V. Wie ein auf den Tastsinn beschränkter Mensch seinen Körper entdeckt und erfährt, dass etwas ausser ihm da ist.

[92] 1. Ich gebe der Statue den Gebrauch aller ihrer Glieder; allein welche Ursache wird sie nöthigen, sie zu bewegen? Die Absicht, sich ihrer zu bedienen, kann es nicht sein; denn sie weiss noch nicht, dass sie aus Theilen zusammengesetzt ist, die sich über einander legen oder auf die äussern Gegenstände lenken können. Die Natur muss also den Anfang machen; sie muss die ersten Bewegungen in den Gliedern der Statue hervorbringen.

2. Giebt sie ihr eine angenehme Empfindung, so erhellt, dass die Statue sie auch dann wird geniessen können, wenn sie alle Glieder ihres Körpers in der Lage lässt, worin sie sich befinden, und eine derartige Empfindung scheint eher geeignet, die Ruhe zu erhalten, als Bewegung zu erzeugen.

Allein wenn es in ihrer Natur liegt, sich einer Empfindung, die ihr gefällt, hinzugeben und sie in Ruhe zu geniessen, so liegt es gleicherweise darin, dass sie sich einer Empfindung, die sie verletzt, entzieht. Zwar weiss sie nicht, wie sie sich einer derartigen Empfindung entziehen kann, aber anfänglich hat sie nicht nöthig, es zu wissen; sie braucht nur der Natur zugehor chen. Es ist eine Folge ihrer Organisation, dass ihre Muskeln, die der Schmerz zusammenzieht, ihre Glieder bewegen, und dass sie sich regt, ohne es zu beabsichtigen, ohne noch zu wissen, dass sie sich regt.[92]

Es kann sogar auch angenehme Empfindungen geben, deren Lebhaftigkeit ihr nicht gestattet, in völliger Ruhe zu verharren; gewiss ist wenigstens, dass der wechselseitige Uebergang von der Lust zum Schmerze und vom Schmerze zur Lust Bewegungen in ihrem Körper veranlassen muss.

Wäre sie nicht so organisirt, dass sie sich auf Veranlassung der erlittenen angenehmen oder unangenehmen Empfindungen bewegt, so würde die vollständige Buhe, zu der sie verdammt wäre, sie ausser Stand setzen, aufzusuchen, was ihr nützen, und zu meiden, was ihr schaden kann.

Allein sobald ihrer Organisation zufolge auf Veranlassung der Lust, des Schmerzes oder des wechselseitigen Ueberganges von dem einen zum anderen, Bewegungen an ihr vorgehen, so ist es unausbleiblich, dass unter der Zahl dieser Bewegungen manche eine wehthuende Empfindung beseitigen oder unterbrechen, andere ihr eine wohlthuende verschaffen. Es wird ihr also daran gelegen sein, ihre Bewegungen zu studiren, und folglich wird sie Alles von ihnen lernen, was von ihnen zu lernen ist.

Aus natürlichem Antrieb, mechanisch, aus Instinkt und unbewusst bewegt sie sich, und wir haben weiter zu entwickeln, wie sie vermittelst ihrer Bewegungen entdeckt, dass sie einen Körper hat, und dass es um diesen her noch andere giebt.

Betrachten wir die Menge und Mannigfaltigkeit der Eindrucke, welche die Objekte auf die Statue machen, so werden wir finden, dass ihre Bewegungen sich natürlicherweise wiederholen und mannigfaltig werden müssen. Wenn sie sich nun wiederholen und mannigfaltig werden, so wird es ihr nothwendig begegnen, dass sie wiederholt ihre Hände an sich selbst und die nahe kommenden Gegenstände bringt.

Bringt sie dieselben an sich selbst, so wird sie erst dann entdecken, dass sie einen Körper hat, wenn sie[93] seine verschiedenen Theile unterscheidet und sich in jedem als dasselbe empfindende Wesen wiedererkennt, und dass es andere Körper giebt, wird sie nur darum entdecken, weil sie sich in den von ihr berührten nicht wiederfindet.

3. Sie kann also die Entdeckung nur einer der Tastempfindungen verdanken. Welche ist nun diese Empfindung?

Die Undurchdringlichkeit ist eine Eigenschaft aller Körper; es können nicht mehrere denselben Ort einnehmen; ein jeder schliesst von dem Orte, den er einnimmt, alle andern aus.

Diese Undurchdringlichkeit ist keine Empfindung. Wir empfinden eigentlich nicht, dass die Körper undurchdringlich sind; vielmehr urtheilen wir, dass sie es sind, und dieses Urtheil ist eine Folgerung aus den Empfindungen, die sie in uns erregen.

