Fünftes Kapitel

[108] Ferner dient es zur Widerlegung, wenn jemand ein von Natur einwohnendes Eigenthümliches in seinem aufgestellten Satze als ein solches bezeichnet, was immer in dem Gegenstande enthalten ist; denn ein so aufgestelltes Eigenthümliches lässt sich widerlegen. Wenn z.B. jemand als das Eigenthümliche des Menschen das Zweifüssige aufstellt und er dies als ein natürliches Eigenthümliches kennzeichnen will, aber in seinem Satze es als ein immer am Menschen Vorhandenes ausdrückt, so wird dies so ausgedrückte Zweifüssige nicht das Eigenthümliche des Menschen sein, denn nicht jeder Mensch hat zwei Füsse. Für die Begründung ist es also nöthig, dass, wenn man das Eigenthümliche als das Natürliche eines Gegenstandes bezeichnen will, man dies auch in dem Satze dem entsprechend ausdrücke, denn dann wird das so Bezeichnete in dieser Hinsicht nicht umgestossen werden können. Hat also z.B. jemand als das Eigenthümliche des Menschen angegeben, dass er ein der Wissenschaft fähiges Geschöpf sei, und bezeichnet er sowohl nach seiner Absicht, wie nach seinen Worten sie als eine natürliche Eigenthümlichkeit, so wird Niemand diesen Satz in dieser Fassung umstossen können.

Es ist ferner schwierig, das Eigenthümliche da anzugeben, wo es sowohl von einem Ursprünglichen, als auch von einem anderen darauf Bezüglichen ausgesagt werden kann; giebt man es nämlich als das Eigenthümliche des auf das Ursprüngliche bezogenen Gegenstandes an, so wird es auch für das Ursprüngliche selbst gelten müssen, und wenn man es von dem Ursprünglichen aufstellt, so wird es auch von dem auf das Ursprüngliche bezogenen Anderen gelten müssen. Giebt man z.B. als Eigenthümlichkeit der Oberfläche an, dass sie gefärbt werden könne, so wird dies auch von dem Körper derselben in Wahrheit gesagt werden können und sagt man es von dem Körper,[108] so wird es auch von dessen Oberfläche gelten; so dass also Gegenstände, wo derselbe Begriff der Eigenthümlichkeit gilt, nicht immer dem Namen nach richtig bezeichnet sein werden.

Bei manchen Eigenthümlichkeiten wird meist darin gefehlt, dass man nicht näher bestimmt, wie das Eigenthümliche oder von welchen Gegenständen es gemeint sei. Man setzt nämlich im Allgemeinen das Eigenthümliche entweder als ein von Natur Einwohnendes, wie z.B. das Zweifüssige bei dem Menschen, oder als ein einfach Seiendes, wie z.B. das nur-vier-Finger-Haben, bei diesem bestimmten Menschen, oder als ein der Art Einwohnendes, wie z.B. beim Feuer, dass es der leichteste Körper ist, oder als eine Eigenschaft überhaupt, wie z.B. das Leben bei dem Geschöpf, oder als eine Beziehung auf Anderes, wie z.B. das Kluge bei der Seele, oder als ein Oberstes, wie z.B. des Klugen bei dem vernünftigen Theile der Seele, oder als ein Haben, wie z.B. bei dem Inhaber der Wissenschaft das der- Ueberredung-unzugänglich-Sein (denn nur weil er etwas inne hat, ist er der Ueberredung unzugänglich), oder als ein Gehabt-werden, wie bei der Wissenschaft das der- Ueberredung-unzugänglich-Sein; oder als ein Erfasst-werden, wie das Wahrnehmen bei dem Geschöpf (denn auch Anderes, z.B. der Mensch nimmt wahr, allein er thut es nur vermöge seiner Theilnahme an dem Begriff Geschöpf), oder als ein Theilhaben, wie das Leben bei einem einzelnen Geschöpfe.

Setzt man nun in dem ersten dieser Fälle nicht das »von Natur« hinzu, so begeht man einen Fehler, weil das von Natur Eigenthümliche auch einmal dem, welchem es von Natur zukommt, fehlen kann, wie z.B. einem Menschen, dass er zwei Füsse hat. Ebenso fehlt man, wenn man das einfach daseiende Eigenthümliche nicht als solches bezeichnet, weil solches Eigenthümliche auch später nicht so sein kann, wie es jetzt besteht, wie z.B. dass der Mensch vier Finger habe! Ebenso ist es ein Fehler, wenn man nicht bestimmt angiebt, ob man die Eigenthümlichkeit von dem Ursprünglichen oder ob man sie von einem anderen dar auf sich Beziehenden aufstellt; weil dann der Name des Gegenstandes und der Begriff der Eigenthümlichkeit nicht immer zusammen stimmen werden, wie wenn z.B. das Gefärbtsein als Eigenthümlichkeit[109] der Oberfläche oder des Körpers bezeichnet wird. Ebenso wird gefehlt, wenn man nicht vorher sagt, ob man die Eigenthümlichkeit auf das Haben, oder das Gehabtwerden stütze; denn stützt man die Eigenthümlichkeit auf letzteres, so wird sie dem Besitzer zukommen, stützt man sie aber auf das Haben, so wird sie dem Besessenen zukommen, z.B. wenn das »der Ueberredung durch Gründe unzugänglich-Sein« als Eigenthümlichkeit der Wissenschaft oder des Wissenden aufgestellt wird. Giebt man ferner nicht im Voraus an, ob auf dem Theilhaben an einem höheren Begrifflichen oder auf dem Befasstwerden des höheren Begrifflichen die Eigenthümlichkeit sich stützt, so wird das Eigenthümliche auch in anderen Dingen enthalten sein; denn wenn es auf dem Befasstwerden des Höheren beruht, so wird es dem Untergeordneten zukommen, und wenn es auf dem Theilhaben am Höhern beruht, dem Untergeordneten; z.B. wenn jemand das Leben als die Eigenthümlichkeit eines einzelnen Geschöpfes oder des Geschöpfes überhaupt aufstellt.

Man begeht ferner einen Fehler, wenn man bei Bestimmung des Eigenthümlichen der Art nach nicht angiebt, dass es nur einem Einzelnen von den darunter Befindlichen zukomme, von welchen das Eigenthümliche aufgestellt wird; denn das höchste Mass einer Eigenschaft kommt nur einem zu, z.B. wenn man von dem Feuer als Eigenthümlichkeit die grösste Leichtigkeit aussagt. Mitunter kann auch gefehlt werden, wenn man das Eigenthümliche der Art nach bestimmt, denn es muss in solchem Falle nur eine Art von dem angegebenen Gegenstande bestehen; dies trifft aber manchmal nicht zu, so z.B. auch bei dem Feuer nicht; denn es giebt nicht blos eine Art von Feuer, vielmehr sind die Kohlengluth und die Flamme und das Licht der Art nach verschieden, obgleich jedes von ihnen Feuer ist. Deshalb darf, wenn man die Eigenthümlichkeit der Art nach bestimmt, es neben der genannten nicht noch andere Arten geben, weil dann das benannte Eigenthümliche der einen Art mehr, der anderen weniger zukommen wird; wie wenn z.B. beim Feuer das Leichteste-sein als Eigenthümlichkeit genannt worden; denn das Licht ist leichter als die Kohlengluth und die Flamme. Eine solche Bestimmung des Eigenthümlichen ist daher unzulässig, wenn nicht auch der[110] benannte Gegenstand selbst da sich steigert, wo die Eigenthümlichkeit sich steigert, denn wo dies nicht der Fall ist, wird bei der gesteigerten Eigenthümlichkeit die Steigerung des Gegenstandes fehlen. Dazu kommt noch, dass die Eigenthümlichkeit dann als dieselbe angegeben wird für den Gegenstand über haupt und für die besondere Art, welche in der Gattung am meisten diese Eigenthümlichkeit besitzt, wie das z.B. bei dem Feuer statt hat, wenn von ihm ohne näheren Zusatz als Eigenthümlichkeit angegeben wird, dass es der leichteste Körper sei; denn auch von dem Licht ist es die Eigenthümlichkeit, da das Licht der leichteste Körper ist. Wenn sonach der Gegner eine Eigenthümlichkeit mangelhaft aufstellt, so muss man ihn hiernach angreifen; stellt man aber selbst den Satz auf, so muss man dem Gegner zu diesem Einwurfe keine Gelegenheit geben, sondern gleich bei Aufstellung des Satzes bestimmt angeben, in welchem Sinne die Eigenthümlichkeit zu verstehen sei.

Bei dem Widerlegen hat man ferner darauf zu achten, ob der Gegenstand selbst als das Eigenthümliche von ihm aufgestellt worden ist; denn dann ist dies keine Eigenthümlichkeit, weil jeder Gegenstand als solcher von sich nur sein Sein angiebt, und eine das Sein angebende Bestimmung keine Eigenthümlichkeit, sondern eine Definition ist. Giebt z.B. jemand als die Eigenthümlichkeit des Sittlichen das sich Geziemende an, so hat er das Sittliche als das Eigenthümliche des Sittlichen selbst angegeben (denn das Sittliche und das Geziemende sind dasselbe) und deshalb ist das Geziemende nicht die Eigenthümlichkeit des Sittlichen. Bei dem Aufstellen eines Satzes muss man also darauf achten, dass man nicht den Gegen stand als die Eigenthümlichkeit von ihm selbst aufstellt, aber dabei müssen doch das Eigenthümliche und der Gegenstand, also beide von einander, ausgesagt werden können; denn dann wird die Eigenthümlichkeit die richtige sein, wenn der Gegner auch das Entgegengesetzte aufgestellt haben sollte. Setzt also z.B. jemand als Eigenthümlichkeit des Geschöpfes das Beseelt-sein, so hat er den Gegenstand nicht selbst als seine Eigenthümlichkeit aufgestellt, und doch kann Beides auch von einander ausgesagt werden; das Beseeltsein wird daher die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes sein.[111]

Zur Widerlegung dient es ferner, wenn jemand von einem in seinen Theilen gleichartigen Gegenstande eine Eigenthümlichkeit angegeben hat, welche für seine Theile nicht richtig ist, oder wenn die vom Theile angegebene Eigenthümlichkeit nicht von dem Ganzen ausgesagt werden kann; denn die Eigenthümlichkeit ist dann nicht die wahre. Dies geschiet mitunter; denn Mancher giebt wohl von solchen gleichartigen Dingen die Eigenthümlichkeit nur im Hinblick auf das Ganze an und manchmal nur die, welche nur von dem Theile ausgesagt werden kann, indem er nur darauf seine Aufmerksamkeit richtet; allein es wird dann in beiden Fällen die Eigenthümlichkeit nicht richtig angegeben sein. So geschieht dies z.B. nur in Bezug auf das Ganze, wenn jemand als die Eigenthümlichkeit des Meeres aufstellt, dass es das meiste salzige Wasser enthalte; hier hat er zwar die Eigenthümlichkeit von dem aus gleichen Theilen bestehenden Ganzen angegeben; aber sie selbst passt nicht für die einzelnen Theile des Meeres (denn ein einzelnes Meer enthält nicht das meiste salzige Wasser), und deshalb kann dies keine Eigenthümlichkeit des Meeres sein. Ebenso ist es derselbe Fehler, wenn nur auf die Theile gesehen wird, z.B. wenn jemand als die Eigenthümlichkeit der Luft angiebt, dass sie eingeathmet werden könne. Hier hat er zwar die Eigenthümlichkeit von etwas in seinen Theilen Gleichartigem angegeben, aber doch so, dass es nur von einem Theile der Luft, aber nicht von der ganzen gilt (denn die ganze Luft kann nicht eingeathmet werden), und deshalb ist diese Bestimmung keine Eigenthümlichkeit der Luft. Bei Aufstellung eines Satzes hat man daher zu prüfen, ob die Eigenthümlichkeit für jeden Theil des gleichartigen Gegenstandes gilt, denn dann ist es auch die Eigenthümlichkeit für den ganzen und die wahre, wenn der Gegner es auch bestreitet. Wenn z.B. von jedem Theile der Erde als Eigenthümlichkeit gilt, dass sie von Natur nach unten sich bewegt, so ist dies auch von einem einzelnen Theile der Erde die Eigenthümlichkeit, und so wird dieses »von – Natur – nach – unten – sich – Bewegen« in Wahrheit die Eigenthümlichkeit der Erde sein.[112]

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 108-113.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon