Neuntes Kapitel

[62] Bei den seienden und gewordenen Dingen muss also die Bejahung oder die Verneinung wahr oder falsch sein und es muss bei den von einem Allgemeinen allgemein ausgesagten Bejahungen und Verneinungen immer die eine wahr und die andere falsch sein, und dies gilt auch, wie ich schon gesagt habe, dann, wenn die Bejahung oder Verneinung nur einen einzelnen Gegenstand betrifft. Dagegen ist dies bei den von einem Allgemeinen nicht allgemein ausgesagten Sätzen nicht nothwendig; auch hierüber habe ich schon gesprochen.

Bei den einzelnen erst kommenden Dingen verhält es sich aber nicht ebenso. Denn wenn hier jede Bejahung und Verneinung ohne Ausnahme wahr oder falsch wäre und Alles entweder sein oder nicht-sein müsste und nun der Eine sagte, es werde sein, der Andere aber, es werde nicht sein, so ist klar, dass dann einer von beiden nothwendig die Wahrheit sagte, wenn nehmlich jede Bejahung und Verneinung entweder wahr oder falsch wäre; denn beides wird bei solchen Dingen nicht zugleich stattfinden.[62] Wenn man nehmlich in Wahrheit sagen kann, dass etwas weiss oder nicht weiss sei, so muss auch der Gegenstand weiss oder nicht weiss sein und ebenso muss, wenn der Gegenstand weiss oder nicht weiss ist, man in Wahrheit dies bejahen oder verneinen können. Wenn der Gegenstand nicht weiss ist, so ist die Aussage dass er weiss ist, falsch und wenn diese Aussage falsch ist, so ist der Gegenstand nicht weiss; also muss nothwendig die Bejahung oder Verneinung wahr oder falsch sein. Wenn nun dies auch für die erst kommenden Dinge gelten sollte, so würde oder wäre nichts aus Zufall, oder so, wie es sich gerade trifft und dies gälte auch für das erst in Zukunft Werdende. Alles würde vielmehr aus Nothwendigkeit und nicht wie es sich gerade trifft. Denn entweder spricht der Bejahende oder der Verneinende wahr und dem entsprechend wird auch der Gegenstand oder wird nicht, während das Zufällige der Art ist, dass es weder mehr so, wie nicht so sich verhält oder verhalten wird.

Auch könnte man dann, wenn jetzt Etwas weiss ist, schon vorher in Wahrheit sagen, dass es weiss werden werde und somit könnte man immer von jedwedem Gewordenen in Wahrheit vorher sagen, dass es sei oder sein werde und wenn man immer in Wahrheit vorher sagen könnte, dass Etwas sei oder sein werde, so wäre es unstatthaft, dass es nicht-sei oder nicht-sein werde. Wo aber das Nicht-werden nicht statthaft ist, da ist das Nicht-werden unmöglich und das was unmöglich nicht-werden kann, das muss nothwendig werden. Also müsste alles Kommende mit Nothwendigkeit werden und es könnte nichts zufällig oder wie es sich trifft, geschehen; denn wenn es aus Zufall würde, so würde es nicht aus Nothwendigkeit.

Man kann dagegen auch nicht einwenden, dass man ja beide Gegensätze in Wahrheit verneinen könne, sowohl dass etwas sein werde, wie dass es nicht sein werde. Denn erstens wäre ja dann, wenn die Bejahung falsch wäre, auch die Verneinung nicht wahr und wenn die Verneinung falsch wäre, so wäre auch die Bejahung nicht wahr.

Zu diesen Gründen kommt hinzu, dass, wenn man in Wahrheit sagen könnte, etwas sei weiss und gross, dann auch beides so sein müsste und wenn diese Aussage für morgen wahr sein würde, so würde auch der Gegenstand[63] morgen so sein. Wenn aber der Gegenstand morgen weder sein noch nicht sein könnte, so würde er auch dann nicht etwas sein, wie es sich gerade trifft, z.B. eine Seeschlacht; denn dann müsste ja selbst eine Seeschlacht morgen weder stattfinden noch nicht stattfinden können.

