Angeborene Ideen

[125] Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu. – –

»Es ist in unserm Verstande nichts, was nicht eingezogen wäre durch das Tor der Sinne.« – »Der denkende Mensch ist die Summe seiner Sinne.«

Moleschott


Die Frage, ob es angeborene Anschauungen, Ideen, idées innées (Voltaire), innate ideas (Locke) geben könne, ist eine alte und nach unsrer Ansicht eine der wichtigsten philosophischer Naturbetrachtung. Sie entscheidet zum Teil darüber, ob der Mensch, Produkt einer höheren Welt, Gestalt und Umfang dieses Daseins nur als etwas seinem innersten Wesen Fremdes und Äußerliches empfangen hat, mit der Tendenz, die irdische Hülle abzuschütteln und zu seinem geistigen Ursprung zurückzukehren, oder ob derselbe seinem geistigen sowohl wie seinem körperlichen Wesen nach mit der Welt, die ihn erzeugt und empfangen hat, in einem notwendigen, untrennbaren Zusammenhang steht, und ob er sein eigenstes Wesen von dieser Welt selbst in einer Weise empfangen hat, daß es nicht von ihr losgerissen werden kann, ohne damit zugleich sich selbst aufzugeben – ähnlich der Pflanze, welche ohne ihren mütterlichen Boden nicht sein kann. Die Frage ist zugleich eine solche, welche nicht in allgemeinen philosophischen, nicht zu zerstreuenden Nebeln verschwimmt, sondern welche, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, Fleisch und Bein hat und auf Grund empirischer Tatsachen und ohne Wortgeklingel erörtert und entschieden werden kann. Deswegen sind es auch hauptsächlich die Engländer[125] und Franzosen gewesen, welche diese Frage aufwarfen und diskutierten, denn Geist und Sprache dieser Nationen erlaubt nicht jene nichtssagende Spielerei mit Begriffen und Worten, welche die Deutschen »Philosophie« nennen, und durch welche sie sich fälschlicherweise berechtigt glauben, andere Nationen über die Achsel anzusehen. Was man die »Tiefe des deutschen Geistes« nennt, schien uns stets mehr eine Unklarheit des geistigen Wassers, als eine wirkliche Unergründlichkeit zu sein. Man hat oft, und gewiß mit Recht, den Rat gegeben, die philosophischen Werke der Deutschen in eine fremde Sprache zu übersetzen, um sie vom unnötigen und unverständlichen Anhängsel zu befreien; ich glaube, es würde bei dieser Feuerprobe das meiste auf dem Sieb liegenbleiben. Nichts ist widerlicher, als jene anscheinend tiefgelehrte philosophische Renommisterei, welche sich mit Hohlheit brüstet, und welche glücklicherweise in unsern Tagen einen mächtigen Damm in dem festen und von tausend Erfolgen gekrönten Auftreten der empirischen Wissenschaften gefunden hat. Nach dem Vorbeizug jener kurzen Glanzperiode Hegelscher Offenbarung und Modephilosophie schleichen unsre deutschen Philosophen heute ziemlich betrübt einher und müssen es sich gefallen lassen, daß man sie entweder gar nicht oder nur mit halben Ohren hört. – Der französische Philosoph Descartes nahm an, die Seele komme mit allen möglichen Kenntnissen ausgerüstet in den Körper und vergesse sie nur wieder, indem sie aus dem mütterlichen Körper trete, um sich später nach und nach an dieselben zurückzuerinnern. Der Engländer Locke erhob sich gegen diese Ansicht und vernichtete mit siegreichen Waffen die Lehre von den angebornen Ideen. Auf Grund deutlich redender Tatsachen nehmen wir keinen Anstand, uns gegen die angebornen[126] Ideen zu erklären. Moleschott nennt den Menschen ein Produkt seiner Sinne, und in der Tat lehrt eine unbefangene Beobachtung, daß alles, was wir wissen, denken, empfinden, nur eine geistige Reproduktion dessen ist, was wir oder andere Menschen vor uns auf dem Wege der Sinne von außen empfangen haben. Irgendwelche Kenntnis, welche über die uns umgebende und unsern Sinnen zugängliche Welt hinausreichte, irgendwelches übernatürliche, absolute Wissen ist unmöglich und nicht vorhanden. Es ist die alltäglichste Erfahrung, daß der Mensch erst mit der allmählichen Entwicklung seiner Sinne und in dem Maße, als er sich durch dieselben in eine bestimmte Relation zur Außenwelt setzt, geistig zu leben beginnt, und daß die Entwicklung dieses seines geistigen Wesensgleichen Schritt mit der Entwicklung seiner Sinn- und Denkorgane, sowie mit der Zahl