[340] 17. aparigrahâc ca atyantam anapekshâ
auch wegen der Nichtannahme [verdient der Atomismus] durchaus keine Beachtung.

Was die Theorie [der Sâ khya's] von der Urmaterie als Weltursache betrifft, so ist diese auch von einigen Vedakundigen, wie Manu und andern, litterarisch vertreten worden, in Anbetracht, dass dieselbe doch durch einen Teil [der wahren Lehre], dass die Wirkung die eines [noch jetzt] Seienden ist u.s.w., ihr Dasein fristet. Hingegen ist die gegenwärtige Theorie | von den Atomen als Weltursache von gar keinem Gelehrten auch nicht irgend einem Teile nach angenommen worden; daher sie von Seiten der Anhänger des Veda ganz und gar keine Beachtung verdient.

Hierzu kommt, dass die Vaiçeshika's als Inhalt ihrer Lehre die sechs Kategorien der Substanz, Qualität, Wirkung, Identität, Differenz und Inhärenz ausstellen als gänzlich voneinander verschiedene und mit verschiedenen Merkmalen behaftete Wesenheiten, etwa wie ein Mensch, ein Pferd und ein Hase verschieden sind. Und obgleich sie dieses annehmen, so behaupten sie doch im Widerspruch damit, dass die übrigen Kategorien von der Substanz abhängig seien. Aber das geht nicht; denn so wie zwischen einem Hasen und einem Grashalme u.s.w., weil sie gänzlich verschieden sind, keine gegenseitige Abhängigkeit stattfindet, so kann auch unter den Kategorien, weil sie gänzlich verschieden sind, eine Abhängigkeit der Qualität und der folgenden von der Substanz[340] nicht stattfinden. Und doch besteht diese Abhängigkeit der Qualität u.s.w. von der Substanz. Weil nun die übrigen Kategorien nur bestehen, sofern die Substanz besteht, und nicht bestehen, wenn sie nicht besteht, so ist es eben nur die Substanz, welche durch die Verschiedenheit ihrer Zustände u.s.w. der verschiedenen Namen und Vorstellungen teilhaftig wird; ähnlich wie Devadatta, obwohl er einer ist, durch Verbindung mit verschiedenen Zuständen verschiedener Namen und Vorstellungen teilhaftig wird. | Weil dem so ist, so verfallen sie in die Lehrmeinung der Sâ khya's und setzen sich mit ihrer eigenen Lehrmeinung in Widerspruch. – ›Aber ist nicht auch der Rauch, obwohl er vom Feuer verschieden ist, dennoch vom Feuer in Abhängigkeit?‹ – Allerdings! aber hierbei wird durch die Erkenntnis der Verschiedenheit sicher gestellt, dass der Rauch etwas anderes ist als das Feuer. In unserem Falle hingegen, bei einer weissen Decke, einer roten Kuh, einer blauen Lotosblume, ist es immer nur die oder die Substanz, welche mit der oder der Bestimmung dem Erkennen sich darbietet; und es ist zwischen der Substanz und den Qualitäten keine Auffassung der Verschiedenheit in der Art, wie sie beim Feuer und beim Rauche stattfindet. Somit hat die Qualität die Substanz zu ihrem Wesen. Damit ist bewiesen, dass auch die übrigen Kategorien, Wirkung, Identität, Differenz und Inhärenz, die Substanz zu ihrem Wesen haben [mithin nicht als besondere Kategorien derselben nebengeordnet werden durften].

Man könnte einwenden, die Abhängigkeit der Qualität u.s.w. von der Substanz beruhe [nur] darauf, dass Substanz und Qualität nicht isoliert erkennbar sind. Aber mag man diese Nicht-isoliert-Erkennbarkeit auffassen als eine räumliche Ungetrenntheit oder als eine zeitliche Ungetrenntheit oder als eine Wesens-Ungetrenntheit, in keinem Falle ist sie [unter den Voraussetzungen der Atomisten] zulässig. Soll sie eine räumliche Ungetrenntheit bedeuten, so widerspricht das ihren eigenen Voraussetzungen. Nämlich die Atomisten nehmen an, dass das durch die Fäden hervorgebrachte Gewebe die Stelle der Fäden einnimmt, nicht aber die Stelle des Gewebes. Bei den Qualitäten des Gewebes, z.B. der weissen Farbe u.s.w., hingegen nehmen sie an, dass diese die Stelle des Gewebes einnehmen, nicht aber die Stelle der Fäden. [Nur zwischen Fäden und Gewebe besteht die räumliche Ungetrenntheit, d.h. ein Austausch des Raumes, nicht zwischen den Fäden und der Farbe des Gewebes.] Und so sagen sie auch: »Substanzen bringen andere Substanzen hervor und Qualitäten andere Qualitäten« (Vaiç. 1, 1, 10), d.h. | die Fäden als ursächliche Substanzen bringen das Gewebe als bewirkte Substanz hervor, und die den Fäden angehörigen Qualitäten, die weisse Farbe u.s.w., bringen in der bewirkten Substanz, dem Gewebe, andere Qualitäten, weisse Farbe u.s.w., hervor; so nehmen sie selbst es an.[341] Diese ihre Annahme steht mit der Annahme einer räumlichen Ungetrenntheit [die sich, wie es scheint, unser Autor nur als einen Austausch des Raumes zu denken vermag] zwischen Substanz und Qualitäten in Widerspruch. Oder soll man unter der Nicht-isoliert-Erkennbarkeit eine zeitliche Ungetrenntheit verstehen? dann würde folgen, dass auch das linke und das rechte Horn einer Kuh [wegen ihrer Gleichzeitigkeit] nicht isoliert erkennbar seien. Soll endlich die Nicht-isoliert-Erkennbarkeit in einer Wesens-Ungetrenntheit bestehen, so folgt, dass die Qualitäten von der Substanz dem Wesen nach nicht verschieden sind, weil sie nur durch die Wesens-Einheit mit ihr [und nicht unabhängig von ihr wie die Atomisten wollen] aufgefasst werden. Und auch der Ausweg, dass die Verknüpfung isoliert Erkennbarer eine blosse Verbindung (saṃyoya), hingegen die Verknüpfung nicht isoliert Erkennbarer eine Inhärenz (samavâya) sei, ist ein vergeblicher, weil [zwischen Wirkung und Ursache Inhärenz besteht, somit Nicht-isoliert-Erkennbarkeit bestehen müsste, diese aber, d.h.] die Nicht-isoliert-Erkennbarkeit der Ursache, da dieselbe doch schon vor der Wirkung vorhanden war, unannehmbar ist (vgl. Vaiç. 7, 2, 13.) Oder soll diese Annahme nur für die eine Seite [die Wirkung] gelten, der Art dass die Inhärenz eine Verknüpfung der nicht-isoliert-erkennbaren Wirkung mit der Ursache sei? | Auch auf diese Weise ist die Verknüpfung der vorher noch nicht vorhandenen, noch nicht zur Wesenheit gelangten Wirkung mit der Ursache nicht möglich, weil eine Verknüpfung durch eine [schon vorhandene] Zweiheit bedingt wird. Meint ihr vielleicht, dass die Wirkung, erst nachdem sie entstanden, mit der Ursache verknüpft werde, so wird ein Sein der Wirkung vor der Verknüpfung mit der Ursache angenommen; damit ist aber die Nicht-isoliert-Erkennbarkeit aufgegeben, und die Behauptung, dass zwischen Wirkung und Ursache [notwendigerweise nur Inhärenz, und] nicht eine blosse [äusserliche] Verbindung und Trennung statthaben könne, wird hinfällig. Und [in der That], ebenso gut wie die Verknüpfung der eben erst entstandenen, noch nicht sich bethätigenden Wirkungssubstanz mit andern Substanzen, z.B. mit dem alldurchdringenden Raume, als eine blosse Verbindung (saṃyoga) und nicht als eine Inhärenz (samavâya) betrachtet wird, mit eben demselben Rechte braucht auch die Verknüpfung derselben mit der Ursach-Substanz nur eine Verbindung, nicht eine Inhärenz zu sein. – Mag man aber die Verknüpfung als Verbindung oder als Inhärenz auffassen, in keinem Falle lässt sich beweisen, dass die Verknüpfung unabhängig von den beiden Verknüpften eine Existenz habe [so dass sie der Substanz-Kategorie, die Verbindung unter der Qualitäten-Kategorie, die Inhärenz als besondere Kategorie, nebengeordnet werden dürfte]. Meint ihr vielleicht, weil Name und Vorstellung der Verbindung und der Inhärenz auch unabhängig von Name[342] und Vorstellung der verknüpften Dinge bestehe, | deswegen hätten sie [auch eine von ihnen unabhängige] Existenz? Gewiss nicht! Denn auch wo es sich um eine Einheit handelt, werden verschiedene Namen und Vorstellungen, je nach der Beziehung auf sich selbst oder auf die Aussendinge, gebraucht. So ist z.B. Devadatta einer und wird doch je nach der Beziehung zu sich selbst oder zu einem mit ihm Verknüpften verschiedener Namen und Vorstellungen teilhaftig, als Mensch, Brahmane, schriftkundig, freigebig, Kind, Jüngling, Greis, Vater, Bruder, Schwiegersohn; so ist z.B. ferner der Strich nur einer und wird doch dadurch, dass er seine Stelle wechselt, des Namens und der Vorstellung von eins, zehn, hundert, tausend u.s.w. teilhaftig. Ebenso steht es auch bei zwei Verknüpften; dass hier unabhängig von Name und Vorstellung der beiden Verknüpften der Name und die Vorstellung der Verbindung und der Inhärenz gebraucht werden, das beweist nicht, dass diese als für sich bestehende Wesenheiten existieren. Denn weil eine Nicht-Wahrnehmung die Merkmale einer Wahrnehmung erlangt, darum ist noch nicht das Sein eines neuen Dinges gegeben. Hierzu kommt, dass, wo es sich um zwei miteinander Verknüpfte handelt, Name und Vorstellung der Verknüpfung keine kontinuierliche Existenz besitzen, indem sie, wie vorher bemerkt, je nach der Beziehung auf sich selbst oder ein Aussending, wechseln.

