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Am rechten Ufer des Rheines zwischen Lahn und Sieg erhebt sich das waldreiche, zum Teil rauhe Hochland des Westerwaldes. Auf ihm liegt, fünf Stunden vom Rheintale entfernt, und noch ehe dessen mildere Lüfte sich fühlbar machen in weltentrückter Einsamkeit, die erst in den letzten Jahrzehnten durch Erbauung der immer noch über eine Stunde entfernten Westerwaldbahn sich zu beleben beginnt, das kleine und arme Dorf Oberdreis, wo ich am 7. Januar 1845 geboren wurde. Ein Arzt war bei diesem sehr leicht und glücklich verlaufenden Ereignisse nicht zugegen; die Hebamme, welche Beistand leistete, mußte aus dem schon jenseits der Landesgrenze im Herzogtum Nassau gelegenen Dorfe Roßbach geholt werden. Oberdreis als Kirchdorf bildet mit dem nördlich gelegenen sehr armen Dorfe Lautzert und mit den abwärts in dem westlichen Tale schon einer milderen Luft und etwas größeren Wohlstandes sich erfreuenden Dörfern Dendert und Hilgert eine Pfarrgemeinde evangelisch-unierten Bekenntnisses, welcher mein Vater von 1844 bis 1884 vierzig Jahre und fünf Monate als Pastor vorgestanden hat. Wie mein Vater der Seelsorger, ebenso und noch mehr war meine Mutter während dieses langen Zeitraumes eine wahre Seelsorgerin der Gemeinde, immer bereit, den Notleidenden mit Rat, Trost und tätiger Hilfe beizustehen. Inniger noch als mein Vater war sie mit allen Verhältnissen des Kirchspiels vertraut und hat je später um so mehr neben der Sorge für Haus und Familie auch einen großen Teil der Pastoratsgeschäfte mit Umsicht und bestem Erfolge verwaltet.[1] Und doch waren beide Eltern ursprünglich Fremdlinge in der Gegend, in welcher sie den Wirkungskreis ihres Lebens fanden. Denn Oberdreis liegt noch in fränkischem Sprachgebiete ziemlich nahe an dessen nordwestlicher Grenze, da, wo die oberdeutsche Mundart durch das Hereinspielen des Niederdeutschen ein eigentümliches und seltsames Gepräge annimmt. Meine Eltern hingegen stammten beide aus dem Niederlande, jenseits des Rheines, so daß das Deutsche im Pfarrhause anfänglich mit ganz anderm Akzent als im Dorfe gesprochen wurde. Diesem Umstande ist es wohl zuzuschreiben, daß das Deutsch, welches wir Kinder sprachen, sehr bald jede dialektische Färbung verlor. Zum besseren Verständnisse des Weiteren wird es notwendig sein, zunächst einiges über die Herkunft meiner Eltern zu sagen.
Weder von väterlicher noch von mütterlicher Seite her ist meine Abkunft eine rein bürgerliche, sofern von der einen Seite bäurisches, von der andern adliges Blut in meinen Adern zusammengeflossen ist. Gehe ich in der Reihe meiner Väter aufwärts, so war noch mein Großvater ein wohlhabender Bauer, und ebenso steht es mit seinen Vorfahren, soweit sie sich auf einem noch vorhandenen Stammbaume etwa zwei Jahrhunderte zurückverfolgen lassen. Gehe ich hinwiederum auf der mütterlichen Seite immer von Mutter zu Mutter aufwärts, so gehörte meine Urgroßmutter zu der in Mühlhofen angesessenen Adelsfamilie derer von Au. Wilhelmine von Au, eine wegen ihrer Vortrefflichkeit hochverehrte und von allen, die sie kannten, geliebte Frau, heiratete den in dem kleinen Landstädtchen Wevelinghoven bei Neuß wirkenden Prediger Trappen und blieb auch nach dessen frühzeitigem Tode mit ihren sieben Kindern in Wevelinghoven wohnhaft. Sein Nachfolger