Widersinnig ist nun aber dies und andres der Art, was sich ergiebt, wenn von jeder Bejahung und Verneinung, sei sie eine von einem Allgemeinen allgemein, oder von einem Einzelnen ausgesagte, nothwendig einer ihrer Gegensätze wahr und der andere falsch sein muss, und wenn von dem, was geschieht, nichts so, wie es sich gerade trifft, geschehen kann, sondern alles aus Nothwendigkeit sein oder werden müsste. Man brauchte dann auch nicht zu berathschlagen und sich zu bemühen, damit wenn man so handle, dies geschehen werde und wenn man nicht so handle, dies nicht geschehen werde. Dann könnte ja bis in das zehntausendste Jahr hinaus der Eine sagen, das werde sein, und der Andere, es werde nicht sein, so dass dann das geschehen müsste, was der eine von beiden damals als die Wahrheit gesagt hätte. Ja es würde dann selbst gleichgültig sein, ob man diese sich widersprechenden Sätze ausspräche oder nicht; denn offenbar müssten dann die Dinge selbst sich so verhalten, auch wenn Niemand das eine behauptete und kein Anderer es verneinte; denn nicht, weil Etwas behauptet oder verneint worden, würde es werden oder nicht werden und dies gilt auf das zehntausendste Jahr hinaus eben so, wie für jede andere Zeit. Müsste Etwas sich demnach für jedwede Zeit so verhalten, dass wenn einer von beiden Sätzen die Wahrheit enthielte, es nothwendig auch so geschehen müsste, so würde auch alles schon Geschehene von der Art sein, dass es mit Nothwendigkeit geschehen wäre; denn wenn Einer von Beiden in Wahrheit sagen konnte, dass es sein werde, so war es nicht möglich, dass es nicht würde und man hätte dann von dem Geschehenen immer in Wahrheit vorher aussprechen können, dass es geschehen werde.

Allein dies ist unmöglich, denn man sieht ja, dass der Anfang von manchem Werdenden von dem Ueberlegen und einem bestimmten Handeln abhängt und dass überhaupt bei allen Gegenständen, die nicht immer wirksam sind, deren Vermögen zu wirken und nicht zu wirken sich gleich[64] steht; bei diesen kann das eine so gut sein wie das andere, also auch das Werden so gut wie das Nicht-werden statt finden.

Auch ist uns ja von vielen Gegenständen bekannt, dass es bei ihnen sich so verhält. So ist es für diesen Mantel möglich, dass er zerschnitten werde, aber er wird nicht zerschnitten werden, sondern noch länger getragen werden. Ebenso war es für diesen Mantel möglich, dass er nicht zerschnitten wurde, denn er hätte ja sonst nicht länger getragen werden können, wenn das Nicht-zerschneiden desselben nicht möglich gewesen wäre. Ebenso verhält es sich mit allem Anderen, was wird, so weit dies Werden von einem solchen Vermögen abhängig ist. Es ist also klar, dass nicht alles mit Nothwendigkeit ist und wird, sondern manches wird theils so, wie es sich gerade trifft, wo also von solchem weder die Bejahung noch die Verneinung mehr wahr ist; theils wird es so, dass zwar in den meisten Fällen das eine mehr wahr ist als das andere; allein trotzdem ist es möglich, dass dies andere doch geschieht und jenes nicht.

Dass nun das Seiende ist, wenn es ist und dass das Nicht-Seiende nicht-ist, wenn es nicht ist, dies ist allerdings nothwendig; allein trotzdem muss nicht alles Seiende nothwendig sein, noch alles Nicht-Seiende nothwendig nicht-sein; denn der Satz, dass alles bereits Seiende nothwendig ist, ist nicht derselbe Satz, mit dem, dass überhaupt Alles nothwendig sei; und das Gleiche gilt für das Nicht-Seiende.

Auch mit den sich widersprechend entgegenstehenden Aussprüchen verhält es sich ebenso; denn allerdings muss nothwendig Alles entweder sein oder nicht-sein und werden oder nicht-werden; aber man kann dies nicht trennen und nicht eines davon allein für nothwendig erklären. Ich meine, dass z.B. es nothwendig ist, dass morgen eine Seeschlacht entweder geschehen oder nicht-geschehen wird; aber deshalb ist es nicht nothwendig, dass morgen eine Seeschlacht erfolgen wird; und es ist auch nicht nothwendig, dass sie nicht-erfolgen wird; nur dass sie entweder erfolgt oder nicht-erfolgt ist nothwendig.

Da nun die wahren Aussagen sich so verhalten, wie die Gegenstände sich verhalten, so ist klar, dass überall da, wo die Gegenstände sich so verhalten, dass das Entgegengesetzte,[65] je nach dem es sich trifft, eintreten kann, nothwendig auch die einander entgegenstehenden Aussagen sich so verhalten müssen. Dies ist nun der Fall bei Gegenständen die nicht immer sind oder die nicht immer nicht-sind. Bei diesen muss allerdings nothwendig die eine der sich widersprechenden Aussagen wahr oder falsch sein, aber nicht gerade die bestimmte eine oder die bestimmte andere, sondern so wie es sich trifft. Auch kann wohl die eine mehr wahr sein, aber doch nicht schon jetzt wahr oder falsch.

Hieraus erhellt, dass nicht nothwendig von jeder entgegengesetzten Bejahung und Verneinung die eine wahr und die andre falsch sein muss; denn so, wie mit den daseienden Dingen, verhält es sich nicht mit denjenigen nicht-seienden Dingen, die sein oder nicht sein können, vielmehr verhalten sich diese so, wie ich gesagt habe.

Quelle:
Aristoteles: Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen. Aristoteles: Hermeneutica oder Lehre vom Urtheil. Leipzig 1876, S. 62-66.
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