2. Die Ideen

[244] Das Gesagte mag ausreichen, was die mathematischen Objekte betrifft, zu zeigen, daß diesen und in welchem Sinne ihnen ein Sein zukommt, wiefern sie ferner den Dingen gegenüber ein Prius bilden und wiefern nicht. Wir wenden uns jetzt zu der Lehre von den Ideen, und da müssen wir zunächst die Ideenlehre selbst betrachten, indem wir dabei die Deutung auf die Verwandtschaft mit den Zahlen ganz außer Äugen lassen. Es gilt die Ideen so zu nehmen, wie diejenigen, die zuerst die Existenz derselben behauptet haben, sie von Anfang an aufgefaßt wissen wollten.

Die Ideenlehre ergab sich ihren Urhebern, indem sie sich, was die Wahrheitserkenntnis anbetrifft, durch die Ausführungen Heraklits davon überzeugen ließen, daß alles Sinnliche in beständigem Flusse sei, und daß es mithin, wenn es eine Erkenntnis und ein Wissen überhaupt geben soll, neben den sinnlichen Gegenständen noch andere Wesen geben müsse, welche bleiben. Denn von dem was sich in stetem Flusse befindet, gebe es keine Erkenntnis. Sokrates, der sein Nachdenken auf das im Sinne der sittlichen Willensbetätigung Rechte und Löbliche richtete, und der erste war, der darüber feste allgemeine Bestimmungen zu ermitteln suchte, – denn unter den Naturphilosophen hat Demokrit diese Fragen nur eben gestreift, und wo er begriffliche Bestimmungen gab, da handelte es sich etwa um[244] solches wie das Warme und das Kalte; die Pythagoreer aber hatten allerdings schon vorher von einigen wenigen dahin gehörenden Gegenständen gehandelt und ihre Auffassungen darüber an die Zahlen geknüpft, z.B. was der rechte Augenblick oder das Gerechte oder die Ehe sei; – also Sokrates erst suchte auf dem Wege strenger Erörterung den Begriff der Sache. Denn was er anstrebte war ein Schlußverfahren, das Prinzip des Schluß-Verfahrens aber ist der Begriff. Damals war man in der dialektischen Fertigkeit eben noch nicht so weit gelangt, daß man vermocht hätte auch ohne feste Begriffsbestimmung das Pro und Kontra zu erörtern und ob es eine und dieselbe Wissenschaft ist, die beide Glieder eines Gegensatzes zu behandeln habe. Zweierlei vornehmlich ist es, was man mit Recht dem Sokrates als sein Verdienst anrechnen darf: das induktive Verfahren und die begriffliche Bestimmung des Allgemeinen: beides Dinge, die die Grundlegung aller Wissenschaft betreffen. Aber Sokrates faßte das Allgemeine noch nicht als gesonderte Existenz auf und ebensowenig die begrifflichen Bestimmungen. Erst die Urheber der Ideenlehre nahmen diese Verselbständigung des Allgemeinen dem Sinnlichen gegenüber vor und nannten dann diese Art von subsistierenden Wesen Ideen. Damit ergab sich für sie die Folgerung, daß es unter demselben Gesichtspunkte Ideen gab so ziemlich von allem was als Allgemeines gedacht wird, und es war nahezu so, wie wenn jemand, der Gegenstände zu zählen unternimmt es nicht glaubt leisten zu können, so lange noch ihre Anzahl eine geringere wäre, und darum erst die Anzahl vermehrt, um sie nachher besser zählen zu können. Denn die Ideen machen eigentlich eine größere Anzahl aus als die einzelnen sinnlichen Dinge, die bei der Frage nach ihren Gründen den Anlaß gaben, von ihnen ausgehend bei den Ideen anzulangen. Gibt es doch für alles Einzelne eine demselben gleichnamige Idee, und nicht bloß neben den selbständigen Wesen, sondern auch für das übrige, soweit es irgend in einer Vielheit einen einheitlichen Begriff gibt, und das ebensowohl im Gebiete der sinnlichen, wie in dem der ewigen Dinge.

