Siebenundzwanzigstes Kapitel

[147] Das Wahrscheinliche und das Zeichen sind nicht dasselbe. Wahrscheinlich ist ein der Meinung entsprechender Satz; denn das, wovon man weiss dass es meistentheils geschieht oder nicht geschieht, oder dass es meistentheils ist oder nicht ist, das ist wahrscheinlich; also z.B. dass die Neidischen hassen und dass die Verliebten freundschaftlich zu dem Geliebten gesinnt sind. Das Zeichen will dagegen ein durchaus gewisser und nothwendiger oder auch ein der Meinung entsprechender Satz sein; denn dasjenige, auf Grund dessen Seins oder Gewordenseins eine Sache vorher ist oder nachher wird, ist ein Zeichen des Gewordenseins oder des Seins der Sache. Das Enthymem ist nun ein Schluss aus Wahrscheinlichem oder aus Zeichen. Das Zeichen wird aber in dreifacher Weise angesetzt, so vielfach, wie der Mittelbegriff in den Figuren; man kann daher das Zeichen setzen, entweder wie in der ersten Figur, oder wie in der zweiten, oder wie in der dritten Figur. Wenn man z.B. beweisen will, dass eine Frau schwanger ist, weil sie Milch hat, so benutzt man das Zeichen in der ersten Figur; denn der Mittelbegriff ist das Milch-haben; A ist das Schwanger-sein, B das Milch-haben, C die Frau. Aber der Satz, dass die Weisen gut sind, denn Pittakos war ein Weiser, wird in der dritten Figur bewiesen; A[147] ist da das Gute, B die Weisen und C Pittakos. Es ist nun zwar richtig, dass A und B von C ausgesagt werden kann, aber man spricht den einen Vordersatz nicht aus, weil er bekannt ist und nimmt nur den andern Vordersatz herbei. Wenn dagegen das Schwangersein einer Frau daraus entnommen wird, weil sie blass ist, so will man das Zeichen in der zweiten Figur benutzen; denn da schwangere Frauen blass sind und es auch bei dieser sich zeigt, so glaubt man bewiesen zu haben, dass sie schwanger ist. Das Blass-sein ist hier A, das Schwanger-sein B und die Frau C. Spricht man blos den einen Vordersatz aus, so ist es ein blosses Zeichen; nimmt man aber auch den zweiten Vordersatz hinzu, so wird es ein Schluss. Letzteres geschieht z.B. wenn man sagt: Pittakos ist freigebig; denn die Ehrliebenden sind freigebig und Pittakos ist ehrliebend; oder: die Weisen sind gut, denn Pittakos ist gut, aber auch ein Weiser. In dieser Weise werden die Schlüsse gezogen. Dabei ist aber nur der Schluss in der ersten Figur unwiderleglich, wenn seine Vordersätze wahr sind; (denn er lautet allgemein); dagegen kann der in der dritten Figur gezogene Schluss widerlegt werden, wenn auch der Schlusssatz wahr ist, weil der Schluss weder allgemein ist, noch die Sache trifft; denn wenn auch Pittakos gut ist, so müssen es deshalb nicht auch die übrigen Weisen sein. Der Schluss mittelst der zweiten Figur ist immer und durchaus widerlegbar; denn wenn die Begriffe sich so zu einander verhalten, giebt es niemals einen Schluss, da, wenn auch die Schwangern blass sind und diese Frau blass ist, sie doch nicht schwanger zu sein braucht. Es kann deshalb zwar Wahres in allen Zeichen enthalten sein, aber sie unterscheiden sich dabei in der angegebenen Weise.

Man könnte die Zeichen auch so unterscheiden, dass das, welches als Mittelbegriff benutzt wird, als Kennzeichen gilt (denn man sagt, dass das Kennzeichen das Wissen bewirkt und dieses Wissen bewirke hauptsächlich der Mittelbegriff), oder dass nur die Zeichen, welche als Aussenbegriffe bei dem Schlüsse benutzt werden, Zeichen genannt werden, aber das, welches als Mittelbegriff dient, Kennzeichen; denn das Zeichen, welches in der ersten[148] Figur benutzt werden kann, ist das wahrscheinlichste und am meisten wahre.

