bezeichnet, und die Überschriften der einzelnen fünfzehn Bücher geben an, welchem Reichslande die Lieder jedesmal angehörten. Der zweite Theil heißt Siaò jà, der dritte Tá jà. Siaó heißt[54] klein und tá groß. Jà bedeutet das Rechte, Gehörige, Geziemende. Es dürfte damit gesagt sein sollen, daß diese Lieder die rechten, geziemenden seien, die bei Hofe zu festlichen Anlässen gesungen würden. Das groß und klein bezieht sich vielleicht auf die größere oder geringere Bedeutung der Festlichkeiten, vielleicht auch auf den Umfang der Lieder. Wir betitelten diese Theile als »Kleine« und »Große Festlieder«. Man hat die chinesischen Titel auf den moralischen Inhalt oder Zweck der Lieder deuten wollen, doch scheint uns dieß eine spätere Künstelei. Die Bezeichnung des vierten Theiles, Súng, haben wir durch »Feiergesänge« wiedergegeben, was dem Sinne entsprechen dürfte, denn in ihnen werden nicht nur die Ahnen gefeiert gepriesen, sie wurden auch bei den Opferfeiern gesungen.

Diese Eintheilung scheint älter zu sein, als die Zusammenstellung unserer Sammlung, und rührte wahrscheinlich von früheren Musik- und Sangmeistern des königlichen Hauses her. Diese hatten eine sehr angesehene Stellung, denn die Pflege der Musik und des Gesanges, sowie die Sorge für deren Reinhaltung, wurde zu den königlichen Pflichten gerechnet. In der älteren Zeit mußten die Obermusikmeister (Tá ssé jŏ) bei den königlichen Besuchsreisen in den Fürstenthümern die dort gebräuchlichen Lieder sammeln, damit auch aus ihnen der Zustand der Länder erkannt werde, und dieser Brauch kann nicht schon unter König P'hîng abgekommen sein, wenn aus dem so zusammengebrachten Vorrathe der erste Theil unserer Sammlung ausgewählt ist, da sich in diesem unbezweifelt Lieder aus späterer Zeit – eins sogar aus den Jahren 612-598 – befinden. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß in den 600 Jahren, aus denen 300 Lieder des Schī-kīng stammen, deren noch eine bei weitem größere Anzahl entstanden sein müsse, und wenn der Geschichtschreiber Ssé-mà-ts'hiān (um 100 v. Chr.) sagt, der alten Lieder seien mehr als 3000 gewesen so ist dieß schwerlich übertrieben.[55]

Eine andere Frage ist es, wann die jetzt vorhandene abgeschlossene Sammlung entstanden sei. Unbestritten steht fest, daß die Chinesen sie im Ganzen so wie sie ist aus der Hand Khùng-tsè's (des Confucius) empfangen haben, und was dieser schließlich daran gethan, fällt in das Jahr 483 v. Chr. Ssē-mà-ts'hiān, dem alte und gute Quellen zu Gebote standen, der vielleicht noch die ächten »Hausgespräche« Khùng-tsè's benutzen konnte, berichtet, Khùng-tsè habe die jetzige beschränkte Liederzahl aus den erwähnten drei Tausenden ausgewählt, und es sind hiermit auch spätere Angaben bis 1200 n. Chr. nicht im Widerspruch. Dagegen sucht Dr. Legge die Ansicht zu begründen, das Schī-kīng habe im Wesentlichen schon vor Khùng-tsè's Geburt so bestanden, wie es bei seinem Tode gewesen sei, und er habe nur etliche Änderungen in der Anordnung der Bücher und Lieder vorgenommen. Die von dem berühmten Sinologen dafür geltend gemachten Gründe dürften jedoch nicht stark genug sein, um Ssē-mà-ts'hiān's Autorität zu erschüttern. Für die Nachweisung dieser Behauptung ist jedoch hier nicht der geeignete Ort.

Khùng-tsè hat, seinen eignen Angaben zufolge, um 483 v. Chr. die Lieder »des Jà und des Sùng an ihre gehörigen Stellen« gebracht. Hätte er auch diese einem größeren Vorrathe entnommen, so müßte er mithin die Auswahl schon früher getroffen haben. Allein es ist kaum glaublich, daß von den bezeichneten Liedern viel mehre vorhanden gewesen seien, als wir jetzt besitzen; denn diese hatten schon der Kritik der älteren Könige, Weisen und Hofgelehrten unterlegen. Er mag nur einzelne zurückgelassen haben, die seinen Ansichten nicht entsprachen. Bei den Liedern aus den Reichsländern war eine solche Kritik von Anbeginn durch die Bestimmung der Sammlung ausgeschlossen, und sollten sie, was Khùng-tsè's Absicht war, einem Lehrzwecke dienen, so war eine sorgfältige Auswahl allerdings nothwendig. Seine soeben angeführte Äußerung dürfte darthun, daß er diese Arbeit schon in früheren[56] Jahren, d.h. vor seiner letzten Rückkehr nach Lù beendigt gehabt. Natürlich hatte er dabei alles zurückgewiesen, was seinem Sinne nicht gemäß war, und dessen mochte gar viel sein. Hieraus erklärt sich wol, daß von nicht wenigen Reichsländern gar keine Lieder aufgenommen sind und sogar Khùng-tsè's heimathliches Fürstenthum Lù in dem Kuŏ fúng fehlt, während doch ein besonderer Abschnitt von Enkomien aus Lù in die Súng aufgenommen ist.

Khùng-tsè citirt in den Gesprächen, die seine Schüler aufgezeichnet haben, oft und gern Verse, die wir jetzt im Schī-kīng finden. Thut er dieß aber meist mit den Worten: »das Schī sagt«, so heißt dann Schī eben nur »das Lied« oder »ein Lied«, und man muß dabei nicht schon an unsre Sammlung denken. Daß er in diese aber gerade diejenigen Lieder aufgenommen, deren er mit Beifall gedachte, ist nur natürlich.

Als nach Khùng-tsè's Tode (479 v. Chr.) dessen Ansehen immer mehr stieg, kam auch seine Liedersammlung zu immer größerer Autorität. Dann auch wurde ihr erst zu dem Namen »Schī«, Lied oder Lieder, die Bezeichnung »Kīng« beigelegt, womit ein kanonisches oder klassisches Buch gemeint ist; eine Bezeichnung, welche in diesem Sinne erst nach Khùng-tsè's Zeit entstanden ist. Was nun außer dem Schī-kīng an älterer Dichtung noch vorhanden war, fand geringe Beachtung und ging nach und nach unter, so daß nur wenig davon übriggeblieben ist.

Aber auch über das Schī-kīng kam nach nicht drei Jahrhunderten die größte Gefahr. Der Thsîn-Kaiser Schì-hoâng-tí, ein selbstherrscherlicher, gewaltthätiger Charakter, fand sich, nachdem er die Tschēu-Dynastie und die alte Verfassung des Reiches gesturzt, durch die Anhänglichkeit seiner Würdenträger und Beamten an die Überlieferungen des Alterthums und an die Lehren Khùng-tsè's so eingeengt und behindert, daß er im Jahre 212 v. Chr. bei Todesstrafe die Verbrennung aller darauf bezüglichen Bücher, insbesondere des Schū-kīng und des Schī-kīng[57] befahl. Dieser Befehl wurde mit äußerster Grausamkeit durchgesetzt, und es ist kaum zu bezweifeln, daß alle vorhandenen Handschriften des Schī-kīng damals wirklich vernichtet worden sind.

