Gymnasialzeit in Elberfeld.
1857–1859.

[48] In den ersten Tagen des Oktober 1857 brachte unser Vater seine drei Ältesten nach Elberfeld. Werner sollte dort die Gewerbeschule besuchen und fand Aufnahme in Onkel Schnabels Haus; Johannes und ich gingen aufs Gymnasium und wohnten in dem großen Hause der Materialwarenhandlung von Karl und Wilhelm Altgelt in der belebtesten Gegend der Stadt am Wall gegenüber dem Rathause. Eine Tochter dieses Hauses, Jettchen Altgelt, war in Oberdreis Pensionärin, und ihre Schwester Marie sollte eben dahinkommen. So machte es sich von selbst, daß wir beiden Knaben im Austausch gegen die beiden Mädchen für ein Jahr übernommen wurden, und für die folgenden Jahre den mäßigen Pensionspreis von 120 Talern, wie ihn die Mädchen in Oberdreis zahlten, zu geben hatten. Dafür wurden uns zwei kleine Zimmer zwei Treppen hoch nach dem Hofe eingeräumt, und wir nahmen an den Mahlzeiten der Familie teil. Die Verpflegung war nur mäßig, aber von Oberdreis her waren wir nicht verwöhnt; auch wurden wir zu Anfang zu sehr durch die Fülle der neuen Eindrücke in Anspruch genommen, als daß wir auf das Essen besonders geachtet hätten, und später nahmen wir es als eine schon gewohnte Sache hin. Die Frau des Hauses war lebhaft, energisch, aber nicht ohne Schärfe. Ihr Gemahl, Wilhelm Altgelt, dessen höheres Alter nur dann in die Erscheinung trat, wenn man ihn zufällig ohne seine sorgfältig gescheitelte, schwarze Perücke sah, war ein frommer, bibel- und katechismusfester[49] Mann. Er liebte es, auf uns moralisch einzuwirken und dabei den Heidelberger Katechismus als oberste Autorität anzurufen. An einem der ersten Tage nach unserer Ankunft brachte der Vater Johannes und mich zur Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. Da wir alles zusammen gelernt hatten, so waren wir in den Kenntnissen gleich weit, doch wurde Johannes mit Rücksicht auf sein um dreieinhalb Jahre höheres Alter in Obertertia angenommen, während man mich der Untertertia einreihte, welcher auch mein halber Cousin und nachmaliger Busenfreund Ernst Schnabel angehörte. Sogleich wurde für uns eine Anzahl neuer Schulbücher beschafft, deren Besitz einen mächtigen Reiz ausübte. Cäsar und Ovids Metamorphosen, Bachs deutsches Lesebuch und der Schulatlas von Lichtenstern und Lange, dazu ein lateinisches Wörterbuch, diese und andere Schätze fielen uns auf einmal zu. Nicht weniger reizvoll war es, zum ersten Male in einer größeren Gesellschaft von Altersgenossen von methodisch gebildeten Lehrern unterrichtet zu werden. Eine Reihe von Fächern, wie Religion, Naturgeschichte usw., waren für Ober- und Untertertia gemeinsam. Dann zog in der Untertertia, welche zugleich als Aula diente und nur teilweise von der Klasse gefüllt wurde, der ganze Schwarm der Obertertianer ein, und es entwickelte sich ein munteres Leben. Zwar in der Religionsstunde, welche von dem strengen und unheimlich düsteren Direktor Bacterwek erteilt wurde, ging es sehr ernst zu. Eine reichliche Ausgabe von Liederversen und längeren Bibelstellen zum Auswendiglernen hielt uns von Stunde zu Stunde in Angst, bis wir dahinterkamen, daß sich auch bei diesem gefürchteten Schulmonarchen hinter dem Rücken des Vordermanns ablesen ließ. Im ganzen wurde durch diese Stunde der Schatz des aus Bibel und Gesangbuch Auswendiggelernten bedeutend bereichert, nie aber fühlten wir unser religiöses Empfinden durch diesen düstern Fanatiker angeregt oder erwärmt. Sehr lustig ging es hingegen in der Naturkunde bei Dr. Völker zu, welcher schon durch sein formloses Auftreten zum Spotte reizte und schlechterdings keine Disziplin zu erhalten wußte, namentlich wenn er der ganzen kombinierten Tertia gegenüberstand. Störende Zwischenrufe und Schelmereien von seiten der Schüler, polternde Strafreden des Lehrers von fürchterlichem[50] Gesichterschneiden begleitet, füllten einen großen Teil der Stunde aus. Gleich in der ersten Stunde trat dies in die Erscheinung. Die neu Zugekommenen, unter ihnen Johannes und ich, saßen auf der vordersten Bank unmittelbar vor dem Lehrer. Kaum war dieser eingetreten, so entwickelten die Veteranen auf den hinteren Bänken den größten Unfug, worüber Johannes in aller Unschuld das Gesicht zum Lächeln verzog und dafür von dem weisen Pädagogen mit einer schallenden Ohrfeige bedacht wurde, während er sich zu den hinteren Bänken vorzudringen gar nicht getraute. Später, als auch wir nach hinten aufrückten, beteiligte ich mich wohl auch selbst an dem Unfug in der Naturgeschichtsstunde. So konnte ich mich eines Tages, als der Kuckuck besprochen wurde, nicht enthalten, den Kuckucksruf hören zu lassen. Eine Untersuchung nach dem Urheber blieb natürlich erfolglos, und die furchtbaren Drohungen des Lehrers, daß er die ganze Klasse bestrafen wolle, wenn der Täter sich nicht meldete, schreckten uns nicht, da sie niemals ausgeführt zu werden pflegten. Ich blieb also unentdeckt, fühlte aber zu Hause angelangt Gewissensbisse weniger über meine Tat, als darüber, daß ich nicht den Mut gehabt hatte, mich zu ihr zu bekennen. Endlich beschloß ich, zu Völker in die Wohnung zu gehen und meine Schuld zu beichten. Unterwegs stellte ich mir vor, wie ihn dies rühren werde, wie er gütig verzeihend die Hand reichend, ja mich vielleicht in seine Arme schließen und für meine Aufrichtigkeit beloben werde. Ich war daher furchtbar enttäuscht, als der Mann, kaum daß er mein Geständnis vernommen, mich mit einer Flut von Schmähreden überhäufte und endlich zwar ungestraft, aber unter den furchtbarsten Drohungen entließ.