Weiter ist zu bemerken, dass zwischen Atomen, Âtman und Manas, weil sie keine Ortsunterschiede besitzen, keine Verbindung (saṃyoga) | möglich ist; denn nur eine räumlich bestimmte Substanz kann mit einer andern räumlich bestimmten Substanz eine Verbindung eingehen. Meint ihr, dass die Ortsunterschiede zwischen Atomen, Âtman und Manas bloss angenommene zu sein brauchen, so geht das nicht; denn damit, dass man etwas, wenn es nicht vorhanden ist, annimmt, kann man alles Mögliche beweisen; und dafür, dass man nur diese oder jene nicht vorhandene, widersprechende oder nicht widersprechende Sache annehmen darf und nicht auch noch weiteres, giebt es keinen Grund eine Schranke zu ziehen; hierzu kommt, dass solche Annahmen nur auf sich selbst beruhen, und dass man ihrer eine grosse Menge machen kann [d.h. dass sie wohlfeil sind]. Und in der That, wenn die Vaiçeshika's sechs Kategorien annehmen, so ist nicht abzusehen, was uns hindert, noch weitere über dieselben hinaus, und wären es hundert oder tausend, anzunehmen. Beruft ihr euch auf Annahmen, nun dann ist wahr was nur irgend jemandem einfällt. Der eine, voll Mitleid für die lebenden Wesen, könnte annehmen, dass der Saṃsâra mit all seinen Leiden gar nicht vorhanden sei; ein anderer könnte in seiner Bosheit annehmen, dass auch die Erlösten wieder geboren werden, und niemand könnte beide daran hindern.[343]

Ferner: [wie soll man sich die Inhärenz (samavâya) vorstellen?] das gegliederte Doppelatom kann mit seinen beiden gliederlosen Atomen doch nicht so verflochten sein, wie [ein Körper] mit dem Raume; denn zwischen dem Raum und z.B. der Erde ist keine solche Verflechtung wie zwischen dem Leim | und dem Holze [wie sie hier notwendig sein würde]. Meint ihr deswegen, weil das Verhältnis zwischen den Substanzen der Wirkung und Ursache als dem Bedingten und der Bedingung anders nicht denkbar sei, müsse man notwendigerweise die Inhärenz zugeben, so bestreiten wir das, weil es ein Cirkelschluss ist. Aus der im voraus feststehenden Verschiedenheit von Wirkung und Ursache schliesst ihr auf das Verhältnis derselben als Bedingtes und Bedingendes, und aus ihrem Verhältnis als Bedingtes und Bedingendes schliesst ihr auf die Verschiedenheit der beiden, wobei, wie bei der Radwölbung und den Speichen, immer das eine durch das andere bedingt wird. Wir Anhänger des Vedânta hingegen nehmen weder die Verschiedenheit von Wirkung und Ursache, noch ihr Verhältnis als Bedingtes und Bedingendes an, weil wir die Wirkung nur für einen besonderen Zustand der Ursache ansehen.

Aber noch mehr. Die Atome sind räumlich begrenzt; folglich müssen sie, je nachdem man sechs, acht oder zehn Himmelsrichtungen annimmt, entsprechend viele Seiten und somit Glieder haben. Sind sie aber gegliedert, so können sie nicht ewig [unteilbar] sein, und somit wird die Annahme ihrer Ewigkeit und Gliederlosigkeit hinfällig. Behauptet ihr, dass dasjenige, was ich für Glieder halte, die durch die verschiedenen Himmelsrichtungen Verschiedenheit haben, eben die Atome selbst sind, so geht das nicht. Wenn man nämlich vom Groben zum Feinen und immer Feineren fortgeht, so ist alles, bis auf die letzte Ursache, vergänglich. Die Erde z.B. ist, weil sie im Vergleich mit den Doppelatomen u.s.w. das Gröbste ist, obwohl sie ein vorhandenes Ding ist, | doch vergänglich; ebenso muss das Feine und das noch Feinere, weil es mit der Erde gleicher Art ist, vergänglich sein; ebenso weiter das Doppelatom; in derselben Weise sind auch die Atome, weil auch sie mit der Erde gleichartig [d.h. einen Raum erfüllend] sind, vergänglich. Meint ihr, dass, wenn sie vergänglich sind, doch auch sie nur durch Zerlegung in ihre Teile vergehen können, so lassen wir das nicht gelten, weil, wie bereits bemerkt, ein Vergehen auch so denkbar ist wie das Schmilzen der Festigkeit der Butter. Wie nämlich bei Butter, Gold u.s.w. auch ohne Zerlegung in ihre Teile, durch Übergang in den flüssigen Zustand mittels der Wärme, eine Vernichtung der Festigkeit stattfindet, ebenso kann auch bei den Atomen durch Übergang in das Sein der letzten Ursache eine Vernichtung der Materialität u.s.w. stattfinden. In gleicher Weise braucht auch die Hervorbringung der Wirkung nicht notwendig als eine Verbindung von[344] Gliedern aufgefasst zu werden, indem z.B. die Milch und das Wasser auch ohne eine besondere Verbindung von Teilen die Wirkungen der sauren Milch und des Eises hervorbringen.

Weil also somit die Atomtheorie durch eine wenig stichhaltige Reflexion zusammengestoppelt ist, | weil sie der Schriftlehre von Gott als der Weltursache widerstreitet, und weil sie von Gelehrten, die sich der Schriftlehre zuneigen, wie Manu und anderen, nicht angenommen worden ist, deswegen braucht dieser Atomtheorie gar keine Beachtung geschenkt zu werden, von Ârya's, so muss man [das Sûtram] ergänzen, welchen es um ihr Seelenheil zu thun ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 340-345.
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