im Amte war mein Großvater, Jakob Weimar Ingelbach, der einzige Sohn eines wohlhabenden Farbwaren- und Drogenhändlers in Düsseldorf. Nur ungern fügten sich die Eltern seinem brennenden Wunsche, zu studieren. Nachdem er zu Duisburg und Göttingen das theologische Studium absolviert hatte, wurde dieser, mein Großvater Ingelbach, im Jahre 1805 der Amtsnachfolger meines Urgroßvaters Trappen zu Wevelinghoven. Zunächst führte ihm die eine und sodann eine zweite Schwester die Wirtschaft, aber auch nachdem sich beide verheiratet[2] hatten, war es den Schwestern und der befreundeten Frau Werner Koch nicht möglich, ihn zu einer Heirat zu bestimmen. Er lebte ganz in seinen theologischen und astronomischen Studien, saß bis tief in die Nacht hinein, um die Sterne zu beobachten und zu berechnen, und oft trieb ihn erst der über den Büchern aufdämmernde Morgen, das Bett aufzusuchen. Eine ganze Reihe vollgeschriebener und schwer zu entziffernder Bände von seiner Hand sind noch erhalten. Daneben war er ein großer Freund der Musik und soll die Sonaten von Haydn, Mozart und Beethoven mit vollendeter Meisterschaft gespielt, wie auch Eigenes komponiert haben. Die Noten kaufte er nicht, sondern entlieh sie und schrieb sie für seinen Gebrauch ab. Da starb im Februar 1810 die Frau seines Amtsvorgängers Trappen. In ihren schweren Leiden hatte sie mein Großvater oft besucht und getröstet, und als er die sieben hilflosen Waisen um ihre Bahre stehen sah, da erfaßte ihn ein Mitleid, welches stärker war als alle Grundsätze des Junggesellenlebens, und rasch entschlossen bat er die älteste, von ihm selbst unterrichtete Tochter, die erst sechzehnjährige Wilhelmine Trappen, um ihre Hand. Sie erschrak und konnte sich nicht entschließen, ihrem so hochverehrten Seelsorger als Gattin zu folgen, und erst als wohlmeinende Freunde ihr vorstellten, daß die jüngeren Geschwister bei den Verwandten verteilt werden müßten, sie selbst aber nur die Wahl habe, entweder bei fremden Kindern oder als Ladenmädchen ihr Brot zu verdienen oder den Pastor zu heiraten, da wählte sie als das kleinste Übel die Heirat, und so geschah es, daß der Großvater die Großmutter nahm.
Ihre Ehe war mit neun Kindern gesegnet, von denen sechs am Leben blieben, vielfach mir nähergetreten sind und wohl noch öfter in dieser Geschichte vorkommen werden. Jakobine, meine Mutter, war die Älteste, geboren während der Leipziger Schlacht am 15. Oktober 1813. Dann folgten noch zwei Töchter, Hannchen und Nettchen; erstere heiratete später den Gerber Aretz in Wevelinghoven, letztere reichte nach langer Mädchenschaft dem Buchhändler Falk in Duisburg die Hand. Auf die drei Mädchen folgten drei Knaben: Friedrich, der als Kaufmann in Paris zu großem Reichtum und Ansehen gelangte, August, der als Buchbinder in Wevelinghoven trotz aller Hilfe durch seinen älteren[3] Bruder nie recht auf einen grünen Zweig gekommen ist, und der kurz vor dem Tode des Vaters geborene Gerhardt, der von rastlosem Ehrgeize getrieben nach Paris ging, um es seinem Bruder Friedrich gleichzutun, aber kein Glück hatte, in immer steigende Verbitterung verfiel und schließlich in geistiger Umnachtung endete. Das Leben dieser Familie war infolge der eigentümlichen Grundsätze meines Großvaters bis zu seinem Tode 1830 nach außen hin ein sehr abgeschlossenes. Zwar übte er