Unser Ordinarius war Dr. Petry, ein blonder, wohlgebildeter Mann, der auch Herz für uns hatte. Als ich einstmals in Strafarrest saß und noch weiteres auf dem Kerbholz hatte, da stellte er sich vor mich hin und sagte mit einer Betrübnis, die mir unendlich wohltat: »Du kommst aus dem Arreste ja gar nicht mehr heraus.« Er war ein eifriger und pflichttreuer, leider aber nicht sehr geschickter Lehrer, so daß die Klasse, welche er im Lateinischen und Griechischen unterrichtete, am Ende des Schuljahres nicht eben glänzend dastand. Nicht viel gewandter war auch der[51] Mathematiklehrer, Professor Fischer, der uns sehr scharf anfassen konnte und daher den treffenden Spitznamen Isegrimm erhielt. Eines Tages rief er meinen Vetter Schnabel an die Tafel vor, um einen geometrischen Satz zu beweisen. Schnabel kam nicht damit zustande und erhielt eine Stunde Arrest. Wenn du, fügte Isegrimm hinzu, den Satz in der nächsten Stunde beweisen kannst, so werde ich dir diese Strafe erlassen. Die nächste Stunde kam, Schnabel mußte wieder vortreten, bewies den Satz richtig und kehrte auf seinen Platz zurück, ohne daß der Lehrer sich sei nes Versprechens zu erinnern schien. Auch Schnabel wagte nicht, dem zornmütigen Manne davon zu reden. Hier empörte sich mein Gerechtigkeitsgefühl, und mit der ganzen Naivität der Oberdreiser Naturkinder stand ich auf und sagte: »Sie haben versprochen, wenn Schnabel heute den Satz könnte, ihm die Strafe zu erlassen.« – »Was willst denn du? Was geht dich das an?« herrschte mich der Grimmige an. – »Schnabel ist mein Vetter und auch mein Freund«, versetzte ich in großer Aufregung, »und ich kann nicht sehen, daß ihm Unrecht geschieht.« Über diese Offenherzigkeit erhob sich allgemeines Gelächter, ich aber, in meinen tiefsten Gefühlen verletzt, brach in Tränen aus, und da war es schön zu sehen, wie der grimmige Isegrimm, nachdem er endlich den Zusammenhang begriffen, mir gütig das Kinn streichelte und mich in seiner herben westfälischen Mundart tröstete und wegen meines »chuten« Herzens lobte, indem er zugleich die über Schnabel verhängte Strafe aufhob.