Zweitens aber findet sich unter den Gründen, mit denen man die Existenz der Ideen erweist, kein einziger, der wirklich einleuchtend wäre. Und zwar gilt dies von den einen, weil sie nicht das Material zu einem stringenten Schluß bieten; von den anderen, weil sich nach ihnen Ideen auch für solche Dinge ergeben würden, wofür man doch gar keine Ideen annimmt. Geht man nämlich von der Tatsache der wissenschaftlichen Erkenntnis aus, so müßte es Ideen geben für alles, was Gegenstand der Erkenntnis ist.[245] Geht man aus vom Begriff als der Einheit in der Vielheit, so würde es Ideen geben auch vom Negativen; und geht man davon aus, daß doch auch vom Vergangenen eine Vorstellung bleibt, so gibt es auch Ideen des Vergänglichen; denn wir behalten davon eine bleibende Vorstellung. Weiter aber, ein konsequentes Denken ergibt die Annahme von Ideen auch für das Relative, das man doch nicht als eine selbständige Gattung anerkennt, und andererseits läuft die Sache auf den dritten »Menschen« hinaus.

Überhaupt aber, die Ideenlehre hebt gerade das auf, dem die Anhänger dieser Lehre ein höheres Sein zuschreiben als den Ideen selber. Denn die Folge ist, daß nicht die Zweiheit das Ursprüngliche ist, sondern die Zahl, daß das Relative früher ist als die selbständige Existenz, und so vieles anderes, womit manche, die der Ideenlehre Gefolge geleistet haben, zu ihren eigenen Prinzipien sich in offenen Widerspruch gesetzt haben.

Der Gedankengang sodann, der zu der Annahme von Ideen führt, ergibt weiter die Folgerung, daß es Ideen geben müßte nicht bloß von selbständigen Dingen, sondern auch von vielem anderen. Denn der Begriff faßt nicht bloß selbständig Existierendes in eine Einheit zusammen, sondern auch solches, was nicht selbständig existiert, und eine Erkenntnis gibt es nicht bloß von selbständigen Wesen. Und so könnten wir mit Einwürfen von gleicher Art ins Unendliche fortfahren.

Halten wir uns an die sachliche Notwendigkeit und an den Charakter der ganzen Lehre, so dürfte es, wenn doch von einer »Teilnahme« an den Ideen die Rede sein soll, notwendigerweise Ideen nur von selbständigen Wesen geben. Denn solches Teilnehmen findet nicht etwa statt in dem Sinne, daß eines Prädikat am andern wäre, sondern allein in dem Sinne, daß das Ding nicht von einem anderen, das sein Substrat wäre, ausgesagt wird. Ich meine das so: wenn z.B. etwas an der Idee der Doppelbett teilhat, so hat es auch teil an einem Ewigen, aber doch nur in akzidentieller Weise; denn die Doppeltheit hat es an sich, ein Ewiges zu sein. Die Ideen müssen also den Charakter der selbständigen Wesenheiten haben. Diesen Charakter der selbständigen Wesenheit verleiht aber in der idealen Welt eben dasselbe wie in der realen Welt. Oder was soll es heißen, wenn man sagt, es existiere neben den Dingen noch etwas, nämlich das Eine im Vielen? Entweder die Ideen und das was an ihnen teilhat sind der Form nach identisch: dann werden sie etwas Gemeinsames haben. Denn wie sollte es kommen, daß wohl in den sinnlichen Zweiheiten und den mathematischen Zweiheiten, die zwar viele, aber zugleich ewig sind, der[246] Begriff der Zweiheit beidemal einer und derselbe ist, aber nicht in der Idee der Zweiheit und irgend einem einzelnen Falle der Zweiheit? Oder aber sie sind der Form nach nicht identisch: dann würde bloß die Wortbezeichnung die gleiche sein, und es wäre gerade so, wie wenn jemand den Kallias und ein Stück Holz beide Mensch nennen wollte, ohne irgend etwas Gemeinsames an beiden im Auge zu haben.