und Bedeutung der empfangenen Eindrücke hält. Das neugeborne Kind denkt so wenig, hat so wenig eine Seele, wie das ungeborne; es ist nach unsrer Ansicht nur körperlich lebend, aber geistig tot. Aus einem unscheinbaren, kaum mit bewaffnetem Auge zu unterscheidenden Bläschen entwickelt sich der Mensch oder das Tier überhaupt im mütterlichen Körper nach und nach zu Gestalt und Größe. Zu einer gewissen Größe gelangt, kann sich die Frucht im Mutterleibe bewegen, aber diese Bewegungen sind keine durch seelische Aktion veranlaßten, sondern unwillkürliche; die Frucht denkt, empfindet nichts, weiß nichts von sich selbst. Keine Spur einer Erinnerung dieses Zustandes, in welchem die Sinne untätig oder unentwickelt sind, begleitet jemals den Menschen in sein späteres Leben, so wenig wie aus der ersten Zeit seines vom mütterlichen Körper getrennten selbständigen Daseins, und diese vollkommene Erinnerungslosigkeit[127] beweist für sein damaliges geistiges Nichtsein. Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß während des Fruchtzustandes die Eindrücke von außen gänzlich fehlen und in der ersten Zeit nach demselben so mangelhaft sind, daß der geistige Mensch dabei nicht bestehen kann. Es ist äußerst interessant, den fast komischen wissenschaftlichen Streit zu betrachten, welcher über den Zeitpunkt der sogenannten Beseelung der menschlichen Frucht geführt worden ist, ein Streit, der von dem Momente an praktisch wichtig wurde, als man die Tötung einer ungebornen Frucht als ein moralisches und juristisches Verbrechen anzusehen begann. Es handelte sich darum zu wissen, um welche Zeit in der menschlichen Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die persönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erst nach diesem Zeitpunkte an der Frucht als an einem beseelten Wesen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wissenschaftliche und logische Unmöglichkeit, diesen Zeitpunkt zu bestimmen, beweist für die Verkehrtheit und Unwahrheit jener ganzen Anschauungsweise, nach welcher eine höhere Macht dem Fötus Geist und Seele einbläst. Die römischen Juristen gingen allein von der richtigen Ansicht aus, indem sie die Frucht überhaupt nicht als ein besonderes Wesen betrachteten, sondern nur als einen Teil des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem Belieben angehört. Daher war das Fruchttöten bei den römischen Frauen gesetzlich und sittlich erlaubt, und schon Plato und Aristoteles sprachen sich für diese Sitte aus. Die Stoiker nahmen an, das Kind erhalte erst mit dem Atmen eine Seele. Erst unter Ulpian erfolgte ein Verbot der Fruchttötung. Das Justinianäische Gesetzbuch nimmt den vierzigsten Tag nach der Empfängnis als den Zeitpunkt der Beseelung der Frucht an! Die neueren[128] Rechtslehrer erachten Empfängnis, Beseelung und Belebung als gleichzeitig erfolgend – eine Ansicht, die sich mit naturwissenschaftlichen Daten nicht in Einklang bringen läßt. In nichtchristlichen Ländern weiß man nichts von einer beseelten Frucht. Nach den Berichten von Williams ist das Fruchttöten auf Madagaskar ganz gewöhnlich, ebenso die Kindertötung. Das nämliche geschieht auf Otahaiti. In ganz China und auf den Gesellschaftsinseln ist es sehr gewöhnlich. – Nur ein mit den Tatsachen im Widerspruch stehender Glaube kann eine wirkliche Beseelung der Frucht im Mutterleibe für möglich halten; kein einziges Zeichen, keine Äußerung, keine Erinnerung verrät eine solche.

Auch mit dem Geborenwerden, mit der Lostrennung des kindlichen Körpers vom mütterlichen, ist es nicht möglich, daß irgendeine fertige, zum voraus auf diesen Zeitpunkt lauernde Seele herzustürze und Besitz von der neuen Wohnung nehme, sondern diese Seele entwickelt sich erst nach und nach und sehr langsam infolge der Beziehungen, welche nun durch die erwachenden Sinne zwischen dem Individuum und der Außenwelt gesetzt werden. Wohl ist es möglich, sogar wahrscheinlich, daß schon im Mutterleibe die körperliche Organisation des neuen Individuums gewisse Anlagen, Prädispositionen bedinge, welche sich später, sobald die Eindrücke von außen hinzukommen, zu geistigen Qualitäten, Eigentümlichkeiten usw. entwickeln; niemals