gewissenhaft vie Pflichten seines Amtes, besuchte als Seelsorger einmal im Jahr jede Familie seiner Gemeinde, wie er denn auch jeden Morgen abwechselnd drei Familien in sein Gebet einschloß und ihre besonderen Bedürfnisse und Nöte in seinem Herzen bewegte. Im übrigen aber verkehrte er mit niemandem und schloß sich und seine Familie gegen die Außenwelt vollständig ab. Abgesehen von den Sonntagnachmittagsbesuchen bei der Tante und ganz seltenen Ausflügen durch Gärten und Felder, waren die Kinder durchaus auf das eigene Haus und den zugehörigen Garten beschränkt, in welchem sie sich kleine Erdhöhlen bauten und nach Lust herumtummeln durften. Hingegen war es ihnen verboten, das nach der Straße führende Hoftor zu öffnen, so daß sie nur durch die Fenster der Wohnung das Leben auf der Straße beobachten konnten. Eine Schule wurde nicht besucht, in allem unterrichtete der geistig überaus regsame Vater seine Kinder selbst. Ja, er gab daneben auch noch fremden Kindern Lektionen, zuerst unentgeltlich, und als die Eltern dies nicht mehr annehmen wollten, rechnete er für die Stunde 21/2 Stüber (10 Pfennig). Der Unterricht war vielseitig und anregend. Nach den Stunden erzählte der Vater seinen Kindern Geschichten, biblische wie weltliche, musizierte mit ihnen und leitete sie zum Zeichnen und Malen an. Meine Mutter bewahrte noch dicke Hefte, in denen sie alle Gegenstände und Personen der Umgebung vielfach unter seiner Leitung gezeichnet und gemalt hatten. Erst abends, wenn die Kinder zu Bett waren, holte der treffliche Mann seine dicken alten Bücher hervor, vertiefte sich in theologische und astronomische Probleme, schrieb und rechnete, und meine Großmutter bedurfte ihrer ganzen Geduld und Sanftmut, wenn er oft nicht zu bewegen war, die Ruhe aufzusuchen. Diese Lebensweise bewahrte[4] die Kinder vor schlechten Einflüssen, hatte aber auch ihre Schattenseiten, und meine Mutter beklagte, daß es ihr infolge der Abschließung in ihrer Jugend all ihr Leben lang an Gewandtheit im Umgange gefehlt habe. Indessen kann ich versichern, daß sie bei einem sehr sichern Taktgefühl in ihrem Berufskreise niemals der erforderlichen Kunst, mit Menschen umzugehen, ermangelt hat. Übrigens sollte sie sehr bald Gelegenheit haben, sich in schwierigeren Lebenslagen zu bilden.
Schon 1830 erlag mein Großvater den Anstrengungen, welche ihm die Ausübung seines Amtes im Winter auferlegte, und während die Großmutter mit den übrigen Kindern in Wevelinghoven blieb, wurde meine bereits konfirmierte Mutter nach Elberfeld in das Haus ihres Onkels, des Oberbürgermeisters Brüning, gebracht, zunächst für ein Jahr zu ihrer weiteren Ausbildung. Dann aber wollten beide Teile nicht voneinander lassen, und so blieb meine Mutter noch fünf weitere Jahre in dem Hause des Onkels, indem sie sich der Pflege einer dort lebenden Großmutter widmete. Diese sechs Jahre in Elberfeld waren für sie die Hochschule, in welcher sie die Ausbildung fürs Leben gewann. Dort wurde der von Haus aus aufrichtig fromme Sinn meiner Mutter durch die Einflüsse in Elberfeld zu einem Pietismus zugespitzt, der später in meinem Elternhause in zahlreichen Andachtsübungen zum Ausdrucke kam, aber auch meiner Mutter manchen Kummer brachte, wenn sie ihre Kinder auf freieren Bahnen wandeln sah und erst spät im Leben eine gewisse Toleranz üben lernte.