Da wir durch Petry in den alten Sprachen nicht genügend gefördert worden waren, so erhielten wir nach unserer Versetzung in die Obertertia als Ordinarius den Professor Clausen, einen der ältesten und erfahrensten Lehrer der Schule, welcher in einer fast magischen Weise die Schüler an seine Lehre wie an seine Person zu fesseln wußte. Klein von Gestalt, mit stark ergrautem Haar und Bart, mit lebhaftem, durchdringendem Blicke, so trat er uns entgegen, und alles was er sagte, war Geist und Leben. Wenn er gelegentlich von seinem Xenophon abschweifte und aus dem Hundertsten ins Tausendste kam, so wußte er in uns den Sinn für alles Große und Schöne mächtig zu beleben. Eine Unbotmäßigkeit kam bei ihm so gut wie nie vor, und doch strafte[52] er eigentlich niemals. Ich hatte damals eine Neigung zum Pathos auf Kosten des richtigen Verständnisses. So hatte ich im Deutschen eines Tages die Schillersche Strophe: »Freiheit liebt das Tier der Wüste« usw. zu lesen und führte dies mit Begeisterung, jedoch mit unrichtiger Betonung aus. Die stillschweigende Geringschätzung, welche Clausen meiner rhetorischen Leistung entgegenbrachte, war für mich eine empfindliche, aber heilsame Belehrung. Noch tiefer erschütterte er mich durch einige mir ins Ohr geraunte Worte, welche niemand außer mir zu hören bekam. Wir waren nämlich in unserm Logis doch allzusehr uns selbst überlassen, und so mochte es wohl geschehen, daß ich in Reinhaltung von Gesicht und Händen nicht immer die nötige Sorgfalt beobachtete. Hierauf machte Clausen, indem er zur Durchsicht der Hefte unsere Reihen durchwanderte, durch wenige zugeflüsterte Worte aufmerksam, welche mich vor keinem andern, um so mehr aber vor mir selbst beschämten. Glühend vor Scham kam ich aus den Morgenlektionen nach Hause, begab mich sofort mit Seife und Handtuch zu der im Hofe stehenden Pumpe, und nun ging es an ein Waschen, Reiben und Scheuern, wie es wohl selten vorkommen mag. Derselben Prozedur unterzog ich mich nochmals nach dem Essen, und als ich nachmittags ins Gymnasium trat, da war wohl keiner zu sehen, der sauberer als ich gewesen wäre. Die Wirkung jener wenigen Worte des Lehrers erstreckte sich auf lange Zeit, ja, ich kann sagen, auf mein ganzes Leben.

