[330] 11. mahad-dîrgha-vad vâ hrasva-parimaṇḍalâbhyâm
[Die Welt entsteht aus dem Brahman, wie das Minimale und Kurze aus dem Kugelrunden] oder wie das Grosse und Lange aus dem Kurzen und [mittelbar] dem Kugelrunden.

Der Hergang ist nach der Meinung der Gegner folgender. Die Atome also verharren eine Zeit lang ohne die Weltwirkung hervorzubringen, | gestaltet wie es gerade kommt, in ihrer Umfangsform der Kugelrundheit. Eben dieselben bewirken nachmals, nachdem vorher das Unsichtbare (adṛishṭam) u.s.w. hinzugetreten ist, und sie dadurch der Verbindung teilhaft geworden sind, durch Vermittlung der Doppelatome u.s.w. die ganze Wirkungswelt, und hierbei erzeugen die Qualitäten der Ursache neue Qualitäten in der Wirkung. So z.B. wenn zwei Atome ein Doppelatom bilden,[330] so bewirken die speciellen Qualitäten des Aussehens u.s.w., z.B. die weisse Farbe, welche in den Atomen liegen, auss neue die weisse Farbe u.s.w. in den Doppelatomen. Hingegen die Kugelrundheit, obgleich auch sie eine specielle Qualität der Atome ist, bewirkt in dem Doppelatome nicht wiederum eine Kugelrundheit, indem, wie jene annehmen, das Doppelatom eine andere Umfangsform besitzt; für die Doppelatome nämlich nehmen sie als Umfangsformen die Minimalheit und die Kurzheit an. Wenn weiter zwei Doppelatome [nach Çankara's Darstellung der Sache] ein Quadrupelatom bilden, so sind auch dann wieder in gleicher Weise die den Doppelatomen | inhärierenden Qualitäten der weissen Farbe u.s.w. als Ursachen wirksam; hingegen die Minimalheit und die Kurzheit, obwohl auch sie den Doppelatomen inhärieren, sind nicht als Ursachen wirksam, indem das Quadrupelatom, wie die Atomisten annehmen, als Umfangsform die Grossheit und die Langheit besitzt. Ebenso liegt die Sache, wenn viele Atome, oder wenn viele Doppelatome, oder wenn ein Atom und ein Doppelatom miteinander verbunden eine Wirkung hervorbringen. Gerade so gut nun wie aus dem Atom, obwohl es kugelrund ist, das minimale und kurze Doppelatom und weiterhin das grosse und lange Tripelatom [aus einem Atom und einem Doppelatom, das Quadrupelatom aus zwei Doppelatomen] u.s.w. entspringt, nicht aber wiederum ein kugelrundes; – oder wie aus dem Doppelatom, obwohl es minimal und kurz ist, das grosse und lange Tripelatom entspringt, nicht aber wiederum ein Minimales oder Kurzes; – ebenso kann aus dem geistigen Brahman die nichtgeistige Welt entstehen, und ich möchte wohl wissen, worin denn bei dir, Atomist, die Sache anders [und weniger schwierig als bei uns] liegt. Oder meinst du vielleicht, weil die bewirkte Substanz, die Doppelatome u.s.w., mittels einer andern, [der Form der Atome] entgegengesetzten Umfangsform entsprängen, deswegen dürftest du annehmen, dass bei dir die in der Ursache liegende Kugelrundheit u.s.w. nicht wirkungskräftig sei; dass hingegen bei uns die Welt nicht erwachse mittels einer andern, dem Geistigen entgegengesetzten Qualität, | welche erlaubte anzunehmen, dass das Geistige der Ursache nicht ein anderes Geistiges in der Wirkung hervorzubringen brauche, indem in dem Ungeistigen [der Wirkung] keine Eigenschaft liege, welche ein Ungeistiges [der Ursache, ähnlich wie die Kurzheit u.s.w. die Kugelrundheit] ausschlösse, weil [in der Wirkung] nichts weiter als eine blosse Ausschliessung des Geistigen liege, – und dass deswegen die Entstehung aus dem Geistigen nicht vergleichbar mit der Entstehung aus der Kugelrundheit sei? [Mit andern Worten: beim Atomismus wird durch die Kurzheit u.s.w. der Wirkung die analoge Kugelrundheit u.s.w. der Ursache ausgelöst; darum braucht die Ursache nicht, wie die Wirkung kurz u.s.w. zu sein; beim Brahmanismus hingegen wird[331] durch die Ungeistigkeit der Wirkung kein analoges Äquivalent der Ursache ausgelöst; daher muss die Ursache, ebenso wie die Wirkung, ungeistig