3. Die Formen intellektueller Betätigung

[125] Wir setzen nunmehr bei entlegeneren Gesichtspunkten ein, um über diese Dinge aufs neue zu verhandeln. Es mag also als ausgemacht angenommen werden, daß es der Zahl nach diese fünf Tätigkeitsformen gebe, durch die der Geist sich im bejahenden oder verneinenden Urteil der Wahrheit bemächtigt: Kunstfertigkeit (technê), wissenschaftliche Erkenntnis (epistêmê), praktische Einsicht (phronêsis), ideale Geisteskultur (sophia) und intuitive Vernunft (nous). Denn woran man sonst noch denken könnte, bloßes Vorstellen und Meinen, läßt immer die Möglichkeit des Irrtums offen.

Was nun wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet, wird, wenn es doch geboten ist sich in begrifflicher Strenge zu bewegen und nicht bloßen Analogien nachzugehen, aus folgendem klar werden. Unser aller gemeinsame Überzeugung ist doch dies, daß das was Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ist, die Möglichkeit ausschließt, daß sich die Sache auch anders verhalten könnte. Von dem was sich möglicherweise auch anders verhalten kann, läßt sich, sofern der Gegenstand nicht der unmittelbaren Beobachtung untersteht, nicht ausmachen, ob es ist oder nicht. Was den Inhalt eines Wissens bildet, ist also ein Notwendiges und mithin ein Ewiges; denn was ohne weitere Bedingung ein Notwendiges ist, das ist alles auch ein Ewiges, und vom Ewigen gibt es kein Entstehen und kein Vergehen. Zweitens ist es die allgemeine Meinung, daß alles wirkliche Wissen gelehrt und der Inhalt der Wissenschaft erlernt werden kann. Nun vollzieht sich alles Lernen auf Grund schon vorhandener Kenntnis, wie wir es auch in unseren Schriften zur Logik nachweisen, teils auf dem Wege der Induktion, teils in syllogistischem Verfahren. Die Induktion also ist das Prinzip auch für das Allgemeine; das syllogistische Verfahren dagegen geht vom Allgemeinen aus. Es gibt mithin Prinzipien, aus denen der Syllogismus fließt, die nicht auf syllogistischem Wege gewonnen werden; dafür also gibt es eine Induktion. Wissenschaftliche Erkenntnis trägt demnach den Charakter eigentlicher Beweisbarkeit, und dazu kommt dann weiter, was wir sonst noch alles zur Bestimmung ihres Begriffes in unseren Schriften zur Logik beigebracht haben. Wissenschaft hat einer, soweit er irgendwie zu voller Gewißheit gelangt ist und die Kenntnis der Prinzipien besitzt. Denn sind ihm diese nicht in höherem Maße bekannt als die Konklusion des Schlusses, so hat er ein Wissen nur von uneigentlicher Art. Damit mag der Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis gekennzeichnet sein.

Von dem nun was möglicherweise auch anders sein kann, ist das[125] eine Gegenstand der gestaltenden Tätigkeit, das andere Gegenstand des Handelns. Dieses beides, gestaltende Tätigkeit und Handeln, ist zweierlei; was diesen Unterschied anbetrifft, dafür berufen wir uns auch auf die geläufige Literatur. Und so ist denn auch das befestigte Vermögen vernünftigen Handelns ein anderes als das Vermögen vernünftigen Bildens und Gestaltens. Darum ist keines der beiden in dem anderen mitenthalten; das Handeln ist kein Gestalten, das Gestalten kein Handeln. Nun gibt es eine Kunst des Baumeisters, und diese ist eine Art des mit vernünftiger Überlegung verbundenen gestaltenden Vermögens; es gibt überhaupt so wenig eine Geschicklichkeit, die nicht ein mit vernünftiger Überlegung verbundenes gestaltendes Vermögen wäre, wie es ein solches Vermögen gibt, das nicht eine Geschicklichkeit bedeutete. Und so ist denn künstlerische Geschicklichkeit und das Vermögen des Gestaltens im Bunde mit vernünftiger, die Wahrheit treffender Überlegung eins und dasselbe. Nun ist alle Kunst darauf gerichtet, daß aus ihr ein Gegenstand hervorgeht; sie ist die Betätigung der Geschicklichkeit und das Betrachten, wie wohl ein solches, was möglicherweise sein und auch nicht sein kann, und wofür die Urheberschaft in der gestaltenden Person, nicht in der gestalteten Sache selbst liegt, zum Dasein gelangen kann. Denn die Kunst befaßt sich nicht mit solchem was notwendig ist oder geschieht, und auch nicht mit solchem was sich der Natur gemäß vollzieht; denn dergleichen hat seinen Grund in sich selbst. Ist nun gestaltende Tätigkeit und Handeln zweierlei, so gehört die Kunst notwendig der gestaltenden Tätigkeit und nicht dem Handeln an. In gewissem Sinne läuft der Zufall und die Kunst auf die Hervorbringung derselben Gegenstände hinaus. So sagt schon Agathon:


Kunst liebt den Zufall, und der Zufall liebt die Kunst.


Die Kunst also ist, wie wir dargelegt haben, ein befestigtes Vermögen des Gestaltens im Bunde mit das Wahre treffender Überlegung; das Fehlen der Kunst ist im Gegensatze dazu ein gestaltendes Vermögen in Verbindung mit einer im Falschen sich bewegenden Überlegung; beide aber haben die Richtung gemeinsam auf das, was die Möglichkeit hat sich auch anders zu verhalten.

Was weiter die praktische Einsicht anbetrifft, so werden wir uns darüber in der Weise verständigen, daß wir ins Auge fassen, welche Menschen man einsichtsvoll nennt. Als Kennzeichen des einsichtigen Mannes gilt dies, daß er das Vermögen hat, über das was für ihn gut ist und ihm frommt zutreffende Überlegungen anzustellen, nicht über spezielle Gegenstände,[126] wie z.B. über die Frage, was der Gesundheit, oder was der Körperstärke zuträglich ist, sondern überhaupt über das was zu einem recht geführten Leben dient. Ein Beweis dafür ist dies, daß wir auch diejenigen, die sich mit einem speziellen Fach beschäftigen, einsichtig nennen, wenn sie zu einem wertvollen Zweck richtige Überlegungen da anstellen, wo es sich nicht um eine besondere Kunstfertigkeit handelt. Demnach wäre ein einsichtiger Mann überhaupt ein Mann, der richtige Überlegungen anstellt. Kein Mann aber überlegt sich solche Dinge, die sich gar nicht anders verhalten können, und ebenso wenig solche, die zu bewerkstelligen sich ihm keinerlei Möglichkeit bietet. Ist also Wissenschaft auf Beweis gerichtet und gibt es keinen Beweis für Dinge, deren Prinzipien sich auch anders verhalten können, denn dann gehören auch die daraus gefolgerten Dinge zu dem, was sich auch anders verhalten kann, läßt sich ferner keine Überlegung anstellen über das was notwendig ist: so ergibt sich, daß Einsicht weder wissenschaftliche Erkenntnis noch Kunstfertigkeit ist; jenes nicht, weil, was Gegenstand des Handelns ist, sich auch anders verhalten kann; und nicht Kunstfertigkeit, weil das Gebiet auf dem sich das Handeln bewegt ein anderes ist als dasjenige, auf dem das Gestalten sich betätigt. Es bleibt also nur übrig, daß sie die Fertigkeit ist, im Bunde mit vernünftigem Denken richtig urteilend tätig zu sein in bezug auf das, was für den Menschen ein Gut oder ein Übel ist. Die gestaltende Tätigkeit hat ihr Ziel außerhalb ihrer; so ist es beim Handeln nicht. Denn bei diesem ist das Ziel das richtige Handeln selber.

Unter diesem Gesichtspunkt halten wir einen Perikles und seinesgleichen für einsichtige Männer, weil sie das was für sie und das was für die Menschen ein Gut ist, im Geiste zu erfassen vermögen. Für Menschen von solcher Art halten wir diejenigen, die sich in wirtschaftlicher und politischer Tätigkeit bewähren. Aus diesem Grunde wenden wir diesen Ausdruck auch auf die Besonnenheit (sôphrosynê) an, sofern sie sich die Einsicht bewahrt (hôs sôzousan tên phronêsin); was sie bewahrt, ist eben ein solches einsichtiges Urteil. Es wird nämlich nicht jedes Urteil durch die Rücksicht auf das was Lust oder Unlust bereitet verderbt oder verkehrt, z.B. nicht das Urteil, daß die Winkelsumme im Dreieck 2 Rechten gleich oder nicht gleich sei, sondern nur solche Urteile, die für das praktische Verhalten von Bedeutung sind. Denn die Gründe für das praktische Verhalten bilden die Zwecke, die durch das Handeln erreicht werden sollen. Demjenigen aber, der sich durch die Rücksicht auf Lust und Unlust in den Irrtum verführen läßt, steht gleich auch die Maxime des Handelns nicht klar vor Augen, auch nicht der Gedanke, daß man[127] für diesen Zweck, und auch nicht daß man um seinetwillen alle seine Vorsätze und Handlungen einrichten soll. Die Schlechtigkeit des Charakters pflegt auch die Maxime des Handelns zu verfälschen. So ist es das notwendige Ergebnis, daß die Einsicht die Fertigkeit ist, mit vernünftigem Denken richtig urteilend das was für Menschen ein Gut ist handelnd zu verwirklichen.