Eine andere charakteristische Erscheinung unter dem Lehrerpersonal der Obertertia war der eben als junger Lehrer und zugleich als Turnlehrer debütierende Gideon Vogt. Weniger durch hervorragende Intelligenz als durch festen, in den Zügen um Kinn und Mund sich kundgebenden Willen bemerkenswert, wußte er sich bei uns sehr bald in Respekt zu setzen. Freilich waren seine Mittel barbarisch. Ich selbst mußte einmal wegen eines geringfügigen Vergehens aus der Weltgeschichte von Pütz den ganzen Karl den Großen dreimal abschreiben, eine Arbeit, an der ich mehrere Tage zu tun hatte. Ernst Schnabel hatte einmal eine ähnliche lange Strafarbeit, und im Vertrauen darauf, daß sie nicht durchgesehen werden würde, fügte er am Schlusse die Bemerkung bei: »Schon die Kinder Israels wurden von den Vögten hart[53] geplagt.« Unglücklicherweise fiel Vogts Blick bei der Abnahme der Strafarbeit gerade auf diese Stelle, und er applizierte meinem Vetter Schnabel vor der ganzen Klasse eine furchtbare Ohrfeige. Anerkennenswerter war es, daß er eines Tages in der Freiviertelstunde meinen übermäßigen Turneifer zügelte. Ich machte, um mich vor einer größeren Korona zu zeigen, die Kniewelle bis zum Schwindligwerden, wohl ein dutzendmal hintereinander, als Vogt herbeistürzte und rief: »Wer ist der Wahnwitzige, der seine Gesundheit so leichtsinnig aufs Spiel setzt!« – Noch einmal bin ich im späteren Leben als Lehrer in Marburg mit Vogt zusammengetroffen, der Gymnasialdirektor in Kassel war. Er machte auf mich den Eindruck eines warmen und gemütvollen, aber in seinen religiösen Anschauungen doch sehr engen Mannes, und ich begriff nicht, wie ein Mann, dessen kritisches Vermögen an den griechischen und römischen Autoren geschult worden ist, den biblischen Texten gegenüber so sehr alle seine Wissenschaft vergessen konnte. Einen ähnlichen Standpunkt nahm auch Dr. Herbst, später Rektor von Schulpforta, ein, welcher damals mit Ernst und Strenge in der Klasse meines Bruders erfolgreich schaltete. Ich selbst hatte nur eine Berührung mit ihm, bei welcher er mir als rettender Engel erschien. Ein älterer Knabe, an einem Fuße lahm, aber stark, boshaft und gewalttätig, glaubte sich von mir, ich weiß nicht mehr warum, beleidigt. Er packte mich Kleineren und Schwächeren auf dem Schulhofe und warf mich mit solcher Heftigkeit hin, daß er, ehe ich mich erheben konnte, schon wieder herangehinkt war und dasselbe Manöver wieder und wieder ausführte. Schreiend, weinend, ich glaube auch blutend fand ich mich unter den Krallen des Unmenschen, als Herbst herbeieilte, mir Trost einsprach und den andern mitnahm, um ihm, wie er sagte, einen Denkzettel zu geben, den er sobald nicht vergessen solle.

In Elberfeld gehörte ich zu den besseren Schülern; mein Platz war stets auf der ersten oder zweiten Bank, aber eigentliche Freude hatte ich am Studium der Alten damals noch nicht, so gern ich auch jeden ersparten Groschen dazu verwendete, um den Antiquar Schmitz zu besuchen, in seinem Laden herumzustöbern und mit irgendeinem Eutropius oder Vellejus Paterculus[54] oder sonstigem billigen Autor nach Hause zu kommen. Dort wurden die Schulaufgaben so ziemlich erledigt, aber der Rest des Tages gehörte Zerstreuungen an. Zunächst war da an dem Pfosten unserer Zimmertür ein kleines Reck angebracht, an welchem ich mich fleißig übte, gelegentlich auch fürchterlich auf die Nase fiel, ohne daß jemand davon erfahren oder sich darum bekümmert hätte.

Meine Aufmerksamkeit war dem Bau des menschlichen Körpers zugewendet worden, und ich suchte gelegentlich meine Wißbegier dadurch zu befriedigen, daß ich im Hofe des Hauses unter allgemeinem Gespött die Mäuse sezierte, welche in dem Warenlager oft genug gefangen wurden.