Vor Allem ist die Festigkeit die Empfindung, aus der wir diese Folgerung ziehen, weil wir an zwei festen Körpern, die sich drücken, in besonders deutlicher Weise den Widerstand bemerken, den sie gegen einander ausüben, um sich gegenseitig auszuschliessen. Könnten sie sich durchdringen, so würden beide in einen zusammenfliessen; aber weil sie undurchdringlich sind, sind sie nothwendig gesondert und immer zwei.

Es ist also mit der Empfindung der Festigkeit nicht wie mit den Ton-, Farben- und Geruchsempfindungen, welche die Seele, die von ihrem Körper nichts weiss, ursprünglich als Modifikationen, in denen sie sich und nur sich findet, wahrnimmt; weil das Eigenartige dieser Empfindung darin besteht, dass sie zwei Dinge auf einmal vorstellt, die sich einander ausschliessen, so wird die Seele[94] die Festigkeit nicht als eine von jenen Modifikationen, in denen sie nur sich findet, sondern nothwendigerweise als eine solche Modifikation wahrnehmen, wobei sie zwei sich ausschliessende Dinge findet, und sie folglich an diesen beiden Dingen wahrnehmen.

Hier haben wir also eine Empfindung, mittels deren die Seele aus sich herausgeht, und es wird nun begreiflicher, wie sie Körper entdeckt.

Weil die Statue so organisirt ist, dass sie bei den Eindrücken schon, die sie empfängt, Bewegungen hat, so können wir annehmen, dass ihre Hand sich aus natürlichem Antrieb auf irgend einen Theil ihres Körpers, z.B. auf die Brust legt. Alsdann werden ihre Hand und ihre Brust sich an der wechselseitigen, sie nothwendig auseinder haltenden Empfindung ihrer beiderseitigen Festigkeit unterscheiden. Jedoch wird die Statue, indem sie ihre Brust von ihrer Hand unterscheidet, ihr Ich in beiden wiederfinden, weil sie sich in allen beiden gleicherweise empfindet. Sie mag einen beliebigen andern Theil ihres Körpers berühren, so wird sie ihn eben so unterscheiden, und sich darin gleicherweise wiederfinden.

Obgleich diese Entdeckung hauptsächlich der Festigkeitsempfindung zu danken ist, so wird sie doch noch leichter zu Stande kommen, wenn andere Empfindungen[95] hinzutreten. Die Hand z.B. sei kalt und die Brust warm, so wird die Statue dieselben als Festes und Kaltes empfinden, das Festes und Warmes berührt, wird das Kalte auf die Hand, die Wärme auf die Brust beziehen lernen und sie um so besser von einander unterscheiden. So tragen diese beiden Empfindungen, die an sich wenig dazu geeignet sind, der Statue Kunde davon zu geben, dass sie einen Körper hat, doch dazu bei, ihr von ihm eine deutlichere Vorstellung zu geben, wenn sie in die Empfindung der Festigkeit eingehen.

Wenn die Hand der Statue bisher immer, so oft sie sich von einem Körpertheil zum andern lenkte, dazwischen liegende Theile übersprungen hat, so wird sie sich in jedem wie in eben so viel verschiedenen Körpern finden und noch nicht wissen, dass sie alle zusammen nur einen einzigen ausmachen; darum nicht, weil ihre Empfindungen ihr dieselben nicht als zusammenhängend und folglich nicht als ein einheitliches Ganze bildend darstellen.

Geschieht es aber, dass sie mit der Hand den Arm entlang und, ohne etwas zu überspringen, über ihre Brust, ihren Kopf u.s.w. streicht, so wird sie, um mich dieses Ausdruckes zu bedienen, unter ihrer Hand eine Stetigkeit des Ich empfinden, und diese selbe Hand, welche die vorher getrennten Theile in ein einheitliches Ganze vereinigt, wird deren Ausdehnung deutlicher machen.

4. Die Statue lernt also ihren Körper kennen und sich in allen Theilen, aus denen er besteht, wiedererkennen, weil, sobald sie einen davon mit der Hand berührt, ein und dasselbe empfindende Wesen sich gewissermassen hinüber und herüber antwortet: ich bin es. Fährt sie fort, sich zu betasten, so wird ihr überall die Empfindung der Festigkeit zwei Dinge zur Vorstellung bringen, die sich ausschliessen und dabei zusammenhängen, und es wird ebenfalls ein und dasselbe empfindende Wesen sich hinüber und herüber antworten: Ich bin es, ich bin es wieder. Es empfindet sich in allen Körpertheilen. Mithin begegnet es ihm nicht mehr, dass es sich mit seinen Modifikationen verwechselt. Es ist nicht mehr Wärme und Kälte, sondern empfindet Wärme in einem und Kälte in einem andern Theile.