aber kann eine geistige Vorstellung, Idee, oder irgendein geistiges Wissen an sich angeboren sein. Die weitere Entwicklung des kindlichen Geistes nun auf sensualistischem Wege und nach Maßgabe von Lehre, Erziehung, Beispiel usw., immer unter notwendigem Bedingtsein durch körperliche Organisation und Anlagen, spricht zu deutlich und unabweisbar für die[129] objektive Entstehungsweise der Seele, als daß daran irgendwie durch theoretische Bedenken gemäkelt werden konnte. Indem die Sinne an Stärke und Übung gewinnen, indem sich die äußeren Eindrücke häufen und wiederholen, gestaltet sich langsam nach und nach ein innerliches Bild der äußeren Welt auf dem materiellen Grunde des der Denkfunktion vorstehenden Organs, gestalten sich Vorstellungen und Begriffe. Ein langer und schwieriger Zeitraum muß vergehen, bis der Mensch zum vollen Selbstbewußtsein erwacht ist. Dieses Allmähliche und Sprunglose, zum Teil Unbewußte seines geistigen Wachstums verleitet nachher den im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte Befindlichen, seinen Ursprung zu vergessen, seine Mutter, die Welt, zu verachten und sich als den unmittelbaren Sohn des Himmels anzusehen, dem die Erkenntnis als ein geistiges Geschenk von oben herab verliehen worden ist. Aber ein unbefangener Blick auf seine Vergangenheit, sowie auf jene Unglücklichen, denen die Natur einen oder mehrere ihrer Sinne geraubt hat, kann ihn eines andern belehren. Was weiß ein Blindgeborener von den Farben, von dem Licht, von dem ganzen glänzenden Schein der Welt? Für ihn ist Nacht und Dunkel der normale Zustand des Daseins, ähnlich jenen niedersten Tieren, welche der Augen entbehren. Was weiß ein Taubgeborener von den Tönen, von Sprachen, Melodien, Musik? Für ihn ist die Welt ewig still, und er steht in diesem Punkt auf gleicher geistiger Stufe mit der Stubenfliege, welche des Gehörorgans entbehrt und von keinem Lärm erschreckt wird. Taubstumme sind arme unglückliche Geschöpfe, welche nur mit äußerster Mühe und Langsamkeit zu einem einigermaßen menschenähnlichen geistigen Zustand erzogen werden können. Hirzel erzählt von dem 18jährigen Taubstummen Meystre, [130] der sehr große Anlagen hatte, daß es unendliche Mühe kostete, ihm den Gebrauch der Sprache bemerklich zu machen. Meystre lernte zuerst das Wort Ami aussprechen, welches zugleich der Taufname eines Blinden der Anstalt war. Sooft er nun das Wort aussprach, mußte der Blinde zu ihm kommen. Mit großer Überraschung bemerkte das Meystre und entdeckte auf diese Weise, daß man mit Hilfe der Sprache sich aus einiger Entfernung verständigen könne. Von Gott hatte Meystre keine Idee und verwechselte, als man ihm den Begriff deutlich zu machen suchte, stets Gott und die Sonne miteinander. Von allen zivilisierten Gesetzgebungen werden daher Taubstumme wegen der Schwäche ihrer geistigen Fähigkeiten für unfrei und unzurechnungsfähig erklärt. – Nicht selten lesen wir in den Zeitungen von dem elenden, vollkommen tierischen Zustand jener unglücklichen Geschöpfe, welche Habsucht oder Barbarei als Kinder in dunkle oder abgeschlossene Räume eingesperrt und dort außerhalb der menschlichen Gesellschaft und ohne jede geistige Anregung verborgen gehalten hat. Das körperliche und geistige Leben solcher Wesen ist ein bloßer Vegetationszustand, kein menschlich entwickeltes Dasein, und die allgemeinen sowohl wie speziellen Begriffe dieses Daseins gehen ihnen ab. Wo bleibt denn nun, wenn vorhanden, bei solchen Geschöpfen der gottgeborene Geist? Warum entwickelt er sich nicht trotz der hemmenden äußeren Verhältnisse durch seine eigene Kraft und trägt den Sieg über die Natur davon? Dem bekannten Caspar Hauser konnte man den Begriff eines Pferdes nicht deutlich machen. Sobald man das Wort aussprach, dachte er an sein kleines hölzernes, ein Pferd vorstellendes Spielzeug, welches er während seiner Gefangenschaft gehabt hatte, und war nicht imstande, mit diesem[131] Wort eine andere als gerade diese Vorstellung zu verbinden. – Man denke sich einen Menschen, dem von Geburt aus alle Sinne fehlten! Wäre es möglich, daß in ihm irgendwelche Idee, irgendwelche Vorstellung oder geistige Fähigkeit zur Entwicklung käme? Gewiß nicht. Er würde, künstlich genährt und auferzogen, nur körperlich vegetieren, ungefähr in derselben Weise wie jene von Flourens des Gehirns beraubten Tiere. Ganz entsprechende Beobachtungen sind an solchen Menschen gemacht worden, welche seit ihrer frühesten Kindheit fern von der menschlichen Gesellschaft unter Tieren, in Wäldern usw. aufgewachsen sind. Sie lebten und ernährten sich auf tierische Weise, hatten keine andere geistige Empfindung als die des Nahrungsbedürfnisses, konnten nicht reden und zeigten keine Spur jenes »göttlichen Funkens«, welcher dem Menschen »angeboren« sein soll. – Auch die Tierwelt gibt uns deutliche Beweise gegen die angeborenen Anschauungen, obgleich man gerade den sogenannten Instinkt der Tiere als Beweis dafür hat gelten lassen wollen. In einem späteren Kapitel werden wir darzutun versuchen, daß es einen Instinkt in dem gewöhnlich angenommenen Sinne als unmittelbarer, unwiderstehlicher Naturtrieb nicht gibt, sondern daß die Tiere ebenso wie die Menschen denken, lernen, erkennen und überlegen, nur in quantitativ weit geringerem Grade. Die Tiere lernen und bilden sich ebensowohl durch den Einfluß der Umgebung, der Eltern usw., wie der Mensch, wenn ihnen auch dabei die angeborene körperliche Anlage zur Entwicklung gewisser geistiger Qualitäten noch mehr als diesem zustatten kommen mag. Jagdhunde, die im Hause erzogen werden, zeigen keine Spur jener starken Neigung zum Jagen, die ihnen sonst in so hohem Grade eigen ist. Reißende Tiere werden erst dann begierig[132] nach Fleisch, wenn sie es einmal gekostet haben, wie man dieses an Hauskatzen beobachten kann. Zahme Tiere ändern ihren Charakter gänzlich in der Wildnis, und umgekehrt werden wilde Tiere in der Gefangenschaft zahm und zutunlich. Die Nachtigall singt nicht, wenn man sie einsam auferzieht; sie lernt das Singen erst von andern Vögeln. Man hat beobachtet, daß dieselben Vögel, z.B. Finken, ganz verschiedene Singweisen in verschiedenen Ländern besitzen. Von der Biene pflegt man anzunehmen, die Idee der sechsseitigen Zelle sei ihr derart angeboren, daß sie gezwungen sei, dieselbe zu bauen. Aber die Biene baut auch mitunter Zellen, welche eine andere Form haben, und wenn man ihr einen Bienenkorb mit künstlichem Zellensystem hinstellt, so hat sie soviel Verstand und sowenig Instinkt, daß sie das Zellenbauen unterläßt und ihren Honig in die fertigen Zellen trägt! usw. Man hat auch noch die Tiere in dem Sinne für die Lehre von den angeborenen Ideen zu benützen versucht, daß man sagte, die Tiere besitzen ebenfalls Sinne wie der Mensch, oft noch bedeutend schärfere, und sind dennoch nur Tiere. Dieser Einwand hat nur eine scheinbare Begründung. Die Sinne sind nicht die unmittelbaren Erzeuger, sondern nur die Vermittler der geistigen Qualitäten; sie führen die äußeren Eindrücke dem Gehirn zu, welches dieselben aufnimmt und nach Maßgabe seiner materiellen Energie verarbeitet und reproduziert; ohne Sinne kann dieser ganze Prozeß nicht vor sich gehen, und es stammt daher alle geistige Erkenntnis zunächst aus der Quelle der Sinne; aber auch mit den schärfsten Sinnen muß dieser Prozeß nur mangelhaft vor sich gehen, wo der Denkapparat mangelhaft organisiert ist. Über das Verhältnis des tierischen Gehirns zu dem menschlichen aber haben wir uns bereits hinlänglich verbreitet.[133] Es gibt angeborene Anlagen, abhängig von der verschieden qualifizierten Materialität der tierischen Organisation, aber keine angeborenen Anschauungen oder Ideen. Auch jene Anlagen bleiben ewig ohne Realität, ohne Entwicklung, sobald die Sinne fehlen; diese sind ebenso notwendig zur Entstehung der Idee, wie ein chemischer Körpernot wendig ist, um mit einem andern Körper eine chemische Verbindung, ein Drittes, zu bilden. – Welche unendlichen geistigen Verschiedenheiten werden unter den einzelnen Menschen selbst durch die verschiedenartige Menge und Beschaffenheit der äußeren Eindrücke bedingt! Wie hoch steht der Gelehrte, der geistig Gebildete über dem Ungebildeten oder Unwissenden! Je zahlreicher unsere äußeren Anschauungen sind, um so reicher ist auch die Welt unserer Gedanken, um so umfassender unser geistiger Gesichtspunkt.

Man hat, um die sensualistische Lehre zu widerlegen, auf die Existenz gewisser allgemeiner geistiger Ideen aufmerksam gemacht, welche sich im Leben der Einzelnen wie der Völker mit solcher Gewalt, Bestimmtheit und Allgemeinheit geltend machen sollen, daß an ein Entstehen derselben auf empirischem Wege nicht zu denken, dagegen anzunehmen sei, daß dieselben der menschlichen Natur als solcher ursprünglich eingepflanzt seien. Dahin seien vor allem die metaphysischen, ästhetischen und moralischen Begriffe, also die Ideen des Wahren, des Guten und des Schönen zu rechnen. Man beobachtet, sagt man, daß schon das Gemüt des Knaben sich beim Anblick eines Unrechts mit einer Stärke empört, die von der Kraft seiner inneren Gefühle zeugt, und sein Gefallen am Schönen zeigt sich schon zu einer Zeit, wo er noch nicht imstande ist, selbständige Vergleichungen anzustellen. – Dagegen läßt sich folgendes sagen: Vor[134] allem ist zu bedenken, daß das, was man Idee überhaupt nennt, nicht Erwerbung jedes einzelnen Individuums ist, sondern eine während langer Zeiträume und durch mühsame geistige Kämpfe gemachte Eroberung des ganzen menschlichen Geschlechts. Die Idee entsteht, indem der Mensch aus der ihn umgebenden objektiven Welt das dem einzelnen Gemeinsame herausliest, sich daraus eine sogenannte ideelle Gestalt bildet und derselben nun das Prädikat von Wahr, Schön oder Gut beilegt. Dieser geistige Prozeß aber vollendet sich schon in andauernder Weise seit jener Zeit, in welcher das Menschengeschlecht in die historische Zeit eingetreten ist, die Idee erhält dadurch nach und nach ein gewisses historisches Recht und objektive Gestaltung, und der Einzelne, welcher in der Zeit erscheint, hat nicht mehr nötig, denselben geistigen Prozeß von vorne in sich durchzumachen, sondern nur das bereits Vorhandene in sich aufzunehmen. Ohne einen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der Idee mag es ihm nun scheinen, als müsse dieselbe angeboren sein. Aber niemals wäre die Idee imstande gewesen, sich in historischer Zeit zu entwickeln ohne jene bestimmte Beziehung der objektiven Welt zu dem Anschauungsvermögen des Individuums. »Die Idee«, sagt Oersted, »ist demnach die anschauende Einheit von Gedanken; sie ist von der Vernunft aufgefaßt worden, aber als Anschauung.« Was überhaupt der menschliche Verstand des weiteren mit den ihm als Individuum bald unmittelbar durch seine eigenen Sinne, bald durch die geistige Anschauung des in historischer Zeit vor ihm Geschehenen und Erkannten anfangen, wie er dieses Material in sich verarbeiten, kombinieren, zu allgemeinen Schlußfolgerungen benützen, ja daraus Wissenschaften, wie z.B. die Mathematik, aufbauen mag, dies ist seine Sache und zunächst[135] unabhängig von den sensualistischen Eindrücken; aber diese Eindrücke waren das einzige und alleinige Mittel, welches ihm überhaupt jenes Material zur Verarbeitung liefern konnte; eine angeborene, unmittelbare Erkenntnis hat er nie besessen. Oersted setzt die geschichtliche Entstehungsweise der Idee so auseinander. Er sagt: »... dabei konnte es nicht anders sein, als daß der Mensch bei seinen Nebengeschöpfen ein geistiges Wesen wie das seinige voraussetzen mußte; das eigene Wesen trat ihm, von außen kommend, wieder entgegen usw. – Erweckte der eine Mensch angenehme Gefühle in dem andern, so entstand Liebe, umgekehrt Haß. Durch solche Einwirkungen konnte auch ein erster Anfang zu der Vorstellung von einem Etwas in den Handlungen der Menschen entstehen, das zu billigen oder zu verwerfen war, und dieser geringe Anfang wurde das verborgene Saatkorn zu dem Begriffe von Recht und Unrecht.« – Weiter ist folgendes zu bemerken: Wären die ästhetischen, moralischen oder metaphysischen Begriffe angeboren, so müßten sie natürlich auch überall eine vollkommene Gleichförmigkeit besitzen, sie müßten identisch sein; sie müßten einen absoluten Wert, eine absolute Geltung haben. In der Tat aber sehen wir, daß dieselben im höchsten Grade relativ sind, und daß sie sowohl bei Einzelnen als bei Völkern und zu verschiedenen Zeiten die allergrößten Verschiedenheiten zeigen – Verschiedenheiten, welche manchmal so groß werden, daß geradezu Entgegengesetztes entsteht, und welche ihre Entstehung nur der Verschiedenheit der äußeren Eindrücke verdanken können. Der Weiße malt den Teufel schwarz, der Neger malt ihn weiß. Wilde Völkerschaften verzieren sich durch Ringe in den Nasen, Bemalung und dergleichen in einer Weise, welche unserem Geschmack[136] verabscheuungswürdig häßlich vorkommt. Überhaupt kann es für das Unstete und Wechselnde, für das Relative in den ästhetischen Begriffen keinen augenfälligeren Beweis geben, als die sogenannte Mode, welche sich bekanntlich oft in den entgegengesetztesten Dingen gefällt. Es geht uns mit den Schönheitsbegriffen ähnlich wie mit den Begriffen der Zweckmäßigkeit. Wir finden etwas schön oder zweckmäßig, weil es einmal so da ist, und würden es höchstwahrscheinlich nicht minder schön und nicht minder zweckmäßig finden, wenn es ganz anders wäre. Die Griechen, dieses ästhetisch so hochgebildete Volk, vermischten in ihrer Idee und in ihren Bildwerken Menschen- und Tiergestalten in wunderlicher Weise miteinander, während wir dies heute unschön oder herabwürdigend finden. Griechen und Römer wußten wenig oder nichts von den Schönheiten der Natur, welche wir heute so sehr bewundern; und die ländlichen Bewohner schöner Gebirgsgegenden haben meist keine Ahnung von den Schönheiten, von welchen sie umgeben sind. Die Chinesen finden es allerliebst, wenn eine Frau möglichst dick ist und so kleine Füße hat, daß sie nicht gehen kann. Diese Beispiele gründlicher Verschiedenheit ästhetischer Begriffe ließen sich beliebig häufen. Gibt es etwas Gemeinsames in diesen Begriffen, so ist es Folge der Erfahrung und Erziehung, abstrahiert aus der objektiven Welt und mit Notwendigkeit an diese anlehnend. – Nicht minder sind die moralischen Begriffe mit Recht als Folge allmählicher Erudition anzusehen. Völker im Naturzustand begehen Grausamkeiten und Velleitäten, für die gebildete Nationen keinen Begriff haben, und zwar finden Freund und Feind solches Benehmen in der Ordnung. Bei den Indianern gilt ein gut ausgeführter Diebstahl für das höchste Verdienst, und in Indien[137] gibt es eine schreckliche und bekannte Verbindung, die den heimlichen Mord zu religiösen Zwecken ausübt. Das Heidentum pries den Haß der Feinde als höchste Tugend, das Christentum verlangt Liebe auch für den Feind (Moleschott). Welches von beiden ist nun moralisch? Den beinahe gänzlichen Mangel aller moralischen Eigenschaften bei den Negern haben wir schon in einem früheren Kapitel geschildert. Auch bei den zivilisierten Nationen sind die moralischen Begriffe äußerst verschieden und relativ. Der Staat, die Gesellschaft brandmarkt oft etwas als Verbrechen, das man moralisch als eine Großtat ansieht. Überhaupt ist jener ganze tiefgreifende Unterschied zwischen »juristisch« und »moralisch« Folge äußerer Verhältnisse und der beste Beweis dafür, daß die Idee des Guten keinen absoluten Wert besitzt. Die meisten Verbrechen, welche begangen werden, werden von Angehörigen niederer Stände verübt und sind fast jedesmal nachweisbare Folge mangelhafter Erziehung und Bildung oder angeborener Schwachheit der intellektuellen Kräfte. Die ganze moralische Natur des Menschen hängt aufs innigste mit seinen äußeren Verhältnissen zusammen. Je höher die Kultur steigt, desto mehr erhebt sich die Sittlichkeit und mindern sich die Verbrechen. »Ein Blick auf die Kulturgeschichte der Völker«, sagt Krahmer, »belehrt uns, daß man zu allen Zeiten sehr verschieden über Tugend, Gott oder Recht gedacht hat, ohne darum seiner vernünftigen Bildung verlustig gegangen zu sein.« – Noch mehr verdankt endlich der Begriff des Wahren dem Fortschritt der Wissenschaften seine Entstehung und allmähliche Ausbildung, und wenn die Gesetze des Denkens unter Umständen eine gewisse unabänderliche Notwendigkeit zeigen, so verhalten sie sich analog den Naturgesetzen überhaupt und[138] sind abhängig von gewissen faktisch feststehenden Verhältnissen. So beruht die ganze Mathematik auf faktischen, greifbaren, objektiven Verhältnissen, ohne deren Dasein auch mathematische Gesetze unmöglich wären. Zahlen sind keine absoluten Begriffe, sondern nur willkürliche Bezeichnungen für einen oder mehrere Gegenstände. Die wilden Neger in Sumatra können nicht weiter zählen, als bis zu der Zahl zwanzig, wozu sie ihre Finger und Fußzehen als Anhaltspunkte nehmen und sogar deren Namen zur Bezeichnung jener Zahlen gebrauchen. Alles, was über die zwanzig Finger und Zehen hinausgeht, ist für sie nicht mehr zählbar und heißt »Wiriwiri« oder »Viel«. – Ein eigentlich metaphysisches oder transzendentes Wissen aber gibt es gar nicht, und alle metaphysischen, noch so sein ausgedachten Systeme sind im Laufe der Zeiten zuschanden geworden. – Was die Beziehung auf das oft augenfällige Hervortreten allgemeiner Begriffe im Leben der Kinder angeht, so muß vollkommen abgeleugnet werden, daß ein solches Hervortreten unter Umständen stattfindet, wo die Einflüsse der Erziehung und äußerer Einwirkungen gänzlich fehlen. Der Sinn für Recht kann sich im Knaben nur da entwickeln, wo die Gemeinsamkeit mit andern ihm erlaubt, Vergleichungen anzustellen und einzelne Rechtssphären abzugrenzen; ebensowenig hat sein Gefallen am Schönen den Wert irgendeiner angeborenen Anschauung. Im Gegenteil äußern Kinder oft einen sehr sonderbaren und für Erwachsene lächerlichen Geschmack; sie wissen nicht oder nur schwer zwischen mein und dein zu unterscheiden, haben keinen Begriff von dem Unrecht, welches in der Lüge oder im Diebstahl liegt, ja zeigen keine Spur jener geistigen Qualität, welche später mit so großer Gewalt hervortritt, der Schamhaftigkeit. Erst nach Erreichung[139] eines bestimmten und ziemlich hohen Alters erkennt der Staat eine persönliche Zurechnungsfähigkeit an – Beweis genug dafür, daß man dem Kinde keine angeborene Rechtsidee zutraut. Dasselbe Verhalten, wie bei Kindern, dieselbe moralische Unzurechnungsfähigkeit, Schamlosigkeit usw. sehen wir bei wilden, unerzogenen Völkern. Der Sinn für Schönheit, für Recht und Wahres, obgleich er sich am Ende jedem mit einer gewissen Notwendigkeit und bis zu einem gewissen Grade aus der objektiven Welt heraus aufdrängt, kann und muß doch geübt werden, um Kraft und Geltung zu erlangen. Wie anders überlegt und schließt der ans Denken gewöhnte Gelehrte, als derjenige, der sich nur mit körperlichen Arbeiten beschäftigt! Wie ganz anders erglüht der vom Leben gewiegte und am Busen der Geschichte großgezogene Mann für Recht und Gerechtigkeit, als der einem unbestimmten und noch unklaren inneren Drang folgende Jüngling! Wie anders urteilt der Kenner über Schönheit, als der Laie! – Wie eine Pflanze im Boden, so wurzeln wir mit unserm Wissen, Denken, Empfinden in der objektiven Welt, darüber hinaus die Blütenkrone der Idee tragend; aber herausgerissen aus diesem Boden müssen wir gleich der Pflanze verwelken und sterben.

Aus allem diesen geht hervor und steht damit im innigsten Zusammenhang, daß wir keine Wissenschaft, keine Vorstellung vom Absoluten, d.h. von dem haben können, was über die uns umgebende sinnliche Welt hinausgeht. So sehr die Herrn Metaphysiker vergeblich sich bemühen mögen, das Absolute zu definieren, so sehr die Religion streben mag, durch Annahme unmittelbarer Offenbarung den Glauben an das Absolute zu erwecken, nichts kann diesen innern Mangel verdecken. All unser Wissen und Vorstellen ist[140] relativ und geht nur aus einer gegenseitigen Vergleichung der uns umgebenden sinnlichen Dinge hervor. Wir hätten keinen Begriff vom Dunkel ohne das Licht, keine Ahnung von hoch ohne niedrig, von warm ohne kalt usw.; absolute Ideen besitzen wir nicht. Wir sind nicht imstande, uns einen auch nur entfernten Begriff von »ewig« oder »unendlich« zu machen, weil unser Verstand in seiner sinnlichen Begrenzung durch Raum und Zeit eine unübersteigliche Grenze für jene Vorstellung findet. Weil wir in der sinnlichen Welt gewohnt sind, überall, wo wir eine Wirkung sehen, auch eine Ursache zu finden, haben wir fälschlich auf die Existenz einer höchsten Ursache aller Dinge geschlossen, obgleich eine solche dem Bereich unserer sonstigen Begriffe nicht zugänglich ist und der wissenschaftlichen Erfahrung widerstreitet. – Die Phrenologen, welche lehren, daß sich die einzelnen geistigen Qualitäten nicht als ein seelisches Ganze durch die ganze Masse des Gehirns gleichmäßig verbreiten, sondern an einzelnen Punkten oder Stellen desselben lokalisieren und in ihrer Stärke abhängig sind von der größeren oder geringeren materiellen Entwicklung dieser entsprechenden Gehirnteile, scheinen anzunehmen oder zu glauben, daß ihre Lehre im Widerspruch stände mit der Ansicht, welche die angebornen Ideen oder Anschauungen verwirft. Sie halten eine gewisse angeborne, materielle Organisation des Gehirns für das Bestimmende und glauben, daß das Individuum sich diesem naturnotwendigen Einfluß in seiner geistigen Entwicklung nur bis zu einem gewissen Grade entziehen könne. Die Richtigkeit dieser Lehre in der oben aufgeführten Form, welcher indessen die allerwichtigsten wissenschaftlichen Bedenken entgegenstehen, einmal angenommen – so glauben wir dennoch bei genauerer Betrachtung einen wirklichen[141] Widerspruch zwischen ihr und der Ansicht, welche die angebornen Ideen verwirft, nicht finden zu können. Auch wir haben gesehen, daß die materielle Organisation des Gehirns das die geistige Entwicklung vor allem Bestimmende ist, aber es kann diese Entwicklung nur vor sich gehen im Verein mit den äußeren Eindrücken der objektiven Welt. Fehlen die letzteren, so fehlt auch jeder Widerschein der Weltbilder auf der materiellen Grundfläche des Gehirns, so ausgezeichnet