Weniger harmlos war es, daß ich schon mit vierzehn Jahren in ein richtiges Bier- und Tabakskollegium hereingezogen wurde. Es brach nämlich im Sommer 1859 zu Elberfeld die Cholera aus, und der Hausarzt, Dr. Hockelmann, nahm auch uns vor und zählte uns alles auf, was wir nicht essen und trinken durften. Naiv fragte ich ihn, ob Rauchen uns gestattet sei, welches er lachend bejahte. Ich hatte schon früher, durch das Beispiel des stark rauchenden Vaters angefeuert, mich im Rauchen versucht. Schon lange vorher hatte ich an einem Karfreitagnachmittag, während alle andern in der Kirche waren, mit Emil Kleff, dem Anstifter so vieler Unarten, eine von dem Vater besonders geschätzte Pfeife mit Luther und der Wartburg darauf zu erlangen gewußt. Wir stopften sie gemeinsam und gingen in die Küche, um eine Kohle daraufzulegen, und hierbei fiel der Kopf auf die steinernen Fliesen und zerbrach. Wir entfernten die Trümmer, und merkwürdigerweise hat Papa diese Lieblingspfeife niemals vermißt. Dergleichen erste Rauchversuche kamen noch öfter vor, aber nicht wenig stolz war ich, als es mir gelang, Ostern 1858 bei der Heimreise auf dem Rheindampfer eine ganze Zigarre zu rauchen und die aufkommende Übelkeit glücklich zu verwinden. Jene Antwort des Dr. Hockelmann im Cholerasommer des Jahres 1859 gab nun der Sache eine gewisse Sanktion. Sofort auf seine Ermahnungen hin eilte ich zum Drechsler und kaufte mir für siebeneinhalb Groschen eine lange Pfeife, die dann Tag für Tag bei der Arbeit fleißig benutzt wurde. Diese Neigungen wurden noch[55] mehr genährt durch einen jungen Mann, welcher Johannes' Klasse besuchte und ebenfalls bei Altgelt ein Zimmer neben uns bewohnte. Er verpflanzte die studentischen Gewohnheiten in unser unschuldiges Schülerleben, Bier wurde getrunken, Lieder gesungen und Tabak dazu geraucht. Bald erschien dieser, bald jener Kamerad. Ja, wir wagten es sogar, der Schlußfeier Michaelis 1859 fernzubleiben in der Erwartung, daß man es nicht bemerken werde. Zufällig aber kam es doch zutage, und wir gingen in die Ferien mit der Aussicht, nach unserer Rückkehr noch bestraft zu werden. Indessen kehrte ich nicht mehr nach Elberfeld zurück, wie nachher zu berichten sein wird. Zuvor aber ist über Elberfeld noch mancherlei nachzutragen.

Was uns an Vergnügungen geboten wurde, war sehr wenig. Einige Male unternahm die Familie Altgelt einen Ausflug, und dann wurden auch wir mitgenommen, sei es nach dem Brill, um dort bei den Bauern Milch zu trinken, oder nach Kronenberg, wo ich mir an Schinken und dicken Bohnen den Magen verdarb. An einem andern Sonntage wanderten wir drei Brüder über Vohwinkel und Hahn bis nach Hochdal und kehrten gegen Abend in der vierten Klasse der Eisenbahn seelenvergnügt zurück. In den Sommermonaten war unser Hauptvergnügen natürlich das Baden. Im ersten Jahre scheuten wir nicht die weite Wanderung bis zu Wolf in der Mirke, wo das Abonnement nur drei Mark kostete. Im zweiten Jahre verstiegen wir uns sogar zu einem Abonnement von sechs Mark in dem vornehmeren Teiche von Lellmann. Hier badeten auch die beiden Kommis von Altgelts, und unter ihrer Ägide übte ich die Schwimmstöße, welche sie mir zeigten, solange bis ich mich über Wasser halten konnte und nach und nach aus mir allein das Schwimmen lernte. Am Sonntagnachmittag machten wir eine Zeitlang regelmäßig einen Besuch bei einem Herrn Bartelemy in Barmen, dessen Tochter in Oberdreis in Pension war, und welcher immer sehr interessant über die politischen Ereignisse während der Woche zu erzählen wußte. Er ließ durchblicken, daß er uns seinen Emil gerne besuchsweise in den Herbstferien nach Oberdreis mitgeben wollte. Wir fragten darum zu Hause an, erhielten aber die Antwort, daß es aus Mangel an Platz nicht angehe. Wir hüteten uns daher bei[56] unserm letzten Besuche vor den Ferien im Hause Bartelemy irgend etwas zu äußern, was wie eine Einladung hätte gedeutet werden können, und waren daher nicht wenig erschrocken, als Herr Bartelemy plötzlich ausrief: »Nun, da ihr ihn durchaus mit euch nehmen wollt, so will ich meine Einwilligung dazu geben.« Wir wagten nicht zu widersprechen, und so mußten wir den kleinen pfiffigen, aber schon mit allen Straßenjungenstreichen wohlvertrauten Bengel mit nach Oberdreis nehmen.