Nun gibt es aber wohl eine höhere oder geringere Durchbildung bei der Kunstfertigkeit, dagegen gibt es sie nicht bei der Einsicht. Ferner, wo es sich um Kunstfertigkeit handelt, da steht unter denen die einen Fehler begehen derjenige höher, der ihn mit Absicht begeht: bei der Einsicht gilt das nicht so, wie es auch bei den anderen Arten von Vollkommenheiten nicht gilt. Offenbar bedeutet also die Einsicht eine Art innerer Vollkommenheit, und nicht eine bloße Kunstfertigkeit. Und da es zwei Vermögen der Seele gibt, die mit Vernunft ausgestattet sind, so wäre sie demnach die Vollkommenheit des einen der beiden, nämlich des Vermögens der Ansichtsbildung. Denn die Ansichtsbildung hat zum Gegenstande das, was sich auch anders verhalten kann, und die praktische Einsicht ebenso. Andererseits ist die Einsicht auch nicht eine bloße Fertigkeit im Bunde mit dem Gedanken. Das sieht man schon daran, daß eine Fertigkeit dieser Art auch durch Vergessen abhanden kommen kann, die Einsicht aber nicht.

Wissenschaftliche Erkenntnis sahen wir, ist gedankliche Auffassung des Allgemeinen und des Notwendigen. Für alles nun was Gegenstand eines Beweises ist, und mithin für alle Wissenschaft, gibt es Prinzipien, aus denen es stammt; denn Wissenschaft stützt sich auf Gründe. Der letzte Grund für das was Objekt der Wissenschaft ist, kann also weder der Wissenschaft selber noch der Kunstfertigkeit noch der praktischen Einsicht zugehören. Denn was Objekt der Wissenschaft ist, das muß sich beweisen lassen; die beiden anderen aber haben es mit dem zu tun, was sich auch anders verhalten kann. Aber auch in der idealen Geisteskultur haben jene letzten Gründe nicht ihren Platz. Denn es bezeichnet gerade den hochgebildeten Mann, daß es so manches gibt, wofür er imstande ist einen Beweis zu führen. Wenn es nun viererlei ist, wodurch wir über das was möglicherweise sich auch anders verhalten kann oder nicht kann, die Wahrheit erlangen und niemals in Irrtum geraten: wissenschaftliche Erkenntnis, Einsicht, Geisteskultur und Vernunft, und wenn von den drei ersten darunter also praktische Einsicht, wissenschaftliche Erkenntnis und Geisteskultur keines es leisten kann, so bleibt nur übrig, daß es die Vernunft ist, die die Prinzipien erfaßt.

[128] Ideale Geisteskultur schreiben wir im Gebiete der Kunstfertigkeiten denjenigen zu, die in der Ausübung derselben die vollendetsten Meister sind; so nennen wir Pheidias einen hochgebildeten Bildhauer in Stein und Polykleitos einen ebensolchen Bildner in Erz, und damit wollen wir von solcher Geisteskultur gar nichts anderes aussagen, als daß sie vollendete Meisterschaft in der Kunst bedeutet. Manchen aber schreiben wir Geisteskultur überhaupt und nicht bloß auf einem speziellen Gebiete oder in irgendeiner besonderen Beziehung zu. So heißt es bei Homer im Margites:


Diesen machten die Götter zum Ackrer nicht, auch nicht zum Pflüger,

Oder in sonst was gebildet.


Man sieht daraus, daß Geisteskultur die vollendetste Form von Bildung überhaupt bedeutet. Ein geistig gebildeter Mann muß also nicht nur das wissen, was aus den Prinzipien folgt, sondern auch betreffs der Prinzipien selber im Besitze wahrer Erkenntnis sein. Geistesbildung ist mithin intuitive Vernunft vereint mit wissenschaftlicher Erkenntnis, die auch die höchsten Objekte gleichsam als den Gipfel alles Erkennbaren zu eigen hat. Denn das hätte keinen Sinn, wenn jemand die Staatskunst oder die praktische Einsicht überhaupt für das wertvoll Höchste halten wollte; es müßte denn der Mensch für das höchststehende Wesen unter allen in der Welt vorhandenen gelten. Wenn für die Menschen etwas anderes gesund und gut ist als für die Fische, das Weiße und das Gerade aber immer dasselbe ist, so werden geistige Bildung alle als immer dasselbe, praktische Einsicht aber als immer anderes bezeichnen. Denn einsichtsvoll wird man es nennen, das Verständnis zu haben für den günstigen Fortgang in den einem obliegenden Einzelheiten, und dem Einsichtigen wird man denn auch die Sorge dafür übertragen. So nennt man ja auch manche Tiere klug, die augenscheinlich das Vermögen haben, für ihren eigenen Lebensunterhalt vorzusorgen. Damit aber ist auch das offenbar, daß Geisteskultur und Staatskunst nicht dasselbe ist. Wollte man Geisteskultur die Kenntnis dessen nennen, was jedesmal dem der sie hat frommt, so gäbe es viele Arten von Geisteskultur. Denn es gibt nicht eine Kenntnis, die das was allen Arten von lebenden Wesen gut ist umfaßte, sondern für jede Gattung ist es eine andere; es müßte sonst auch die Heilkunst eine einzige sein für alles was existiert. Beruft man sich aber darauf, daß der Mensch das höchststehende unter allen lebenden Wesen sei, so ändert das nichts an der Sache. Denn es gibt auch dann noch andere Wesen, die von Natur viel göttlicher sind als der Mensch, so mindestens die Wesen, die am meisten in die Augen fallen, die Himmelskörper, aus denen das Universum besteht.[129]

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 125-130.
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