Zweites Kapitel

[3] Man glaubt dann einen Gegenstand voll und nicht im sophistischen Sinne in blos nebensächlicher Weise zu wissen, wenn man die Ursache zu kennen glaubt, durch welche der Gegenstand ist, so dass jene die Ursache von diesem ist und dass sich dies nicht anders verhalten kann. Es ist klar, dass das Wissen solcher Art ist, denn von den Nicht-Wissenden und Wissenden glauben jene und wissen diese, dass dasjenige, was sie vollständig wissen, sich unmöglich anders verhalten kann. Ob es nun noch eine andere Art des Wissens, neben dem Wissen auf Grund eines Beweises giebt, werde ich später sagen; jetzt sage ich, dass es auch ein Wissen auf Grund eines Beweises giebt. Unter Beweis verstehe ich aber einen wissenschaftlichen Schluss, und wissenschaftlich nenne ich den, durch dessen Innehaben man weiss. Wenn nun das Wissen so ist, wie ich hier angenommen habe, so muss nothwendig die beweisbare Wissenschaft aus Sätzen hervorgehen, welche wahr sind, und welche die ersten und unvermittelt und bekannter und früher sind, und welche die Gründe für den Schlusssatz sind; denn so werden sich auch die eigenthümlichen obersten Grundsätze für das Bewiesene verhalten. Ein Schluss kann allerdings auch ohne solche Grundsätze zu Stande kommen, aber nicht ein Beweis; denn ohnedem wird der Schluss keine Erkenntniss bewirken. Diese Bestimmungen müssen also wahr sein, weil man das Nicht-Seiende nicht wissen kann, wie z.B. die Messbarkeit der Diagonale des Quadrats durch die Seite desselben; sie müssen ferner oberste und unbeweisbare Bestimmungen sein, denn sonst müsste man die Kenntniss ihres Beweises[3] haben, um sie zu wissen, da das Wissen der Dinge, wofür ein Beweis und zwar nicht blos in nebensächlicher Beziehung vorhanden ist, darin besteht, dass man ihren Beweis innehat. Ferner müssen jene Bestimmungen die Gründe bilden und bekannter und früher sein; und zwar die Gründe deshalb, weil man etwas erst dann weiss, wenn man seine Ursache kennt und sie müssen früher sein, weil sie Ursachen sind und vorher bekannt, nicht blos in der Weise eines Verstehens, sondern auch in der Weise des Wissens, dass sie sind. Denn das der Natur nach Frühere ist nicht dasselbe mit dem Früheren für uns und ebenso ist das der Natur nach Bekanntere nicht dasselbe mit dem für Uns Bekannterem. Unter dem für Uns Früheren und Bekannteren verstehe ich das, was der sinnlichen Wahrnehmung näher liegt; unter dem schlechthin Früheren und Bekannteren das davon Entferntere. Am entferntesten ist das am meisten Allgemeine; am nächsten das Einzelne; beide sind einander entgegengesetzt. Aus den Ersten abgeleitet ist das, was aus seinen eigenthümlichen obersten Grundsätzen abgeleitet ist; denn Erstes und oberster Grundsatz sind dasselbe. Ein oberster Grundsatz ist der unvermittelte Vordersatz eines Beweises und unvermittelt ist ein Vordersatz, dem kein anderer vorausgeht. Vordersatz ist die Aussage des einen von zwei entgegengesetzten Sätzen wodurch etwas einem andern Gegenstande beigelegt wird; er ist dialektisch, wenn von diesen beiden Sätzen der eine oder der andere beliebig angenommen wird; er ist beweisend, wenn einer von beiden bestimmt als der wahre hingestellt wird. Aussage ist der eine oder der andere von diesen entgegengesetzten Sätzen. Ein Gegensatz sind solche zwei Sätze, welche kein Drittes zwischen sich gestatten. Theile eines Gegensatzes sind jeder dieser beiden Sätze, von denen der eine etwas von einem Gegenstande bejaht und der andere es verneint. Den unvermittelten Obersatz eines Schlusses, der nicht zu beweisen ist, nenne ich These, wenn der Lernende ihn nicht innezuhaben braucht; wenn aber der, welcher irgend etwas lernen will, ihn nothwendig innehaben muss, so ist es ein Axiom. Solcher giebt es einige und man hat sie gemeiniglich mit diesem Namen bezeichnet. Nimmt man beliebig einen von den beiden Theilen eines Gegensatzes[4] als Obersatz, z.B. wenn ich sage, dass Etwas ist, oder dass es nicht ist, so ist dies eine Hypothese; ohne dem ist es eine Definition, denn die Definition ist zwar eine These, so lautet z.B. die arithmetische Definition, dass die Eins das der Grösse nach Untheilbare sei; aber eine Hypothese ist dies nicht, denn die Angabe, was die Eins ist und die Angabe, dass die Eins ist, sind nicht dasselbe.

Da die Ueberzeugung und die Erkenntniss in Bezug auf einen Gegenstand darauf beruht, dass man dafür einen solchen Schluss habe, welchen man Beweis nennt und ein solcher Schluss es dadurch ist, dass die Sätze, aus denen er sich ableitet, wahr sind, so muss man die obersten Grundsätze, entweder sämmtlich oder einige vorher nicht blos kennen, sondern auch in einen höherem Grade kennen; denn das, durch welches ein anderes ist, ist immer in höherem Grade; so liebt man dasjenige, weshalb man ein anderes liebt, in höherem Grade. Wenn also unsre Ueberzeugung und unser Wissen auf den obersten Grundsätzen ruht, so wissen wir diese auch in höherem Grade und vertrauen ihnen in höherem Maasse, weil wir erst durch diese Grundsätze das Weitere wissen. Es ist nämlich nicht möglich, dasjenige, was man nicht weiss und das wozu man sich nicht besser verhält, als wenn man es wüsste, mehr zu wissen, als das, was man wirklich weiss. Dies würde aber geschehen, wenn man nicht schon ein Wissen vor demjenigen Wissen hätte, auf welches man vermittelst des Beweises vertraut. Nothwendig muss also den obersten Grundsätzen, entweder den sämmtlichen oder einigen mehr vertraut werden, als der Schlussfolgerung. Wer also ein Wissen mittelst des Beweises erwerben will, der muss nicht blos die obersten Grundsätze mehr kennen und ihnen mehr vertrauen, als dem, was bewiesen wird, sondern es darf ihm auch das, was diesen Grundsätzen widerspricht und woraus auf das Entgegengesetzte und Falsche geschlossen werden könnte, weder glaubhafter noch bekannter sein; denn der Wissende muss schlechthin unerschütterlich in seiner Ueberzeugung sein.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 3-5.
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