Bei dem bigotten Tone, der in Elberfeld herrschte, wurden wir veranlaßt, regelmäßig zur Kirche zu gehen, und die damaligen Prediger, der feurige Künsel, der tiefe und schwerverständliche Ball, der geistvoll plaudernde Kohl stehen mir noch lebhaft vor Augen. Bei Pastor Kohl ging ich auch in die Kinderlehre. In Oberdreis hatten wir den Heidelberger Katechismus, wenn auch nicht gelernt, so doch lernen sollen; in Elberfeld wurde das sogenannte Lampenbuch auswendig gelernt, in welchem zu den schon an sich langen und schweren Fragen des Heidelbergers noch längere und schwerere von einem gewissen Lampe zugefügt waren, welche uns beim Auswendiglernen viel Kopfschmerzen bereiteten, ohne daß wir doch auch nur einen nennenswerten Teil in uns aufgenommen oder verstanden hätten. Um so interessanter waren die Kinderlehrstunden bei Pastor Kohl. Während sich die Teilnehmer nach und nach einfanden, ging er vor uns auf und ab und wußte, an irgendeinen gefälligen Umstand anknüpfend, die interessanteste Plauderei über Gegenstände der Geschichte, der Kunst und des Lebens zu führen, welche sich noch weit in die Stunde hinein fortsetzte und viel anregender war als diese selbst. Im übrigen wurden wir von künstlerischen Eindrücken sehr wenig berührt. Theater und Konzerte galten für weltliches Teufelswerk, und als das Kasino abbrannte, sollte man aus der dortigen Freimaurerloge den leibhaftigen Satan haben entweichen sehen. Gar zu gerne hätte ich einmal ein Theater besucht, und als Papa einstmals uns besuchte, gelang es uns wirklich, von ihm die Erlaubnis zum Besuche eines moralischen Stückes zu erschmeicheln. Als wir aber nach Hause kamen, empfing uns Frau Altgelt mit den Worten: »Sagt nur niemand, wo ihr gewesen seid.« Das moralische Stück hieß: Drei Tage aus dem Leben eines Spielers.[57] Obgleich wir dasselbe nur von den fernen Plätzen des Olymps aus genießen konnten, so erschütterte es mich doch aufs tiefste; ich wußte hinterher so ziemlich das ganze Stück auswendig und habe es am folgenden Tage den weniger engherzigen Tanten Brüning von Anfang bis zu Ende vorgespielt. Dieses Haus Brüning war dann überhaupt für uns ein Zufluchtsort in allen Nöten. Hier fanden wir stets freundliche Aufnahme und mütterliche Fürsorge, welche so weit ging, daß Marie Brüning mir am Sonnabendabend ein warmes Fußbad bereit hielt. Die Sache kam, ich weiß nicht wie, der Frau Altgelt zu Ohren, welche mir darüber Vorhaltungen machte und sie mit ihren giftigsten Katzenblicken begleitete.