In den Geistern der Überlebenden aber konnte er die Lieder nicht austilgen. Wie es noch heute in Indien Männer giebt, die den ganzen Vêda, in China solche, die das ganze Schī-kīng treu im Gedächtnisse haben, so fanden sich, nachdem die Hán-Dynastie (201 v. Chr.) zur Regierung gekommen, mehre Gelehrte, welche das Schī-kīng auswendig wußten und wiederum aufzeichneten. Es traten drei verschiedene Texte hervor, welche jedoch durch den von Mâo (um 129 v. Chr.) bekannt gemachten so sehr übertroffen wurden, daß sie bis auf ein geringes Bruchstück untergegangen sind. Indeß wissen wir, daß ihre Vergleichung mit Mâo's Texte gerade die Zuverlässigkeit des letzteren bestätigt hat.

Von Mâo stammt zugleich der älteste von den zahlreichen Commentaren des Schī, und weil er dem Alterthum noch am nächsten lebte, sind seine Erklärungen schwieriger Ausdrücke beachtenswerth. Von großem Verdienst ist der Commentar des gelehrten und geistreichen Tschū-hī (1130-1200). Nicht genug zu schätzen aber ist die Bearbeitung des Schī-kīng von Dr. Legge, welche den vierten Theil in dessen großem Werke »The Chinese Classics« bildet. Die Einleitung, die Übersetzung, die fortlaufenden Erklärungen bieten alles, was Gelehrsamkeit, große Belesenheit, Fleiß und Sorgfalt leisten können. Auf dieses Werk mögen Diejenigen hingewiesen sein, denen an dem rein gelehrten Apparat gelegen ist. –

Von Übersetzungen des Schwing ist zunächst die im 17. Jahrh. verfertigte Mandschuische zu erwähnen, welche H.C. von der Gabelentz in unser Alphabet transscribirt und im J. 1864 herausgegeben hat. Sie bestrebt sich großer Genauigkeit und übersetzt Wort für Wort, ist aber deßungeachtet nicht immer zuverlässig. Um 1733 verfertigte der Pater Lacharme eine[58] lateinische Übersetzung, welche Jul. Mohl 1830 herausgab. Sie ist voller Fehler und Mißverständnisse, meist nur Umschreibung des ungefähren Sinnes und nimmt nicht selten erklärende Zusätze in den Text selber auf. Versuchte nun Rückert 1833, diese Übersetzung mit seiner bekannten Formgewandtheit, dabei aber sehr willkürlich, in deutsche Verse zu bringen, und folgte ihm darin mit weniger Geschick 1844 Joh. Cramer, so ist es nicht zu verwundern, daß in diesen Bearbeitungen wenig vom Original übrig blieb, ja dasselbe mitunter gar nicht darin zu erkennen ist. Sehr genau, sinngetreu und auf gründlichstem Verständnisse beruhend ist dagegen die schon erwähnte englische Übersetzung Dr. Legge's vom Jahre 1871, wenn man sie auch in mehr als einem Sinne prosaisch und bisweilen nicht so wörtlich finden sollte, als sie unter dieser Bedingung sein könnte. Welch reiche Hülfe sie uns bei unserer Arbeit gewährt hat, soll hier auf das dankbarste anerkannt sein. Später erschien Pauthier's französische Übersetzung. Wir kennen sie nicht, erwarten aber bei der unsicheren und umschreibenden Übersetzungsweise des Verfassers nicht viel von ihr.

Dr. Legge fühlte wol, daß die chinesischen Lieder erst in poetischer Form wirklich genießbar würden. Während sein großes Werk nur für diejenigen bestimmt war, die sich mit China und dem Chinesischen einlässiger beschäftigen, gab er für den weiteren Kreis der Gebildeten im Jahre 1876 auch eine versificirte Übertragung des Schī-kīng heraus. Es ziemt dem Deutschen und dem mit viel geringerer Ausrüstung Gleichstrebenden nicht, zu beurtheilen, wiefern der treffliche Mann damit den Forderungen und dem Geschmack seines englischen Publikums entsprochen habe. Doch sind wir Deutschen gewohnt, von dem Übersetzer dichterischer Werke eine größere Worttreue neben einer möglichst angeähnlichten Nachbildung der fremden Form zu verlangen. Auch bei der jetzt vorliegenden Übersetzung wurde dieß Ziel im Auge behalten und es möge gestattet sein, über die dabei befolgten Grundsätze hier noch Einiges hinzuzufügen.[59]

Natürlich war das erste Bestreben, überall sinngetreu, dann aber auch möglichst wörtlich zu übersetzen. Hierbei wurde vornehmlich Tschū-hī's Auslegung befolgt, mitunter auch da, wo Dr. Legge von ihm abweicht. Wo beide übereinstimmen, ward eine andere Auffassung nicht oft und nur mit großer Scheu nach langer Überlegung angenommen. Erst nachdem so das bestimmte Verständniß eines Ganzen gewonnen war, konnte sich die ihm angemessene Sprachfärbung und Haltung ergeben.

Für die getreue Nachbildung der äußeren Form bietet die ausnahmslose Einsilbigkeit der chinesischen Sprache eine unüberwindliche Schwierigkeit. Bei weitem die meisten Verse des Originals bestehen aus vier Wörtern, mithin aus vier Silben, welche in diesen alten Gedichten lediglich gezählt werden, während in neueren Versen die Wortbetonung mit in Rechnung kommt. Daß nun vier, oft inhaltschwere Wörter sich im Deutschen nicht durch vier Silben übertragen lassen, ist offenbar. Allein ein chinesisches Wort füllt auch das Ohr ganz anders, als etwa eine unserer kurzen oder halbkurzen unbetonten Silben. Daher scheint es dem chinesischen Verse am nächsten zu kommen, wenn für jede seiner wuchtigen Silben im Deutschen ein einfacher Versfuß gesetzt wurde. So entspricht denn in der Übersetzung zumeist ein Jambus, auch wol ein Trochäus dem einzelnen chinesischen Worte; in einigen Fällen, wo es dem Inhalte zusagte, wurde ein daktylisches, amphibrachisches oder anapästisches Maß angewendet; dieß alles jedoch mit jener Läßlichkeit, welche wir bei Liedern, namentlich Volksliedern, in unserer Muttersprache erlaubt finden. Die Regel aber wurde gewissenhaft beobachtet, so daß man sicher sein kann, im Chinesischen da einen überschüssigen Versfuß oder deren mehre zu finden, wo dieß im Verhältniß zu den übrigen Versen im Deutschen der Fall ist.

Eine andre Eigenthümlichkeit des Originals ist es, daß der einfache Satz immer mit dem Verse abschließt, auch wenn[60] er als Glied eines größeren Satzganzen anzusehen ist, daß also nie vorkommt, was die Franzosen enjambement nennen. Diese Regel konnte und mußte befolgt werden, und wurde nur in ein paar Fällen aus Noth übertreten. Ihre Beachtung hilft ganz wesentlich dazu Übersetzung dem Original anzuähnlichen.

Zu eben diesem Zwecke erschien es unerläßlich, überall die Reimstellung des Originals genau beizubehalten. Diese Forderung machte oft große Schwierigkeiten, und um ihretwillen mußte die knappe Wörtlichkeit mitunter zurückstehen, mußte es genügend erscheinen, wenn nur der volle Sinn des Verses getreu wiedergegeben wurde. Aber erfüllt mußte diese Forderung werden, sollte der Deutsche in der Übersetzung nur einigermaßen die Art und Weise der chinesischen Lieder wiederfinden.

Nur ein Mal, in dem ersten Gedichte des XV. Buches des Kuŏ fúng, ist die Nachbildung der Form der strengen Wörtlichkeit geopfert worden, was der Inhalt, wo nicht rechtfertigen, doch erklären wird.

Zu beurtheilen, wie die Anwendung vorstehender Regeln gelungen sei, ist die Sache Anderer. Ist aber die dargebotene Übersetzung nicht zu weit hinter den angestrebten Zielen zurückgeblieben, so dürfte sie den gebildeten Deutschen für die genauere Kenntniß ältester ostasiatischer Dichtung wol ein neues Blatt aufschlagen, und an ihrem Theile zur Herbeiführung dessen dienen, was Göthe die allgemeine Weltliteratur nannte.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 51-61.
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