Wenn wir aber annehmen, daß zwar in den anderen Beziehungen die allgemeinen Begriffe mit den Ideen übereinstimmen, – z.B. auf die Idee des Kreises passe ebenso der Begriff Figur, Fläche und die anderen im Begriffe enthaltenen Merkmale, – daß aber noch weiter hinzuzufügen ist, was das ist, dessen Idee sie ist: so muß man wohl erwägen, ob dies nicht eine völlig leere Bestimmung bedeutet. Denn was ist das, wozu jene Bestimmung hinzugefügt werden soll? Ist es der Mittelpunkt oder die Fläche oder alles zusammen? Denn alles was in dem Begriff vereinigt ist, sind Ideen, z.B. lebendig und zweifüßig. Dabei müßte offenbar jene Bestimmung selber wieder ein eigenes Gebilde sein, wie die Fläche ein Gebilde ist, das als Gattung in allen darunter begriffenen Arten enthalten sein muß.

Die größte Schwierigkeit aber erhebt sich bei der Frage, was denn nun die Annahme von Ideen zur Erklärung der sinnlichen Erscheinungen, sei es der ewigen unter denselben, sei es derjenigen, die entstehen und vergehen, zu leisten vermag. Haben doch die Ideen weder für die Bewegung noch für die Veränderung der Dinge irgendwie die Bedeutung des Grundes. Aber auch für die Erkenntnis der Gegenstände bieten sie keinerlei Hilfe; denn ihr Wesen machen sie nicht aus, sonst würden sie in ihnen sein; und zu ihrer Existenz tragen sie nichts bei, da sie ja dem nicht einwohnen, was an ihnen teil hat. Man könnte etwa annehmen, sie dürften in der Weise als Grund gelten, wie das dem Körper beigemischte Weiß den Grund für seine weiße Farbe abgibt. Aber auch diese Auffassung, die zuerst Anaxagoras und nach ihm Eudoxos, dieser nicht ohne Bedenken, und mehrere andere vorgetragen haben, ist doch allzuwenig haltbar, und es läßt sich leicht vielerlei gegen diese Ansicht auftreiben, was sie als unmöglich erweist. Vielmehr aus den Ideen läßt sich das andere in keiner der Weisen ableiten, in denen man sonst das eine aus dem anderen abzuleiten gewohnt ist. Wenn es aber heißt, sie seien Urbilder, und das andere habe an ihnen teil, so ist das eine bloße Redensart und poetische Metapher. Denn welches ist das hervorbringende Subjekt, das dabei an den Ideen sich ein Muster nähme? Ähnlich einem anderen aber kann möglicherweise jedes Beliebige sein und als ihm Ähnliches[247] entstehen, ohne ihm gerade nachgebildet zu werden; ob Sokrates existiert oder nicht existiert, es kann ganz wohl etwas dem Sokrates Ähnliches entstehen, und offenbar auch dann, wenn Sokrates ein Ewiges wäre. Es müßte ferner danach für denselben Gegenstand eine Vielheit von Urbildern und also auch von Ideen geben, so für den Menschen die Idee des lebenden Wesens und des Wesens mit zwei Beinen und zugleich die des Menschen. Es müßten die Ideen ferner Urbilder nicht bloß für die sinnlichen Dinge, sondern auch für die Ideen selbst sein, so die Gattung für die Arten der Gattung, und es wäre mithin eines und dasselbe Urbild und Abbild zugleich. Außerdem darf man es wohl als widersinnig erklären, daß das Wesen getrennt existieren soll von dem, dessen Wesen es ist. Oder was soll es heißen, daß die Ideen, die doch das Wesen der Dinge bilden sollen, von diesen gesondert für sich bestehen? Im »Phaedon« freilich wird die Sache so dargestellt, als seien die Ideen Grund des Seins und des Entstehens, aber gesetzt auch, die Ideen existieren, so ergibt sich daraus immer noch kein Entstehen, wenn nicht auch ein solches existiert, was die Bewegung bewirkt, und andererseits entsteht vielerlei anderes, wie ein Haus und ein Ring, wovon es doch nach jenen Denkern Ideen gar nicht geben soll. Offenbar also bleibt die Möglichkeit, daß auch das, wovon es nach ihnen Ideen gibt, durch eben dieselben Ursachen sei und entstehe, durch die die eben genannten Gegenstände entstehen, und nicht durch die Ideen. Indessen über die Ideenlehre ließe sich in dieser Weise und durch Überlegungen von noch eingehenderer und strengerer Art mancherlei zusammentragen immer mit dem gleichen Ergebnis wie bei den hier vorgetragenen Erwägungen.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 244-248.
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