Nicht weit von Brünings Hause und ebenfalls auf dem Wall wohnte Tante Elise Röhr, welche als Konkurrentin von Brünings ebenfalls ein kleines Bettengeschäft hatte und daneben sich der Pflege ihrer alten Mutter widmete. Diese, eine dicke, schwerfällige und schwerhörige Person, habe ich nie anders gesehen als im Lehnstuhl am Fenster mit der Schnupftabaksdose in der Hand. Daß sie daneben der Flasche zusprach, ebenso wie ihr Sohn Karl, wurde behauptet, aber ich kann es weder bestätigen noch widerlegen. Übrigens starb die Alte bald, und nun nahm Tante Röhr, deren Frömmigkeit mit den Jahren sich noch immer mehr verschärfte, zwei allerliebste Nichten, Marie und Johanna Stürmer, in ihr Haus, um nach dem Tode ihrer Eltern deren weitere Erziehung zu leiten. Beide waren Kusinen von Ernst Schnabel und Halbkusinen von mir, und durch ihren Aufenthalt gewann das früher so düstere Haus für uns beide bald eine große Anziehungskraft. Namentlich am Sonntagnachmittag stellten wir uns ein. Dann fragte mich wohl Tante Elise: »Paul, kannst du auch deinen Katechismus?« – »Ja, Tante, ich denke, es wird schon gehen.« – »Nun, dann laß einmal hören.« Natürlich ging es dann nicht, und nun nahm mich Tante Elise sanft bei der Hand und schloß mich für ein halbes Stündchen in ein Zimmer ein, bis ich meine Aufgabe konnte und dann mit Ernst Schnabel und den Mädchen spielen durfte. Diese Spiele, so unschuldig sie waren, trugen doch wesentlich dazu bei, daß das junge Herz Feuer fing. Von besonderem Einflusse war dabei ein Sonntagnachmittag,[58] an welchem Ernst und ich mit den beiden Mädchen allein zu Hause waren und nun ein Pfänderspiel mit reichlichen Küssen in Gang brachten, was wir in Gegenwart der strengen Tante nie gewagt haben würden. Von da ab betrachtete ich Marie Stürmer, obwohl sie 43 Tage älter als ich war, als die auserkorene Königin meines Herzens, und Ernst Schnabel, mit dem ich gelegentlich bei Zigarren und Bier die heiligsten Schwüre ewiger Freundschaft auszutauschen pflegte, wußte die aufkeimende Leidenschaft noch mächtig zu bestärken. Wir schlossen eine Art Bündnis: Ernst Schnabel war verliebt oder bildete sich ein, verliebt zu sein in Marie Altgelt, welche eben aus der Pension in Oberdreis zurückgekehrt im Hause ihrer Eltern mit mir zusammenwohnte. Ich versprach dem Freunde, seine Interessen bei Marie Altgelt zu vertreten, und er überließ mir dafür Marie Stürmer. Aber die Beharrlichkeit, mit der ich mich immer mehr in dieses Mädchen hinein verliebelte, veranlaßte, daß Ernst Schnabel, auf ihren Wert hierdurch aufmerksam gemacht, seine flatterhaften Neigungen von Marie Altgelt auf Marie Stürmer übertrug; und nun gefielen die beiden Knaben sich in der Vorstellung, dasselbe Mädchen zu lieben, die heftigsten Rivalen zu sein, und doch dabei in dem Gefühl ewiger Freundschaft zueinander zu schwelgen. Eines Tages, als wir gerade allein in Tantes Wohnung waren, rissen wir ein Bild der Geliebten von der Wand, ließen davon beim Photographen Liesegang zwei Abdrücke nehmen und wußten das Bild wieder an seine Stelle zu bringen, ohne daß jemand etwas davon gemerkt hatte. Die Abdrücke fielen sehr blaß aus; den einen erhielt Ernst Schnabel, den andern nahm ich mit mir nach Schulpforta, wo er an einer mir und auch andern leicht sichtbaren Stelle befestigt, fünf Jahre hindurch den Gegenstand meiner stillen Verehrung bildete. Unter den Kameraden war die bescheidene Photographie bekannt als das »Nebelbild«.

Die Herbstferien des Jahres 1859 waren gekommen, ich war mit gutem Zeugnisse, ich glaube als Fünfter, nach Untersekunda versetzt worden und zog wohlgemut in die Ferien nach Oberdreis, nicht ahnend, daß ich nicht wieder nach Elberfeld zurückkehren würde.

Quelle:
Deussen, Paul: Mein Leben. Leipzig 1922, S. 48-59.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Leben
Mein Leben: Herausgegeben von Dr. Erika Rosenthal-Deussen [Reprint der Originalausgabe von 1922]

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon