IX. Bemerkungen zum leichteren Verständniss dessen, was bei der Besprechung des Gesichtes gesagt werden wird.

[120] Nachdem wir so in's Einzelne eingegangen sind, wird dieses Kapitel ganz unnütz erscheinen, und ich gebe zu, dass es so sein würde, wenn es den Leser nicht darauf vorbereitete, sich von den Beobachtungen, die wir in Betreff des Gesichts machen werden, zu überzeugen. Die Art, wie die Hände über die Dinge mittels eines, zweier oder mehrerer Stöcke urtheilen, gleicht so sehr der Art[120] und Weise, wie die Augen mittels der Strahlen über sie urtheilen, dass man seit Descartes gemeiniglich das eine dieser Probleme durch das andere erklärt. Das erstere wird der Gegenstand dieses Kapitels sein.

2. Wenn die Statue das erste Mal einen Stock erfasst, so kennt sie nur den Theil, den sie hält; darauf bezieht sie alle Empfindungen, die er in ihr erregt. Sie weiss also nicht, dass er ausgedehnt ist, und kann die Entfernung der Körper nicht beurtheilen, die sie mit ihm berührt.

Dieser Stock kann auf verschiedene Weise gebogen sein, und sonach macht er auf ihre Hand verschiedene Eindrücke. Allein diese Eindrucke unterrichten sie nicht davon, dass er gebogen ist, so lange sie nicht weiss, dass er ausgedehnt ist. Sie können ihr also die verschiedenen Lagen der Dinge noch nicht klar machen.

Soll sie durch ihn über Entfernungen urtheilen, so muss sie ihn in seiner ganzen Länge befühlt haben, und soll sie nach dem Eindruck, denn sie von ihm empfängt, über die Lagen urtheilen, so muss sie, während sie ihn mit der einen Hand hält, mit der andern seine Richtung prüfen.

3. So lange sie die Richtung zweier Stöcke, deren Länge ihr bekannt ist und deren einen sie in der rechten, den andern in der linken Hand hält, nicht zu beurtheilen vermag, so lange wird sie nicht entdecken können, ob sie sich irgendwo kreuzen, nicht einmal, ob ihre Enden sich von einander entfernen oder einander nähern. Sie wird oft zwei Körper zu berühren glauben, während sie nur einen berührt, wird das Untere für das Obere, das Obere für das Untere halten. Aber sobald sie im Stande ist, je nach der Verschiedenheit der Eindrücke die verschiedenen Richtungen zu gewahren, so wird sie die Lage der Stöcke kennen lernen und nach ihr die der Körper beurtheilen.

Dieses Urtheil wird zunächst nur eine sehr langsame Schlussfolgerung sein; sie wird etwa bei sich sprechen: Diese Stöcke können sich nicht kreuzen, ohne dass das Ende dessen, den ich in der Rechten halte, mir zur Linken und das Ende dessen, den ich in der Linken halte, mir zur Rechten ist. Folglich sind die Körper, die sie berühren, in einer Lage, welche der meiner Hände entgegengesetzt ist, und ich muss das für rechts halten, was ich mit der Linken, und für links, was ich mit der Rechten[121] fühle. In der Folge wird diese Schlussfolgerung ihr so geläufig werden und sich so rasch vollziehen, dass sie die Lage der Körper beurtheilt, ohne scheinbar auf die ihrer Hände die mindeste Aufmerksamkeit zu richten.

4. Nicht mehr auf das Ende, das auf ihre Hand wirkt, bezieht sie die Empfindungen, die ein Stock ihr übermittelt; vielmehr empfindet sie die Härte oder Weichheit der Körper, die sie mit ihm berührt, am entgegengesetzten Ende, und in Folge dieser Gewöhnung wird sie Empfindungen unterscheiden, die sie früher nicht unterschied.

Nehmen wir an, sie stütze die Handfläche auf drei gleich lange und so verbundene Bohre, als wenn sie nur eins bildeten, so wird sie eine undeutliche Empfindung haben oder die Wirkung jedes einzelnen Rohres nicht herausfühlen. Machen wir die Rohre bloss unten auseinander, so nimmt sie sogleich deutlich drei Widerstandspunkte wahr und unterscheidet dadurch den Eindruck, den jedes einzelne Rohr auf sie macht.

Allein man muss wohl beachten, dass sie diesen Unterschied nur deshalb macht, weil sie die geneigte Lage durch die Empfindung beurtheilen gelernt hat. Hätte sie nicht die Erfahrungen gemacht, welche dazu nöthig sind, um dieses Urtheil zu fällen, so würde sie in ihrer Hand einen einzigen Widerstandspunkt empfinden, möchten nun die Rohre unten zusammen oder auseinander sein.

Dieser Versuch bestätigt die Ansicht, die ich in Betreff des Gesichtes zur meinigen gemacht habe. Denn ist es nicht möglich, dass das Auge, wie die Hand, ähnliche Empfindungen vermischt, wenn es sie nur in sich selbst verlegt, und dass es erst dann anfängt, einen Unterschied zwischen ihnen zu machen, wenn es sich gewöhnt, sie nach aussen zu beziehen? Man braucht nur daran zu denken, dass die Strahlen so auf dasselbe wirken, wie die Rohre auf die Hand.

5. Um den Zwischenraum zu bestimmen, den die Enden zweier sich kreuzender Stöcke bilden, braucht ein Geometer nur die Grösse der Winkel und der Seiten zu bestimmen.

Die Statue kann ein Verfahren, zu dem so viele Genauigkeit gehört, nicht befolgen; allein sie weiss ungefähr, wie gross die Stöcke, wie sehr sie geneigt sind, kennt[122] den Kreuzungspunkt und urtheilt, dass die Enden, die an die Gegenstände stossen, in demselben Verhältniss auseinander- oder zusammengehen, wie die Enden, welche sie umfasst. Man begreift also, wie sie sich durch fortgesetztes Tasten eine Art Geometrie bilden und die Grösse der Körper mit Hülfe zweier Stöcke beurtheilen wird.

Hätte sie vier Hände, so könnte sie durch das nämliche Hülfsmittel zugleich die Höhe und die Breite eines Dinges beurtheilen, und hätte sie eine noch grössere Anzahl so könnte sie es unter einer noch grössern Menge von Beziehungen wahrnehmen. Sie brauchte sich nur die Gewöhnung anzueignen, über die Eindrücke, welche ihr zehn oder mehr Stöcke übermitteln, Urtheile zu fällen.

Somit würde sie sich ohne eine Kenntniss der Geometrie nach den Grundsätzen dieser Wissenschaft durch Tasten zurechtfinden, und, wir wollen noch weiter gehen, somit beruht die Entwickelung unserer Kräfte auf Grundsätzen, die uns in eben dem Augenblicke, wo sie uns leiten, verborgen bleiben. Wir bemerken sie nicht und thun doch nichts ohne ihren Einfluss.

Auch würde die Kenntniss der Grundsätze der Geometrie unserer Statue gar nichts nützen. Sie würde immer nur durch Tasten sie auf die Stöcke, deren sie sich bedient, anwenden können. Sobald sie nun aber tastet, fällt sie nothwendig dieselben Urtheile, als wenn sie nach diesen Grundsätzen Folgerungen zöge. Es würde also überflüssig gewesen sein, angeborne Ideen von Grössen und Lagen bei ihr vorauszusetzen: es genügt, dass sie Hände hat.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 120-123.
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Abhandlung über die Empfindungen
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