Sechstes Kapitel

[60] Wenn ein Streitsatz nicht als ein allgemeiner, sondern als ein beschränkter aufgestellt ist, so können zunächst[60] alle jene bisher genannten allgemeinen Gesichtspunkte sowohl für die Begründung wie für die Widerlegung desselben benutzt werden. Denn beweist oder widerlegt man einen Satz allgemein, so gilt dies auch für den beschränkten Satz, da, wenn eine Bestimmung in allen Einzelnen enthalten ist, sie auch in einigen enthalten ist, und da, wenn sie in keinem Einzelnen enthalten, sie auch nicht in einigen enthalten ist. Am meisten passend und für die meisten Fälle brauchbar sind die Gesichtspunkte, welche aus den Gegensätzen oder den verwandten Begriffen oder aus der Beugung der Worte entnommen werden. Denn man kann mit gleicher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass, wenn jede Lustgut ist, jeder Schmerz schlecht ist, und dass, wenn eine einzelne Lustgut ist, dann ein einzelner Schmerz schlecht ist. Wenn ferner ein einzelnes Wahrnehmen kein Vermögen ist, so ist auch ein einzelnes Nicht-wahrnehmen kein Unvermögen, und wenn ein einzelnes Vorgestelltes ein Gewusstes ist, so ist auch die Vorstellung ein Wissen. Ferner ist, wenn ein einzelnes Ungerechtes ein Gutes ist, auch ein einzelnes Gerechtes ein Schlechtes; und wenn von den gerecht Geschehenen eines schlecht ist, so ist auch von den ungerecht Geschehenen eines gut. Ist ferner von dem Angenehmen ein Einzelnes zu vermeiden, so ist auch eine Lust zu vermeiden und ebenso ist, wenn von dem Angenehmen etwas nützlich ist, auch eine Lust nützlich. Ebenso verhält es sich mit dem Zerstörenden, sowie mit dem Entstehen und mit dem Untergange. Denn wenn etwas, was die Lust oder das Wissen zerstört, gut ist, so wird auch eine gewisse Lust oder ein gewisses Wissen ein Uebel sein. Wenn ferner der Untergang eines bestimmten Wissens zu dem Guten gehört, oder das Entstehen desselben zu den Uebeln, so wird auch ein solches Wissen zu den Uebeln gehören; ist z.B. das Vergessen dessen, was man Schlechtes gethan hat, ein Gut und das Im-Gedächtniss-Behalten des Schlechten ein Uebel, so wird auch das Wissen dessen, was man Schlechtes gethan hat, zu den Uebeln gehören. Ebenso verhält es sich mit den übrigen Gesichtspunkten; denn die Glaubwürdigkeit ist bei allen diesen Annahmen die gleiche.

Auch die auf dem Mehr oder Weniger oder auf der Aehnlichkeit beruhenden Gesichtspunkte sind für beschränkte[61] Sätze benutzbar. Denn wenn das zu einer Gattung Gehörige mehr von einer gewissen Beschaffenheit sein würde, als das zu einer anderen Gattung Gehörige, aber dennoch keines in jener Gattung von dieser Beschaffenheit ist, so kann auch das zu der anderen Gattung Gehörige nicht von dieser Beschaffenheit sein. Wenn z.B. eine gewisse Wissenschaft mehr als eine gewisse Lust ein Gut sein würde, aber dennoch jene Wissenschaft kein Gut ist, so wird auch jene Lust kein Gut sein. Ebenso kann man die Aehnlichkeit und das Geringerere benutzen. Diese Gesichtspunkte passen sowohl zum Widerlegen wie wie zum Vertheidigen; doch kann nur aus der Aehnlichkeit Beides geschehen, das Weniger kann dagegen nur zum Begründen, aber nicht zum Widerlegen benutzt werden. Denn wenn Wissenschaft und Kraft in Bezug auf das Gut-sein einander ähnlich sind, und wenn eine Kraft wirklich ein Gutes ist, so ist auch die Wissenschaft ein solches; ist aber keine Kraft ein Gutes, so ist es auch keine Wissenschaft. Ist aber eine Kraft weniger ein Gutes als eine Wissenschaft, und ist eine Kraft doch ein Gutes, so wird auch eine Wissenschaft es sein. Ist dagegen in solchem Falle keine Kraft ein Gutes, so ist deshalb nicht nothwendig, dass auch die Wissenschaft kein Gutes sei. Hieraus erhellt, dass man die Folgerung aus dem Weniger nur für das Begründen benutzen kann.

Zur Widerlegung bedarf man aber nicht immer eine andere Gattung, sondern man kann auch aus ein und derselben Gattung das dazu benutzen, was am meisten ein solches ist. Ist z.B. der Satz aufgestellt, dass eine Wissenschaft ein Gut sei, und ist gezeigt worden, dass die Klugheit kein Gut ist, so wird es auch keine andere Wissenschaft sein, da die, welche am meisten als ein Gut erscheint, es nicht ist. Auch kann, wenn es zuvor ausgemacht ist, man daraus, dass etwas in einem Gegenstande enthalten oder nicht enthalten ist, darlegen, dass es in allen oder in keinem enthalten; z.B., wenn ausgemacht ist, dass, wenn die Seele des Menschen unsterblich ist, es auch die anderen Seelen seien, und wenn jene es nicht ist, auch die anderen es nicht sein. Ist sonach behauptet, dass Etwas in Einem enthalten sei, so muss man zeigen, dass es in Einem dieser Art nicht enthalten, denn dann wird vermöge der Uebereinkunft[62] folgen, dass es in keinem dieser Art enthalten ist. Wird aber behauptet, dass Etwas in Einem nicht enthalten sei, so muss man zeigen, dass es in Einem dieser Art enthalten ist; denn es wird sich dann ebenso ergeben, dass es in Allen enthalten ist. Es erhellt, dass durch solche Uebereinkunft der beschränkt aufgestellte Satz zu einem allgemeinen gemacht wird; denn man fordert, dass der Gegner das, was er beschränkt zugesteht, allgemein zugestehen solle, da man setzt, dass, wenn es in Einem enthalten, es dann in Allen enthalten sein müsse.

Ist der Streitsatz unbestimmt aufgestellt, so lässt er sich nur in einer Art widerlegen; z.B. wenn behauptet wird, dass die Lust ein Gut oder dass sie kein Gut sei, und dieser Satz nicht näher bestimmt wird. Wäre behauptet, dass eine Lust ein Gut sei, so muss man allgemein zeigen, dass keine Lust ein Gut sei, wenn man den aufgestellten Satz widerlegen will. Ebenso muss man, wenn behauptet worden, dass eine Lust kein Gut sei, allgemein zeigen, dass jede Lust ein Gut sei; in anderer Weise lässt sich die Widerlegung nicht führen; denn wenn man nur gezeigt hat, dass eine Lust ein Gut oder kein Gut sei, so ist damit der aufgestellte Satz nicht widerlegt. Hieraus erhellt, dass die Widerlegung nur auf eine Art geschehen kann. Die Begründung kann aber auf zweierlei Art geschehen. Hat man nämlich allgemein gezeigt, dass jede Lust ein Gut sei, oder auch nur, dass eine Lust ein Gut sei, so ist der unbestimmt aufgestellte Satz bewiesen. Dasselbe gilt, wenn man zeigen will, dass eine Lust kein Gut sei; man wird dann, wenn man gezeigt hat, dass keine Lust ein Gut sei, oder dass eine Lust kein Gut sei, in jeder dieser Weisen, also entweder allgemein oder beschränkt bewiesen haben, dass eine Lust kein Gut ist. Macht aber der aufgestellte Satz selbst einen Unterschied, so kann man ihn in zweifacher Art widerlegen. Wird z.B. behauptet, dass die eine Lust ein Gut sei und die andere kein Gut, so wird sowohl durch den Beweis, dass jede Lust ein Gut ist, wie durch den, dass keine ein Gut ist, der aufgestellte Satz widerlegt. Ist aber behauptet, dass nur eine Lust ein Gut sei, so kann man auf dreifache Weise den Satz widerlegen; denn zeigt man, dass entweder jede Lust ein Gut ist, oder dass keine ein Gut ist oder dass mehr als [63] eine es sind, so wird der Satz widerlegt sein. Lautet endlich der Satz noch bestimmter, z.B. dass die Klugheit allein von den Tugenden eine Wissenschaft sei, so kann die Widerlegung in vierfacher Weise geschehen; man kann zeigen, dass jede Tugend eine Wissenschaft sei, oder dass keine eine solche sei, oder dass eine andere, z.B. die Gerechtigkeit eine Wissenschaft sei, oder endlich dass die Klugheit selbst keine Wissenschaft sei; und man wird in jedem dieser Fälle den Satz widerlegt haben.

Es ist auch nützlich, dass man auf die Einzelnen achte, in denen das Ausgesagte enthalten oder nicht enthalten sein soll, wie dies schon bei den allgemeinen Sätzen dargelegt worden ist. Auch bei den Gattungen muss man, wie ich schon gesagt habe, aufmerken und deren Arten bis zu deren nicht weiter theilbaren Arten verfolgen; denn mag behauptet sein, dass etwas in allen oder in keinen enthalten sei, so kann immer der, welcher vieles Einzelne dafür beigebracht hat, verlangen, dass entweder der Satz allgemein zugestanden werde, oder dass der Gegner Fälle, wo es sich nicht so verhalte, vorbringe. Bei Sätzen, wo das dem Gegenstande beigelegte Nebensächliche sich in Arten oder in Einzelne sondern lässt, muss man prüfen, ob eines davon etwa nicht in dem Gegenstande enthalten ist; so hat man z.B. bei dem Satze, dass die Zeit sich nicht bewege und auch keine Bewegung sei, die verschiedenen Arten der Bewegung durchzugehen; ist keine derselben in der Zeit enthalten, so ist klar, dass die Zeit sich nicht bewegt, und auch keine Bewegung ist. Ebenso hat man bei dem Satze, dass die Seele keine Zahl sei, die Zahlen in die geraden und ungeraden einzutheilen; findet sich nun, dass die Seele weder gerade noch ungerade ist, so ist klar, dass sie keine Zahl ist.

In Bezug auf das nebensächlich den Gegenständen Beigelegte hat man also nach solchen Gesichtspunkten und in dieser Weise bei Begründung oder Widerlegung aufgestellter Sätze zu verfahren.[64]

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 60-65.
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