[434] 46. prakāēa-ādivan na evaṃ paraḥ
wie das Licht u.s.w. nicht ebenso der höchste.

[434] Während die Seele den Schmerz des Saṃsāra empfindet, so empfindet denselben, wie wir annehmen, doch darum nicht auch der höchste Gott. Denn die Seele zwar ist zufolge ihres Erfülltseins von dem Nichtwissen gleichsam in das Sein der Wesenheit des Leibes u.s.w. eingegangen, und bei einem hierdurch bedingten Schmerze denkt sie: »ich empfinde Schmerz« und bildet sich ein, die auf dem Nichtwissen beruhende Empfindung des Schmerzes wirklich zu haben; »nicht ebenso« aber lässt sich von »dem höchsten«, von Gott behaupten, dass er zur Wesenheit des Leibes u.s.w. werde | oder den Wahn des Schmerzes empfinde. Und auch bei der Seele ist dieser Wahn des Schmerzes nur bedingt durch den Irrtum, dass sie sich nicht zu unterscheiden weiss von den Upādhi's, d.h. von dem durch das Nichtwissen gebildeten, aus den Namen und Gestalten hervorgegangenen Leibe und seinen Organen; nicht aber ist die Schmerzempfindung im höchsten Sinne real. Und so wie einer den seinen eigenen Leib betreffenden, durch Brennen, Schneiden u.s.w. bedingten Schmerz vermöge der Irrung jenes Wahnes empfindet, ebenso geschieht es, dass einer weiter auch den seine Kinder oder Freunde betreffenden Schmerz vermöge der Irrung jenes Wahnes empfindet, indem er sich mit dem Bewusstsein: »ich bin der Sohn« – »ich bin der Freund« vermittelst der Liebe in seinen Sohn, Freund u.s.w. hineinversetzt. Und gerade hieraus ergiebt sich mit Gewissheit, dass die ganze Empfindung des Schmerzes nur auf dem Irrtum eines falschen Wahnes beruht; es ergiebt sich nämlich dieses daraus, dass die Schmerzempfindung auch über den Leib hinausreicht [wo sie doch nicht mehr real sein kann]. Nehmen wir z.B. an, es sässen viele zusammen, welche Söhne, Freunde u. dgl. hätten, und zwar solche, welche den Wahn hegen, mit ihnen verbunden zu sein, und auch andere, und es hiesse plötzlich: »eure Söhne sind tot«, – »eure Freunde sind tot«, so werden nur diejenigen, welche den Wahn liegen, ihre Söhne, Freunde u.s.w. wirklich zu besitzen, nur diese werden von dem dadurch verursachten Schmerze ergriffen werden, nicht aber diejenigen, welche, wie z.B. die Wandermönche, sich von jenem Wahne freigemacht haben. Und aus diesem Gesichtspunkte kann sogar ein Weltmensch die Glückseligkeit der vollkommenen Erkenntnis begreifen, um wie vielmehr derjenige, welcher kein anderes Wesen als den objektlosen Ātman und nichts, was von ihm verschieden wäre, erblickt und seinem Wesen nach nur und allein die ewige Geistigkeit selbst[435] ist! Es ist also nicht daran zu denken, dass die vollkommene Erkenntnis zum Unglücke führte.

Noch bringt das Sūtram einen Vergleich in den Worten: »wie das Licht u.s.w.«; d.h.: so wie das Licht der Sonne oder des Mondes den Raum durchdringt und, z.B. auf den Finger fallend, durch diese Verbindung mit einem Upādhi, indem der Finger sich krümmt oder streckt, an dieser Veränderung gleichsam teilnimmt, | während es doch in Wahrheit nicht in das Sein des Fingers übergeht, – oder wie der Raum in den Gefässen, wenn diese sich fortbewegen, sich gleichsam mit fortzubewegen scheint, während er doch in Wahrheit sich nicht fortbewegt, – oder wie, wenn eine Schüssel mit Wasser erschüttert wird, das in ihr sich spiegelnde Abbild der Sonne mit erzittert, nicht aber die Sonne, von der es stammt, – in derselben Weise geschieht es, dass, wenn ein durch das Nichtwissen aufgestellter, mit den Upādhi's der Buddhi u.s.w. Behafteter, »individuelle Seele« genannter Teil Gottes Schmerz erleidet, doch Gott selbst, dessen Teil er ist, nicht mitleidet. Und auch bei der Seele beruht, wie wir gezeigt haben, die Empfindung des Schmerzes nur auf dem Nichtwissen. Und dem entspricht es, dass die Vedāntatexte in Worten wie »das bist du« (Chānd. 6, 8, 7), das Sein der individuellen Seele als ein durch das Nichtwissen bedingtes verwerfen und das Brahmansein der Seele lehren. – Somit steht fest, dass bei dem Schmerz der individuellen Seele die höchste Seele den Schmerz nicht mitempfindet.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 434-436.
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