dieselbe auch zubereitet sein mag. Von dieser verschiedenen Zubereitung aber hängt wiederum Stärke und Kraft der seelischen Bilder aufs vollkommenste ab. Ist es nun richtig, daß sich die besonderen geistigen Qualitäten an besonderen Orten des Gehirns lokalisieren, so folgt daraus nur, daß die äußeren Eindrücke je nach ihrer verschiedenen geistigen Natur sich nach verschiedenen Richtungen innerhalb des Denkorgans verteilen und an den ihnen entsprechenden Stellen festsetzen; es findet, um mich so auszudrücken, eine innere Anziehung zwischen Eindrücken gewisser Art und einzelnen Gehirnteilen statt. Je größer, je materiell ausgebildeter nun diese letzteren sind, um so leichter und häufiger werden sie auch ihre Anziehung ausüben, und um so stärker wird sich die betreffende geistige Qualität auf Grund ihres stärker entwickelten materiellen Substrats herausbilden. Ein analoges Beispiel solcher Anziehung in der physischen und leiblichen Welt besitzen wir in der Wirkung mancher Arzneimittel. Viele Arzneien zeigen nach ihrer Einverleibung in den tierischen Körper eine ganz bestimmte und kräftige Beziehung zu einzelnen Organen, Systemen oder Geweben des Körpers, namentlich aber zu dem Nervensystem und einzelnen Abschnitten desselben. Einige wirken vorzugsweise auf die peripherischen Nerven, andere auf das Rückenmark, andere[142] auf das Gehirn und hierbei wieder auf einzelne Abschnitte des Nervensystems, Rückenmarks oder Gehirns; es ist also offenbar, daß dieselben, indem sie mit dem Blute durch den ganzen Körper verbreitet werden, doch nur an einzelnen Punkten ihre bestimmte entsprechende Anziehung finden. In ähnlicher Weise könnte jene geistige Lokalisation der von außen kommenden Eindrücke vor sich gehen. Wir wollen Noël nicht widersprechen, wenn er sagt, daß man bei der Beobachtung von Kindern durchaus genötigt sei, innere Dispositionen, in dieser oder jener Richtung vorzugsweise zu begehren, zu dieser oder jener Art von Vorstellungen vorzugsweise geneigt zu sein, anzuerkennen. Aber dieses Verhältnis ist nicht Resultat angeborner geistiger Qualitäten, Ideen oder Anschauungen, sondern nur angeborner materieller Disposition zur vorzugsweisen Entwicklung dieser oder jener geistigen Qualität auf Grund sensualistischer und empirischer Erwerbungen. Niemals wird jemand Kinderliebe zeigen, so groß sein Organ dafür auch sein mag, ohne mit Kindern umgegangen zu sein. Der Trieb zum Zerstören, zum Aufbauen, zum Erwerben usw. kann sich gewiß nur an Objekten entwickeln und würde ohne sie ewig schlummern; Tonsinn ohne Töne, Farbensinn ohne Farben, Ortsinn ohne Orte ist nicht denkbar. Schluß- und Vergleichungsvermögen kann nur sein, wo Dinge zum Vergleichen und Objekte zum Schließen da sind. Weiter ist zu bedenken, daß das Verhältnis von phrenologischen Organen und äußeren Eindrücken auch ein umgekehrtes von dem vorhin erörterten sein kann. Wenn es Tatsache ist, daß das Gesamthirn infolge fortgesetzter physischer Tätigkeit an Größe und Qualität zunimmt, so kann – immer die Richtigkeit der phrenologischen Grundsätze vorausgesetzt – es ebensowohl[143] möglich sein, daß zu der Zeit, wo das Gehirn in Wachstum und Bildung begriffen ist, durch fortgesetzte und häufige äußere Eindrücke und psychische Tätigkeit in einer gewissen Richtung das betreffende phrenologische Organ auch materiell stärker hervorgebildet wird – ganz in derselben Weise, wie ein Muskel durch Übung erstarkt.

Somit gibt es in keiner Richtung bestimmte wissenschaftliche Tatsachen, welche uns nötigen würden, die Existenz angeborner Ideen anzunehmen. Die Natur kennt weder Absichten, noch Zwecke, noch irgendwelche ihr von außen und oben herab aufgenötigten geistigen oder materiellen Bedingnisse! Sie hat sich von Anfang bis zu Ende organisch aus sich selbst entwickelt und entwickelt sich ohne Aufhören. Wir schließen dieses wichtige Kapitel mit den beherzigenswerten Worten Moleschotts: »In dem Schulunterricht über das Denken wird strebsamen Köpfen die Auffassung gewöhnlich deshalb erschwert, weil sich die Schule nicht dazu verstehen kann, die Bildung von Urteilen, Begriffen und Schlüssen an der bestehenden frischen Wirklichkeit zu entwickeln. So wenig es gelingt, so eifrig bestrebt man sich doch, dem Schüler einzuimpfen, daß er seine Blicke wegwenden muß vom grünen Baum, daß er das Denken abziehen muß vom Stoff, um ja recht abgezogene Begriffe zu bekommen, mit denen das gequälte Gehirn in einer Schattenwelt sich bewegt.« –[144]

Quelle:
Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig [o.J.], S. 125-145.
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