c) Freunde im Glück und im Unglück

[213] Wann ist nun das Bedürfnis nach Freunden dringender, im Glück oder im Unglück? In beiden Lagen sieht man sich nach ihnen um. Im Unglück bedarf man des Beistandes; im Glück bedarf man solcher, mit denen man zusammenleben und denen man Gutes erweisen kann; denn das wünscht man sich, anderen wohlzutun. Dringlicher ist das Bedürfnis von Freunden im Unglück, weil man da Menschen braucht, die einem hilfreich sind; edler dagegen ist es im Glück, und darum sucht man hier Freunde von sittlichem Wert; denn an diesen Gutes zu tun und mit diesen sein Leben zuzubringen schafft größere Befriedigung. Schon die bloße Gegenwart der Freunde macht Freude im Glück wie im Unglück. Betrübte finden Erleichterung durch die Teilnahme der Freunde. Man könnte im Zweifel sein, ob Freunde gleichsam die Last tragen helfen, oder ob dies zwar nicht der Fall ist, aber gleichwohl die Freude an ihrer Anwesenheit und das Bewußtsein von ihrer Teilnahme den Kummer verringert. Ob indessen dies oder etwas anderes der Grund der Erleichterung ist, mag auf sich beruhen; der Erfolg ist jedenfalls der bezeichnete.

Die Gefühle, die die Gegenwart der Freunde hervorruft, sind von gemischter Art. Schon der Anblick der Freunde ist erfreulich, besonders wenn man im Unglück ist, und trägt viel dazu bei den Kummer zu verscheuchen. Denn der Freund, falls er taktvoll ist, hat etwas Tröstendes durch seinen bloßen Anblick wie durch sein Zureden; er kennt die Empfindungsweise des anderen und weiß was ihn angenehm und was ihn schmerzlich berührt. Andererseits hat es auch wieder etwas Betrübendes, zu sehen wie ein anderer über unser Mißgeschick sich mit uns grämt; denn jeder möchte es lieber vermeiden, seinen Freunden Gram zu verursachen. Darum wenden Menschen von männlichem Charakter alle Vorsicht auf, um ihre Freunde nicht an ihrem Schmerz zu beteiligen, und selbst wenn einer nicht in hervorragendem Maße dem Schmerze gegenüber widerstandsfähig ist, trägt er schwer an dem Leide, das den anderen daraus erwächst. Leute die zu weichlicher Klage geneigt sind, läßt er nicht zu sich, weil auch er nicht zum Wehklagen und Jammern geneigt ist. Weibern dagegen und Männern von[213] weibischem Charakter ist es ein wohltuendes Gefühl, wenn andere mit ihnen jammern, und sie haben solche gerne um sich als liebevolle und teilnehmende Seelen. Offenbar aber ist es geraten, sich in allen Stücken nach dem zu richten, der der Charaktervollere ist. Im Glück hingegen bedeutet die Gegenwart der Freunde eine erfreuliche Lebensgemeinschaft und das Bewußtsein, daß sie an dem Guten was man besitzt ihre Freude haben.

Das Richtige wird also wohl dies sein, daß man seine Freunde freudig einladen soll unser Glück zu teilen; / denn es ist etwas Herrliches Freude um sich zu verbreiten; / daß man aber nur zögernd ihnen zumuten soll unser Unglück zu teilen; / denn an seinen Schmerzen soll man andere so wenig wie möglich beteiligen. Daher das Wort: »Genug, daß ich selber leide.« Seine Freunde anzugehen ist noch am ehesten dann geraten, wenn sie uns eine große Hilfe gewähren können bei geringer eigener Beschwerde. Umgekehrt ist es angemessen, Leuten im Unglück sich unaufgefordert und bereitwillig anzubieten; denn das ist Freundesart, dem anderen Gutes zu erweisen, und besonders einem der es bedarf und der es doch nicht fordert. So sich zu erweisen ist auf beiden Seiten das Edlere und Erfreulichere. Zu Leuten im Glück dagegen soll man bereitwillig dann gehen, wenn man sich ihnen nützlich machen kann; / denn dazu bedarf man der Freunde: / aber zögernd, um es sich mit ihnen wohl sein zu lassen; denn es ist nicht hübsch, sich dazu zu drängen Vorteile zu erhaschen. Doch sollte man sich auch vor dem Rufe der Unfreundlichkeit bei einer Ablehnung hüten; denn es kommen Fälle vor, wo man sich wirklich solchem Rufe aussetzt. Und so erscheint denn die Gegenwart der Freunde in jeder Lage als etwas Wünschenswertes.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 213-214.
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