Heische-Sätze (Postulate).

[131] Ich verlange zuerst, dass die Leser inne werden, wie hinfällig die Gründe sind, aus denen sie bisher den Sinnen vertraut haben, und wie unsicher die Urtheile, die sie darauf gegründet haben. Sie mögen dies so lange und so oft bei sich bedenken, bis sie sich endlich gewöhnen, den Sinnen nicht mehr zu sehr zu vertrauen. Denn ich halte dies für nöthig, um in metaphysischen Dingen die Gewissheit zu erlangen.

Zweitens mögen sie die Seele selbst und alle ihre Attribute betrachten, die sie, wie sie bemerken werden, nicht in Zweifel ziehen können, auch wenn sie Alles das für falsch halten, was sie jemals durch ihre Sinne empfangen haben. Auch mögen sie nicht eher in dieser Betrachtung nachlassen, bis sie sich geübt haben, die Seele klar aufzufassen und als leichter erkennbar als alle körperliche Dinge einzusehen.

Drittens mögen sie die selbstverständlichen Sätze, die sie in sich antreffen, wie: dass etwas nicht zugleich sein und nicht sein könne; dass das Nichts nicht die wirkende Ursache eines Dinges sein könne, und Aehnliches, sorgsam bei sich erwägen und so jene von der Natur ihnen gegebene Klarheit des Verstandes, welche[131] durch die Sinneswahrnehmungen stark gestört und verdunkelt zu werden pflegt, durch Uebung wieder reinigen und von letzteren befreien. Auf diese Weise wird ihnen die Wahrheit der folgenden Grundsätze leicht einleuchten.

Viertens mögen sie die Vorstellungen jener Naturen, welche eine Verbindung vieler Attribute enthalten, prüfen; dahin gehört die Natur des Dreiecks, des Vierecks und anderer Figuren; ebenso die Natur der Seele, die Natur des Körpers und vor Allem die Natur Gottes oder des vollkommensten Wesens. Mögen sie bedenken, dass Alles, was man als darin enthalten erkennt, wahrhaft von ihnen ausgesagt werden kann. So enthält die Natur des Dreiecks, dass dessen drei Winkel zwei rechten gleich sind, und die Natur des Körpers oder der ausgedehnten Sache die Theilbarkeit (denn man kann keine ausgedehnte Sache sich so klein vorstellen, dass man sie nicht, wenigstens in Gedanken, noch weiter theilen könnte), und deshalb kann man als wahr behaupten, dass die drei Winkel jedes Dreiecks zwei rechten gleich seien, und dass alle Körper theilbar seien.

[132] Fünftens mögen sie lange und viel in der Betrachtung des vollkommensten Wesens verweilen und unter Anderem auch bedenken, dass die Vorstellung aller übrigen Naturen das Dasein nur als ein mögliches, die Vorstellung Gottes aber das Dasein nicht blos als ein mögliches, sondern als ein nothwendiges enthält. Daraus allein werden sie ohne weitere Ausführung Gottes Dasein erkennen, und es wird ihnen so selbstverständlich sein, wie dass die Zahl Zwei eine gleiche und die Zahl Drei eine ungleiche ist, und Aehnliches. Denn solche Sätze sind für Manche selbstverständlich, während Andere sie nur nach längerem Ueberdenken einsehen.

Sechstens mögen sie die Beispiele der klaren und deutlichen Erkenntniss, so wie der dunkelen und verworrenen erwägen, die ich in meinen Untersuchungen angeführt habe, und so sich gewöhnen, das klar Erkannte von dem Dunkeln zu unterscheiden. Denn dies lernt sich leichter durch Beispiele als durch Regeln, und ich glaube, dort alle dazu gehörenden Beispiele entweder beigebracht oder wenigstens berührt zu haben.

Siebentens endlich mögen sie bedenken, dass sie niemals in dem klar Erkannten eine Unwahrheit angetroffen haben, und umgekehrt in dem dunkel Erkannten nur zufällig eine Wahrheit gefunden haben, und dass es somit der Vernunft widerstreitet, wegen blosser Vorurtheile der Sinne oder wegen Hypothesen über unbekannte Dinge das von dem Verstände klar und deutlich Erfasste in Zweifel zu ziehen.

Wenn sie so verfahren, werden sie die nun folgenden Sätze als wahr und unzweifelhaft annehmen, obgleich allerdings die meisten davon besser gefasst und mehr als Lehrsätze wie als selbstverständliche Sätze hätten aufgestellt werden sollen, wenn ich hätte genauer sein wollen.[133]

Quelle:
René Descartes' philosophische Werke. Abteilung 2, Berlin 1870, S. 131-134.
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