sein.] Aber das glaube nur ja nicht! Denn gerade so wie die Kugelrundheit u.s.w., obwohl sie in der Ursache liegt, doch nicht sich wirkend bethätigt, gerade so ist es auch mit dem Geistigen, so dass hierin die Annahme auf beiden Seiten eine gleichartige ist. Denn in dem Übergang des Kugelrunden in eine andere Umfangsform liegt kein Grund dafür, dass dasselbe sich nicht wirkend bethätigen sollte, weil vor der Bewirkung einer andern Umfangsform das Kugelrunde u.s.w. als das Bewirkende vorausgesetzt wurde. Nehmt ihr ja doch sogar an, dass die bewirkte Substanz vor dem Entstehen ihrer Qualitäten einen Moment qualitätlos sein müsse. Auch sind bei der Bewirkung der neuen Umfangsform die Kugelrundheit u.s.w. nicht etwa anderweit in Anspruch genommen, so dass sie deswegen eine ihnen gleichartige neue Umfangsform nicht hervorbringen könnten, und man für die neue Umfangsform eine andere Ursache annehmen dürfte. | Denn es heisst in den Sûtra's des Kaṇâda: »durch die Vielheit der Ursache, durch die Grossheit der Ursache und durch die specielle Anhäufung entsteht das Grosse« (vgl. Vaiç. 7, 1, 9); – »dem entgegengesetzt ist das Minimale« (Vaiç. 7, 1, 10); – »damit sind die Langheit und die Kurzheit erklärt« (Vaiç. 7, 1, 17.) Auch kann man nicht behaupten, dass wegen des Vorzuges besonderer Nähe die Vielheit der Ursache wirksam sein sollte, nicht aber ihre Kugelrundheit u.s.w.; denn wo es sich um die Bewirkung einer neuen Substanz oder einer neuen Qualität handelt, da sind alle Qualitäten der Ursache ohne Unterschied ihrem Substrate in gleicher Weise inhärierend. Somit ist die Kugelrundheit u.s.w. nur wegen ihrer eigenen Natur nicht bewirkend thätig, und ebenso steht es mit der Geistigkeit. Weil man also sieht, dass durch die Verbindung wesensverschiedene Substanzen entstehen, so ist nicht zuzugeben, dass das Entstehen nur aus Gleichartigem statthaft sei. Meint ihr, wo es sich um eine Substanz handle, da dürfe man sich nicht auf die Qualitäten berufen, so bestreiten wir das, weil es bei unserem Vergleiche nur darauf ankommt, dass ein Wesensverschiedenes Ursache sein kann. Auch ist kein Grund vorhanden, als Regel aufzustellen, dass man sich bei Substanzen nur auf Substanzen, bei Qualitäten nur auf Qualitäten berufen dürfe. Denn der Verfasser eurer Sûtra's selbst beruft sich bei einer Substanz | auf eine Qualität, wenn er sagt: »weil die Verbindung von Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem unwahrnehmbar sein würde, kann er [der Leib] nicht aus den fünf Elementen bestehen« (Vaiç. 4, 2, 2); d.h. ebenso wie bei Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem, bei Erde und Äther (Raum), die sie inhärierend habende Verbindung unwahrnehmbar ist, ebenso müsste der Leib, wenn er die fünf teils wahrnehmbaren, teils unwahrnehmbaren[332] Elemente inhärierend hätte, unwahrnehmbar sein; nun ist aber der Leib wahrnehmbar; folglich besteht er nicht aus den fünf Elementen. In diesem Argumente ist die Verbindung eine Qualität und der [mit ihr verglichene] Leib eine Substanz. – Übrigens haben wir das Hervorgehen aus Wesensverschiedenem schon an der Stelle »vielmehr zeigt die Erfahrung« (Sûtram 2, 1, 6) erklärt. – ›Aber war damit nicht auch schon das Gegenwärtige erledigt‹? – Doch nicht! denn dort bekämpften wir die Sâ khya's, hier aber die Vaiçeshika's. – ›Aber wurde nicht wegen der Gleichartigkeit schon auch auf diese hingewiesen durch die Worte: »damit sind auch die von den Gelehrten nicht angenommenen besprochen«‹ (Sûtram 2, 1, 12)? – Schon recht! aber eben dieses wurde hier zu Eingang der Prüfung der Vaiçeshika's durch ein ihren eigenen Aufstellungen entnommenes Beispiel näher ausgeführt.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 330-333.
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