a) Im Glück

[208] Gestritten wird ferner auch darüber, ob ein Mensch in glücklichen Verhältnissen Freunde braucht oder nicht. Es heißt, die Menschen in glücklicher Lage genügten sich selbst und bedürften der Freunde nicht: sie hätten ja was gut ist, erfreuten sich dessen in ausreichendem Maße und hätten also kein Bedürfnis nach etwas Weiterem; der Freund als ein anderes Selbst verschaffe einem ja nur, was man sich selbst zu verschaffen nicht imstande sei. Daher das Wort:


Wenn dir die Gottheit Glück verliehn, was braucht's des Freunds?


Und doch erscheint es ungereimt, daß man, wenn man dem Glücklichen alle Güter zuerteilt, ihm Freunde nicht zuweist, die doch von allen äußeren Gütern für das höchste gelten. Nun ist es ja für den Freund bezeichnender, daß er Gutes erweise, als daß er es entgegennehme: anderen Gutes zu erweisen gehört zum guten Menschen und zur guten Gesinnung, und Freunden Gutes anzutun ist schöner als Fremden. Aus allen diesen Gründen wird ein wohlgesinnter Mensch solcher bedürfen, an denen er Guttat üben kann. Darum ist es eine Frage, ob man im Glück oder ob man im Unglück das dringendere Bedürfnis nach Freunden hat. Bedarf doch wer im Unglück ist solcher, die sich seiner annahmen und wer im Glück ist solcher, an denen er Gutes tun kann. Andererseits ist es doch auch wohl ungereimt, aus dem Glücklichen einen Vereinsamten zu machen; denn kein Mensch würde sich etwas aus dem Besitz aller nur möglichen Güter machen, wenn er sie für sich allein genießen sollte. Der Mensch ist ein für die Gemeinschaft mit andern[208] bestimmtes Wesen und zum Zusammenleben mit andern geschaffen; das ist bei dem Glücklichen erst recht der Fall. Er hat die Güter die ihrer Natur nach Güter sind, und offenbar ist ein Zusammenleben mit Freunden und mit guten Menschen wertvoller als mit Fremden oder mit dem ersten besten. Mithin, wer im Glücke ist der bedarf der Freunde.

Was will denn nun die erst genannte Ansicht und worin besteht ihre Berechtigung? Etwa darin, daß der große Haufe meint, unser Freund sei wer uns Nutzen bringt? Dieser Art von Freunden allerdings wird wer im Glücke ist nicht bedürfen, da er die Güter des Lebens besitzt. Er bedarf aber der Freunde auch nicht zum Behufe der Annehmlichkeit oder bedarf ihrer doch nur für kurze Augenblicke; denn ein Leben das erfreulich ist bedarf keiner von außen hereingetragenen Annehmlichkeiten.

Wenn er aber Freunde von dieser Art nicht braucht, so scheint es bedarf er überhaupt keiner Freunde. Und doch ist dies schwerlich richtig. Gleich im Eingang haben wir dargelegt, daß glückselig sein ein Wirksamsein bedeutet; solches Wirksamsein aber ist ein Vorgang und nicht ein Zustand gleich einem ruhenden Besitze. Bedeutet aber glückselig sein lebendig sein und ein Leben der Wirksamkeit führen, und ist die Wirksamkeit des guten Menschen, wie wir am Eingang dargelegt haben, auf sittliche Ziele gerichtet und an und für sich erfreulich; ist ferner für jeden das erfreulich, was seinem Wesen als das ihm eigentümlich Zukommende entspricht, und sind wir eher imstande die uns Nahestehenden als uns selbst, und eher ihre Handlungen als unsere eigenen zu verstehen: so sind mithin für den Edelgesinnten die Handlungen edler Menschen die ihm befreundet sind, eine Quelle der Freude; denn beides, das Sittliche wie das persönlich Eigene, hat das zum Inhalt, was von Natur eine Quelle der Freude ist. Ein Mensch in glücklichen Umständen wird also das Bedürfnis nach Freunden von dieser Beschaffenheit empfinden, wenn er sittliche Handlungsweisen wie sie ihm selber eigen sind bei anderen zu beobachten wünscht; solche aber treten ihm bei einem guten Menschen, der sein Freund ist, entgegen.

Es ist ferner herrschende Überzeugung, daß das Leben eines glücklichen Menschen reich an Freuden sein müsse; für einen einsamen Menschen ist aber das Leben eine drückende Last. Es ist schon das nicht leicht, für sich allein in ununterbrochener Wirksamkeit zu stehen; viel leichter wird es, wenn man mit anderen vereint und im Hinblick auf andere wirken darf. So wird die Wirksamkeit stetiger und zugleich an und für sich zur Quelle der Freude, und so muß es beim glücklichen Menschen sein. Denn ein edler[209] Mensch empfindet eben, sofern er ein solcher ist, Freude an Handlungen von sittlicher Art und Betrübnis über Handlungen aus unsittlicher Gesinnung, geradeso wie ein musikalisch gebildeter Mensch an schönen Tonweisen seine Freude hat und durch schlechte geärgert wird. In dem Zusammenleben mit guten Menschen befestigt sich auch wohl die Übung im Guten, wie schon Theognis bemerkt.

Betrachten wir aber den Gegenstand unter Gesichtspunkten, die mehr von der äußeren Natur hergenommen sind, so darf man erst recht sagen, daß ein Freund von sittlich bewährtem Charakter für den gleichartig gesinnten Mann von Natur etwas Wünschenswertes ist. Denn wie wir dargelegt haben: das was von Natur ein Gut ist, das ist auch für den Mann von sittlicher Gesinnung an und für sich ein Gut und eine Quelle der Freude. Den Inhalt des Lebens bestimmt man aber für die Tiere als durch das Vermögen der Empfindung, für die Menschen als durch das Vermögen des Empfindens oder des Denkens gegeben. Das Vermögen aber ist um der Wirksamkeit willen, und die Wirksamkeit ist das worauf es eigentlich ankommt. So darf man denn sagen, daß das Leben im eigentlichen Sinne vom Empfinden und Denken seine Bedeutung empfängt; das Leben aber gehört zu demjenigen, was an und für sich gut und erfreulich ist; denn es ist ein begrifflich Bestimmtes, und was begrifflich bestimmt ist, gehört dem Gebiete des Guten an. Was nun seiner Natur nach ein Gut ist, das ist ein Gut auch für den Mann von sittlicher Gesinnung. Daher die Tatsache, daß das Leben für alle etwas Erfreuliches ist. Freilich darf man dabei nicht an ein böses und verworfenes Leben, noch an ein Leben voller Schmerz denken; denn ein solches ist ebenso wie das was ihm anhaftet begrifflich nicht zu bestimmen. In dem folgenden Abschnitt wo wir über den Schmerz handeln werden, wird das noch deutlicher hervortreten.

Fassen wir nun alles das zusammen. Das Leben ist schon an sich etwas Gutes und Erfreuliches; man sieht es auch daran, daß alle es begehren und die guten und glücklichen Menschen am meisten; denn für diese ist das Leben am meisten begehrenswert, und ihr Lebensgeschick ist das seligste. Ferner, wer sieht ist sich seines Sehens, wer hört seines Hörens, wer geht seines Gehens bewußt, und bei den anderen Funktionen gibt es ebenso ein Bewußtsein davon daß man sie übt, so daß wir also empfinden daß wir empfinden und denken daß wir denken. Die Tatsache aber daß wir empfinden oder denken enthält auch dies daß wir existieren; denn Existenz hieß eben Empfinden oder Denken. Das Bewußtsein daß man lebt ist aber[210] etwas an und für sich Erfreuliches; denn Leben ist seiner Natur nach ein Gut, und das Bewußtsein daß man das Gute zu eigen hat, ist ein Grund der Freude. Mithin ist das Leben begehrenswert, und am meisten für die Guten, weil für diese die Existenz etwas Gutes und Erfreuliches ist; denn sie sind glücklich in dem Bewußtsein des an und für sich Guten, das sie besitzen. Nun verhält sich ferner der sittlich Gesinnte zum Freunde wie zu sich selbst; denn der Freund ist sein zweites Selbst. So ergibt sich denn aus alledem, daß für jeden wie seine eigene Existenz, ebenso oder nahezu so auch die Existenz seines Freundes etwas Erwünschtes ist. Die Existenz aber war zu wünschen wegen des Bewußtseins des Guten im eigenen Wesen, und ein solches Bewußtsein ist an und für sich erfreulich. Man muß also auch ein Bewußtsein von der Existenz des Freundes haben, und dieses kann man erlangen durch das Zusammenleben und den Austausch von Worten und Gedanken. Denn das ist es, was für das Zusammenleben von Menschen das bezeichnende ist, nicht das Weiden auf derselben Weide wie beim lieben Vieh. Ist also dem Glücklichen schon die Existenz als solche wünschenswert als etwas von Natur Gutes und Erfreuliches, und gilt das nahezu ebenso von der Existenz des Freundes, so wird auch der Freund zu dem Wünschenswerten zu rechnen sein. Was ihm aber ein Gegenstand seines Wunsches ist, das muß derjenige haben, der glücklich sein soll, wenn er nicht in dieser Beziehung unter einem Mangel leiden soll. Somit gehört es zum Begriffe des glücklichen Menschen, daß er ein Bedürfnis nach Freunden von edlem Charakter empfindet.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 208-211.
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