5. So lange die Statue nur sich selbst mit den Händen berührt, so kommt es ihr vor, als wenn sie Alles wäre, was[96] da ist. Allein wenn sie einen fremden Körper betastet, so fühlt sich das Ich wohl in der Hand, aber nicht auch in diesem Körper modifizirt. Wenn die Hand Ich sagt, so empfängt sie nicht dieselbe Antwort. Die Statue verlegt demgemäss ihre Daseinsweisen ganz und gar ausser sich. Wie sie aus ihnen ihren Körper gebildet hat, so bildet sie daraus alle andern Objekte. Die Empfindung der Festigkeit, die ihnen in dem einen Falle Dichtigkeit gegeben hat, giebt ihnen diese auch in dem andern, mit dem Unterschied, dass das Ich, welches sich antwortete, es jetzt nicht mehr thut.

6. Sie nimmt also nicht die Körper an sich wahr, vielmehr nur ihre eigenen Empfindungen. Wenn mehrere gesonderte und gleichzeitige Empfindungen durch den Tastsinn in Grenzen verwiesen werden, wo das Ich sich selber antwortet, so erlangt sie Kunde von ihrem Körper; wenn mehrere gesonderte und gleichzeitige Empfindungen durch den Tastsinn in Grenzen verwiesen werden, wo das Ich sich nicht antwortet, so hat sie die Vorstellung eines von dem ihrigen verschiedenen Körpers. Im erstem Falle bleiben ihre Empfindungen auch jetzt noch ihre Eigenschaften, im zweiten werden sie die Eigenschaften eines ganz verschiedenen Körpers.

7. Wenn sie erfahren hat, dass sie etwas Festes ist, so ist sie, denke ich, sehr erstaunt, sich nicht in Allem zu finden, was sie berührt. Sie streckt die Arme aus, gleichsam um sich ausser sich zu suchen, und kann noch nicht beurtheilen, ob sie sich dort nicht finden werde. Die Erfahrung allein wird sie darüber belehren können.

8. Aus diesem Erstaunen entspringt das unruhige Verlangen, zu wissen, wo sie ist, und, wenn ich mich so ausdrücken darf, bis wohin sie ist. Sie fasst also Alles an, was um sie ist, lässt es los, fasst es wieder an; sie greift sich an, vergleicht sich mit den Objekten, die sie berührt, und in dem Maasse, als sie sich genauere Vorstellungen macht, scheinen sich ihr der eigene Körper und die Gegenstände unter ihren Händen zu gestalten.[97]

9. Allein es wird wohl lange dauern, ehe sie an etwas hinter den von ihr berührten Körpern Befindliches denkt. Meines Erachtens muss sie, wenn sie zu tasten anfängt, Alles zu betasten glauben und wird erst dann auf den Gedanken kommen können, dass es hinter den von ihr ergriffenen Körpern noch andere giebt, wenn sie von einem Orte zum andern geschritten ist und viele Dinge angefühlt hat.

10. Aber wie lernt sie tasten? Weil die Bewegungen, zu denen die Natur sie treibt, ihr bald angenehme, bald unangenehme Empfindungen verschafft haben, so will sie jene geniessen und diese loswerden. Sie versteht ohne Zweifel anfänglich noch nicht ihre Bewegungen zu lenken. Sie weiss nicht, wie sie ihre Hand leiten muss, um sie gerade an diesen und nicht an jenen Theil ihres Körpers zu bringen. Sie macht Versuche, vergreift sich, greift richtig, merkt sich die Bewegungen, die sie irregeführt haben, und vermeidet sie, merkt sich auch die, welche ihren Begehrungen entsprochen haben, und wiederderholt sie. Kurz sie tappt umher und erlangt nach und nach eine Fertigkeit in den Bewegungen, die sie befähigen, über ihre Erhaltung zu wachen. Jetzt giebt es in ihrem Körper Bewegungen, die den Begierden ihrer Seele entsprechen; jetzt bewegt sie sich willkürlich.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 92-98.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Casanovas Heimfahrt

Casanovas Heimfahrt

Nach 25-jähriger Verbannung hofft der gealterte Casanova, in seine Heimatstadt Venedig zurückkehren zu dürfen. Während er auf Nachricht wartet lebt er im Hause eines alten Freundes, der drei Töchter hat... Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht.

82 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon