IX. Schluss.

[219] 1. Nicht Alles, was ich hypothetisch angenommen habe, erleidet Anwendung auf uns; allein es beweist wenigstens, dass alle unsere Erkenntnisse aus den Sinnen und besonders aus dem Tastsinn stammen, weil er es ist, der die andern unterweist. Wenn unsere Statue, ohne dass wir etwas Weiteres als Empfindungen bei ihr voraussetzten, Einzel- und allgemeine Vorstellungen erworben und sich zu allen Verstandesoperationen befähigt hat, wenn sie Begehrungen gehegt und sich in Leidenschaften versetzt hat, denen sie gehorcht oder widersteht, wenn endlich Lust und Schmerz der einzige Grund der Entwickelung ihrer Kräfte sind, so kann man vernünftiger Weise daraus schliessen, dass wir zunächst nur Empfindungen gehabt haben, und dass unsere Kenntnisse und unsere Leidenschaften die Wirkung der Lust- und Schmerzgefühle sind, welche die sinnlichen Eindrücke begleiten.

Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr wird man sich in der That davon überzeugen, dass hier die einzige Quelle unserer Erkenntniss und unserer Gefühle ist. Folgen wir der Erkenntniss, so geniessen wir alsbald ein neues Leben, welches von dem, was uns rohe Empfindungen (wenn ich mich so ausdrücken darf) früher gewährten, ganz verschieden ist. Folgen wir dem Gefühl, achten wir auf dasselbe besonders dann, wenn es sich durch alle die Urtheile verstärkt, die wir uns gewöhnt haben, mit den sinnlichen Eindrücken zusammenfliessen zu lassen, so werden alsbald aus diesen Empfindungen, die anfänglich nur eine kleine Zahl grobsinnlicher Lustgefühle gewährten, verfeinerte Lustgefühle entstehen, die in erstaunlicher Mannichfaltigkeit auf einander folgen. Je mehr wir uns also von dem entfernen, was die Empfindungen im Anfang waren, desto mehr wird das Leben unseres Wesens sich entwickeln, wechselvoller werden. Es umfasst so vielerlei, dass wir kaum begreifen, wie alle unsere Fähigkeiten einen gemeinsamen Grund in der Empfindung haben können.

2. So lange die Menschen noch in den sinnlichen Eindrücken nur auf Empfindungen achten, denen sie nur[220] wenig Urtheile beizumischen vermocht haben, ist das Leben des Einen dem des Andern ziemlich gleich. Es ist beinahe weiter keine Verschiedenheit, als in dem Lebhaftigkeitsgrade, mit dem sie empfinden. Erfahrung und Ueberlegung werden für sie dasselbe sein, was der Meissel in den Händen des Bildhauers ist, der aus einem ungeformten Steine eine vollendete Bildsäule meisselt, und je nach der Kunst, mit der sie diesen Meissel handhaben, werden sie aus ihren Empfindungen neue Erkenntniss und neue Freuden hervor gehen sehen.

Wenn wir sie beobachten, so werden wir gewahren, wie diese Materialien roll liegen bleiben oder verarbeitet werden, und bedenken wir den Abstand der Menschen unter einander, so werden wir darüber erstaunt sein, wie viel in einem und demselben Zeitraum die Einen mehr leben als die Andern. Denn leben ist eigentlich geniessen, und dessen Leben ist am längsten, der die Gegenstände seines Genusses am meisten zu vervielfältigen versteht.

Wir haben gesehen, dass der Genuss bei der ersten angenehmen Empfindung beginnen kann. Im ersten Augenblick z.B., da wir unserer Statue den Gesichtsinn gewähren, hat sie einen Genuss, träfe ihre Augen auch nur eine schwarze Farbe. Denn man darf ihre Lustgefühle nicht nach unsern beurtheilen. Manche Empfindungen sind uns gleichgültig oder selbst unangenehm, sei es, weil sie nichts Neues für uns haben, sei es, weil wir lebhaftere kennen. Ihre Lage jedoch ist ganz verschieden, und sie kann in Wonne schwelgen, wenn sie Gefühle empfindet, die wir keiner Beachtung würdigen, oder die in uns nur Widerwillen erregen.

Achten wir auf das Licht, wenn der Tastsinn das Auge lehrt, die Farben in der ganzen Natur zu verbreiten, so haben wir eben so viele neue Gefühle, und folglich eben so viele neue Freuden, eben so viele neue Genüsse.

Dasselbe gilt von allen andern Sinnen und allen Seelenthätigkeiten. Denn wir geniessen nicht allein vermöge[221] des Gesichts, Gehörs, Geschmacks, Geruchs, Gefühls, wir geniessen auch vermöge des Gedächtnisses, der Einbildungskraft, der Ueberlegung, der Leidenschaften, der Hoffnung, kurz, vermöge aller unserer Fähigkeiten. Allein diese Ursachen sind nicht bei allen Menschen gleich wirksam.

3. Die mit einander verglichenen Lust- und Schmerzgefühle, d.h. unsere Bedürfnisse sind es, welche unsere Fähigkeiten üben. Ihnen verdanken wir mithin das Glück, Genüsse zu haben. So viel Bedürfnisse, so viel verschiedene Genüsse; so viel Grade im Bedürfniss, so viel Grade im Genuss. Hier ist der Keim zu Allem, was wir sind, die Quelle unseres Unglücks oder unseres Glücks. Den Einfluss dieser letzten Ursache zu beobachten ist also das einzige Mittel, wenn wir uns selbst erforschen wollen.

Die Geschichte der Fähigkeiten unserer Statue zeigt deutlich, wie das alles vor sich geht. Als sie auf das Grundgefühl allein angewiesen war, war eine gleichmässige Empfindung ihr ganzes Sein, ihre ganze Erkenntniss, ihre ganze Lust. Indem wir ihr allmählich neue Daseinsweisen und neue Sinne gaben, sahen wir sie neue Wünsche hegen, von der Erfahrung lernen sie zu beschränken oder zu befriedigen und von Bedürfnissen zu Bedürfnissen, von Kenntnissen zu Kenntnissen, von Freuden zu Freuden weiterschreiten. Sie ist demnach Alles durch Erworbenes geworden. Warum sollte es beim Menschen nicht ebenso sein?[222]


Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870.
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Abhandlung über die Empfindungen
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