Das Schliessen aus körperlichen Zeichen auf Seelenzustände ist möglich, wenn man zugiebt, dass der Körper und die Seele sich gleichzeitig verändern, so weit es sich um natürliche Zustände handelt; denn wer z.B. die Musik erlernt hat, mag sich auch vielleicht etwas in seiner Seele verändert haben; allein ein solcher Zustand gehört nicht zu den uns natürlichen Zuständen, es muss vielmehr eine natürliche Veränderung sein, wie Zorn und Begierden. Gäbe man also jenen Satz zu und eben so, dass es nur ein Zeichen von jedem einzelnen Seelen-Zustande giebt und hätte man das, zu jeder nicht weiter in verschiedene Arten zerfallenden Gattung von Geschöpfen gehörende Zeichen erkannt, so würde man Physionomik üben können. Wenn nämlich jeder nicht weiter in verschiedene Arten zerfallenden Gattung ein Zustand eigenthümlich ist; wie z.B. den Löwen die Tapferkeit, so muss es dann auch ein Zeichen dafür geben; denn es ist eingeräumt, dass Körper und Seele mit einander eine Veränderung erleiden. Dies Zeichen soll nun der Besitz von grossen Gliedmaassen sein, was zwar auch bei anderen Gattungen vorkommen kann; aber nicht durchaus und allgemein in allen Einzelnen anderer Gattungen; denn das Zeichen ist in dieser Weise eigenthümlich, dass der zugehörige Seelenzustand der ganzen Gattung eigenthümlich ist, und nicht blos bei einzelnen Exemplaren vorkommt; auch stimmt der gewöhnliche Sprachgebrauch damit überein. Es kann deshalb derselbe Seelenzustand zwar auch in einer anderen Gattung vorkommen; der Mensch oder ein anderes Geschöpf kann tapfer sein, aber dann wird er auch das entsprechende Zeichen besitzen; da nur ein Zeichen für einen Zustand besteht. Ist dies der Fall, so wird man auch diese Zeichen von denjenigen Geschöpfen entnehmen können, bei welchen blos ein solcher Seelenzustand ihnen eigenthümlich ist; jeder Seelenzustand hat dann sein Zeichen , da er eins haben muss und so wird man Physiognomik üben können. Hat aber eine Gattung zwei eigenthümliche Seelenzustände, wie der Löwe die Tapferkeit und die Grossmuth, wie wird man da erkennen können, welches von dem ihm eigenthümlichen Zeichen dem einen und welches dem anderen Seelenzustande angehört?[149] Indess wird dies dann geschehen können, wenn auch in einer anderen Gattung beide Zustände bei Einzelnen, aber nicht bei Allen vorkommen, und wenn bei Einzelnen nur einer von beiden Zuständen vorkommt, indem sie den einen Seelenzustand haben, aber den anderen nicht. Wenn also in einer anderen Gattung ein Einzelnes zwar tapfer, aber nicht grossmüthig ist, es aber von den beiden Zeichen nur das eine hat, so ist klar, dass dieses Zeichen auch bei dem Löwen das Zeichen der Tapferkeit ist. Bei der Physiognomik wird also in der ersten Figur geschlossen; der Mittelbegriff muss dabei mit dem Oberbegriffe sich austauschen lassen, aber über den Unterbegriff hinausreichen und sich mit ihm nicht austauschen lassen. Es seien z.B. A die Tapferkeit, B die grossen äusseren Gliedmaassen und C der Löwe. Hier ist in dem ganzen C das B enthalten; allein B kommt auch noch An deren zu. Dagegen ist in dem ganzen B das A enthalten, aber A in keinem weiter, vielmehr lassen A und B sich austauschen, denn wenn dies nicht der Fall wäre, so gehörte nicht blos ein Zeichen zu einem Seelenzustande.


Ende.[150]

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 147-151.
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