Dritter Praçna.

[563] Fünf Dinge muss man nach dem 3,12 angehängten Çloka wissen, um die Unsterblichkeit zu erlangen: 1) den Ursprung des Prâṇa, 2) seine Ausbreitung (âyati, schon von der Upanishad als âyâti »Einzug in den[563] Leib« verstanden), 3) sein Bestehen im Leibe, 4) seine kosmische und 5) seine psychische Fünfteilung. Diese fünf Fragen, nebst einer sechsten nach dem Auszuge des Prâṇa, bilden die sechs Themata des Abschnitts, welche als solche schon die Kenntnis des Inhalts voraussetzen und daher sehr wenig passend dem Âçvalâyana Kausalya als Fragen in den Mund gelegt werden.

1) Ursprung des Prâṇa. Er ist hier nicht mehr das höchste Prinzip selbst in konkreter Form, sondern entsteht aus dem Âtman als höchstem Prinzip (wie Praçna 6,4. Muṇḍ. 2,1,3) und verhält sich zu ihm wie der Schattenriss, das Abbild (châyâ) zu dem Gegenstande.

2) Grund seines Einganges in den Leib. Die Antwort liegt in den Worten manokṛitena, von Ça kara im Sinne des Vedânta erklärt: »infolge der durch seinen Willen getanen Werke«; grammatisch richtiger würde sein, sie als mano 'kṛitena »ohne Zutun des Willens« zu fassen.

3) Bestehen im Leibe. Als fünf Verzweigungen des Prâṇa werden Apâna, Prâṇa, Samâna, Vyâna, Udâna aufgezählt, unter ihnen aber nicht, wie in der Regel und auch im vierten Praçna geschieht, die Lebenshauche (die Prâṇa's im engern Sinne, welche neben Manas und Indriya's stehen), sondern die Lebenskräfte (die Prâṇa's im weitern Sinne, Manas und Indriya's unter sich befassend), wie zumeist in der Brâhmaṇazeit (Gesch. d. Phil. I, 296), verstanden. Die damals, in der Brâhmaṇazeit, üblichen neun Prâṇa's (entsprechend den neun Öffnungen des Körpers) werden in unsrer Stelle so verteilt, dass sich Apâna auf das Entleerungs- und Zeugungsorgan, Prâṇa (der dabei mit dem Prâṇa im weitern Sinne identifiziert wird) auf die sieben Öffnungen am Kopfe (Augen, Ohren, Mund, Nasenlöcher) bezieht. Daneben treten: Samâna als die Nutritionskraft (der die Nahrung assimiliert, annam samam nayati) und Vyâna als die in den Adern schaltende Kraft (der Blutzirkulation). Die Anzahl der Hauptadern hatte der Vers Chând. 8,6,6 = Kâṭh. 6,16 auf 101 bestimmt; Bṛih. 2,1,19 war von 72000 Adern die Rede; durch Kombination dieser Stellen und Multiplikation der erstern mit 100 gelangt unsere Stelle zu 101 Hauptadern, jede mit 100 Zweigadern, jede mit 72000 Nebenzweigadern (pratiçâkhânâḍî), was zusammen


Hauptadern101

Zweigadern 101 × 10010100

Nebenzweigadern 101 × 100 × 72000727200000

in Summa727210201


Adern ausmacht, d.h. 72 Koṭi's, 72 Laksha's und 10201, wie die Glosse (nach der Lesart der Ânandâçrama-Ausgabe) richtig herausrechnet. – Der Udâna führt die Seele durch die 101., nach oben laufende (später, seit Maitr. 6,21, sushumnâ genannte) Kopfader hinaus, und zwar (in Widerspruch zu dem erwähnten Verse Chând. 8,6,6 = Kâṭh. 6,16) nicht nur die Guten, sondern auch die Bösen.

4) und 5) Der psychischen Fünfteilung entspricht die kosmische in der Weise, dass der oben, am Haupte befindliche Prâṇa der Sonne, der nach unten gehende Apâna der Erden, der in der Mitte schaltede Samâna[564] dem Raume zwischen ihnen (antarâ yad âkâças) und der Vyâna dem Winde entspricht.

6) Der Udâna endlich, der die Seele ausführt, entspricht dem Tejas, in welches (in Anlehnung an Chând. 6,8,6. 15,1) der Prâṇa, nachdem er Manas und Indriya's in sich aufgenommen, beim Sterben eingeht.


1. Da befragte ihn Kausalya Açvalâyana: »Erhabener! Woher entsteht dieser Prâṇa? Wie kommt er in diesen Leib hinein? Und wie besteht er, sich selbst teilend, in demselben? Wodurch zieht er aus ihm aus? Wie waltet er in der Aussenwelt und wie in dem Selbste?« – 2. Und er sprach zu ihm: »Überweit gehst du mit Fragen; du bist der brahmanliebendste, so denke ich; darum will ich dir antworten. – 3. Aus dem Âtman entsteht dieser Prâṇa; wie an einem Menschen der Schatten, so breitet er sich an demselben aus. – Ohne Zutun des [bewussten] Willens kommt er in diesen Leib hinein. – 4. Und wie ein König seine Beamten beauftragt, diese oder jene Dörfer zu verwalten, also stellt auch jener Prâṇa die übrigen Prâṇa's, jeden besonders, an. 5. Über Entleerungs- und Zeugungs-Organ stellt er den Apâna. In Auge und Ohr mit Mund und Nase hat er, der Prâṇa, selbst seinen Sitz. In der Mitte hingegen der Samâna; denn er ist es, welcher diese geopferte Nahrung (Chând. 5,19 fg). zur Gleichheit (samam) führt [assimiliert]; daraus entstehen jene ›sieben Opferflammen‹ (Muṇḍ. 2,1,8). 6. Im Herzen aber wohnt der Âtman; daselbst sind jene hundert und eine Adern (Chând. 8,6,6); zu jeder einzelnen von ihnen gehören je hundert [Zweigadern]; und der Nebenzweigadern sind jedesmal zweiundsiebzigtausend (Bṛih. 2,1,19); in denen waltet der Vyâna. 7. Aber durch die eine nach oben gehend, führt der Udâna für gutes Werk zu einer guten Welt, für schlimmes zu einer schlimmen, für beide zur Menschenwelt. – 8. Als die Sonne nun steigt jener Prâna in der Aussenwelt empor, denn sie ist es, welche dem Prâna im Auge Beistand gewährt; und die Gottheit, welche in der Erde ist, die [gewährt Beistand] dadurch, dass sie den Apâna im Menschen stützt; und dass der Raum zwischen ihnen [Sonne und Erde] ist, das ist der Samâna; der Wind ist der Vyâna. – 9. Die Glut [d.h. die Lebenskraft] aber ist der Udâna. Darum, wenn die Glut sich legt, dann geht er [der Mensch], zur abermaligen[565] Geburt, mitsamt den in den Manas eingegangenen Indriya's (Chând. 6,8,6), 10. und mit dem Gedanken, der ihn [in der Todesstunde] beschäftigt, mit diesem ein in den Prâṇa; und der Prâṇa, mit der Glut [durch den Udâna] verbunden, führt ihn mitsamt dem Âtman in die von ihm [in der Todesstunde] vorgestellte Welt hinüber (vgl. Chând. 3,14,1. Bhag. G. 8,6). 11. Wer den Prâṇa weiss, indem er ihn also weiss, dessen Nachkommenschaft erlischt nicht, und er wird unsterblich. Darüber ist dieser Vers:


12. Wer Ursprung, Ausbreitung, Standort,

Fünffach Verteiltsein in der Welt

Und in sich selbst weiss des Prâṇa,

Dem wird Unsterblichkeit zuteil,

– dem wird Unsterblichkeit zuteil.«

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 563-566.
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