Sechstes Kapitel

[74] Aber sollte sich nicht das wesentliche Was eines Gegenstandes vermöge einer Voraussetzung beweisen lassen, indem man als Obersatz annimmt, der Begriff der Definition bestehe überhaupt aus den in dem Wesen eines Gegenstandes enthaltenen eigenthümlichen Merkmalen und in den Untersatz nun diese Merkmale aufnimmt, welche dem betreffenden Gegenstande zukommen und daraus dann folgert, dass also diese Merkmale seine Definition enthalten? Aber sollte nicht auch hier das wesentliche Was nur angenommen, aber nicht bewiesen sein? Denn dazu gehörte doch, dass es durch einen Mittelbegriff dargelegt würde. Auch nimmt man ja in keinem Schlüsse das auf, was das Was des Schliessens sei (denn die Vordersätze, aus denen der Schluss abgeleitet wird, verhalten sich immer wie das Ganze zu dem Theile) und es kann das wesentliche Was des Schlusses überhaupt nicht darin enthalten sein; vielmehr muss es ausserhalb der angenommenen Vordersätze bleiben, und wenn ein Zweifel erhoben wird, ob dies ein Schliessen sei oder nicht, so muss man dem damit begegnen, dass dies der Fall sei, weil es dem Begriffe des Schlusses entspreche, und wenn eingewendet wird, dass das wesentliche Was des Schlusses nicht abgeleitet werden könne, so muss man entgegnen, dass eben dieses Schliessen für uns das wesentliche Was des Schlusses enthalte. Mithin kann man auch ohne Angabe dessen, was der Schluss ist und worin sein wesentliches Was besteht, etwas durch Schlüsse ableiten.

Und wenn jemand den Beweis vermittelst einer Voraussetzung führen wollte, z.B. so: Wenn das Böse-sein in dem Mehrfältig-sein besteht, und das Entgegengesetztsein[74] in dem Gegensatze gegen das Gegentheil bei den Dingen besteht, die ein Gegentheil haben, und wenn das Gute das Gegentheil des Schlechten ist und das Einfache das Gegentheil des Mehrfältigen ist, so ist das Gute demnach das Einfache; so erfolgt auch hier der Beweis nur durch Aufnahme des wesentlichen Was in die Vordersätze und diese Aufnahme geschieht, um das wesentliche Was zu beweisen. Bei dem Schlüsse müssen jedoch die Begriffe des Schlusssatzes verschieden sein, denn in den Beweisen wird gezeigt, dass jenes von diesem gelte, aber nicht, dass beide dasselbe seien, oder dass das eine der Begriff des andern sei und beide sich austauschen lassen Gegen beide Verfahrungsweisen, sowohl gegen die, wo man den Beweis aus der Eintheilung entnimmt und gegen die, welche so wie hier angegeben, schliesst, tritt ferner dasselbe Bedenken ein, dass man fragen kann: Warum ist der Mensch ein zweifüssiges, auf dem Lande lebendes Geschöpf und weshalb ist er nicht ein Geschöpf und auch auf dem Lande lebend? Denn aus den angenommenen Sätzen des Schlusses folgt nicht nothwendig, dass diese ausgesagten Bestimmungen Eins werden, sondern es ist nur eine Verbindung, wie z.B. bei einem Menschen, wenn derselbe ein Musikverständiger und ein Sprachverständiger wäre.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 74-75.
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