Dritte Upanishad.

[765] An einer heiligen Formel pflegen drei Bestandteile unterschieden zu werden: 1) vîjam, »der Keim«, d.h. die erste Silbe, 2) kîla oder kîlaka, »der Stamm«, die mittleren Silben von der zweiten bis zur vorletzten, 3) çakti, »die Kraft« (gleichsam die Krone oder Frucht derselben), d.h. die letzte Silbe. Im folgenden werden Vîjam (u) und Çakti (-ham) der Nṛisiṅhaformel allegorisch gedeutet. Çakti, die schöpferische Kraft des Nṛisiṅha, ist die Mâyâ, und Vîjam, der Same, aus dem sich die Schöpfung entwickelt hat, ist (nach einer vielbenutzten Stelle, Taitt. 2,1: »Aus diesem Âtman ist der Âkâca entstanden, aus dem Âkâça der Wind« usw). der Âkâça (Raum, Äther).


Es geschah, dass die Götter zu Prajâpati sprachen: Lehre uns, o Ehrwürdiger, von diesem, in Anushṭubh verfassten, auf Nṛisiṅha bezüglichen Mantrarâja die Çakti (Kraft) und das Vîjam (den Samen). Und Prajâpati sprach:

Jene Mâyâ des Narasiṇha ist es, welche das Weltall erschafft, das Weltall behütet und das Weltall resorbiert. Darum soll man jene Mâyâ als die Çakti (Schöpferkraft) wissen; wer jene Mâyâ als die Çakti weiss, der überwindet das Böse,[765] überwindet den Tod, der geht auch zur Unsterblichkeit ein und erlangt grosses Glück. – Die Brahmanwisser fragen sich: ist sie [die Çakti, die Schlusssilbe des Spruches] kurz oder lang oder überlang (harn, hâm, hâ-âm) zu sprechen? – Wenn sie kurz [gesprochen] wird, so verbrennt man damit alles Böse und geht zur Unsterblichkeit ein; wenn lang, so erlangt man grosses Glück und geht zur Unsterblichkeit ein; wenn überlang, so wird man weise und geht zur Unsterblichkeit ein. Darum ist folgendes von dem Ṛishi gesprochen als eine Andeutung:


So trinke nun ihn, aufstrebend und siegreich (Ṛigv. 6,17,2)!

Glück, Schönheit, Pressstein, Mütterchen und Erdkuh,

Und Indra's Waffe, die man zählt als sechste,

Wiss' ich brahman-entsprungen gleicherweise,

Und fleh' sie an zum Schutze für mein Leben.


Der Âkâça, fürwahr, ist aller Wesen höchstes Ziel. Denn alle Wesen entstehen aus dem Âkâça, aus dem Âkâça, nachdem sie entstanden sind, leben sie, und in den Âkâça gehen sie, dahinscheidend, wieder ein [nach Taitt. 3,1 fg. gebildet]. Darum soll man den Âkâça als das Vîjam (Weltsamen) wissen. Darum ist folgendes vom Ṛishi gesprochen als eine Andeutung (Kâṭh. 5,2. Mahânâr. 10,6, nach Ṛigv. 4,40,5; vgl. oben S. 248.282).


»Im Äther ist Sonnenschwan er, Vasu in der Luft,

Hotar am Opferbette, auf der Schwelle Gast,

Er weilt in Mensch und Weite, im Gesetz, im Raum,

Entspringt aus Wassern, Rindern, Recht, Gebirg' als grosses Recht, –


er, der solches weiss. – So lautet die grosse Upanishad.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 765-766.
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