Inzwischen wuchsen in Wevelinghoven die drei Brüder meiner Mutter heran, und es wurde notwendig, für ihre Ausbildung zu sorgen. Um dazu beizutragen, verließ meine Mutter das liebgewordene Elberfeld und nahm eine Stelle als Pflegerin bei der schon erwähnten Frau Koch an, mit hundert Talern jährlich, von denen sie die Hälfte an die Mutter abgab. Ihr Dienst war schwer; Frau Koch litt an einem Krebsleiden, und meine Mutter mußte sie verbinden, pflegen und bedienen. Nach kurzem Aufenthalte in Wiesbaden unterwarf sich die Kranke einer Operation in Düsseldorf; aber ehe die Wunde an der Brust noch geheilt war, brach das Übel aufs neue wieder aus. Jetzt zog sich Frau Koch[5] in ihr großes und schönes Haus nach Wevelinghoven zurück und hier gab es noch einen zweiten Patienten zu pflegen. Frau Kochs einziger Sohn hatte sich durch seinen Reichtum zu einem ausschweifenden Leben verleiten lassen, und nun saß er zu Hause, blind und mit verkrümmten Gliedmaßen zusammengebückt im Lehnstuhl und mußte wie ein Kind gepflegt werden. Geistig war er noch frisch und geneigt, über alles zu spotten, was meiner aus dem Wuppertale zurückkehrenden Mutter heilig war. Sie ertrug alles mit Geduld, und nur einmal, als er ihr zumutete, am Karfreitagmorgen aus dem vor kurzem erschienenen, aber von den Elberfeldern zum untersten Pfuhle der Hölle verdammten Leben Jesu von Strauß vorzulesen, da verweigerte ihm meine Mutter den Gehorsam, und er mußte sich darein fügen.
Um diese Zeit hörte der junge Koch, daß sein alter Freund und Schulkamerad, der Kandidat Adam Deussen zu Kelzenberg, aus Westfalen zurückgekehrt und augenblicklich ohne Stellung sei. Sofort schickte er nach ihm und band ihn als Gesellschafter an sein Haus. So trafen in dem Hause des Reichtums und des Unglücks die beiden Personen zusammen, welche dazu bestimmt waren, den Knoten meines Daseins zu schürzen.
Adam Deussen war der Sohn eines begüterten Bauern in dem anderthalb Stunden westlich von Wevelinghoven gelegenen Dorfe Kelzenberg. Er war geboren nach der eigenhändigen Aufzeichnung seiner Mutter in ihrer Familienbibel am. 26. November 1801. Hingegen verzeichnen ihn die damals in der Kriegszeit sehr unordentlich geführten offiziellen Listen als geboren am 10. Frimaire des zehnten Jahres der fränkischen Republik, und sonach muß es unentschieden bleiben, ob mein Vater 1801 oder 1803 geboren ist. Außer ihm war noch ein älterer Bruder, Hannes, und drei jüngere Brüder, Wilhelm Heinrich, Neras (Kornelius) und Köbchen (Jakob) da, während ein sechster, mit Namen Werner, als Soldat in Köln starb. Die übrigen sind mir als wohlhabende Bauern des Jülicher Landes noch in guter Erinnerung. Der Schulunterricht in der Dorfschule wurde nur im Winter betrieben, im Sommer wurde die Jugend teils zur Feldarbeit herangezogen, teils sich selbst überlassen. Oft noch erzählte mein Vater, wie er eine Kuh am Strick führen hatte, den[6] Strick sich selbst ums Bein schlang und so auf einen Kirschbaum stieg, eine Verbindung des Angenehmen mit dem Nützlichen, welche ihm übel hätte bekommen können. Obgleich in dieser Weise seine Jugend wenig vom Bücherstaube berührt wurde, wie er denn all sein Leben durch kein sonderlicher Freund der Bücherweisheit gewesen ist, so entdeckte man doch in ihm höhere Anlagen und beschloß, ihn studieren zu lassen. Nach anderer Version soll er sich zu den ländlichen Arbeiten so unlustig und ungeschickt erwiesen haben, daß man ihn, um doch etwas Brauchbares aus ihm zu machen, zum Studium, selbstverständlich der Theologie, bestimmte. Dies war unzweifelhaft ein Mißgriff. Mein Vater hätte vermöge seines intuitiven Verstandes, seiner Gewandtheit, Jovialität und eines sicheren Taktgefühls in hundert Fächern Bedeutendes, vielleicht Eminentes leisten können, aber zum Prediger und Seelsorger mochte er sich weniger eignen als manche andere, die an Klarheit der Auffassung, Sicherheit des Urteils und richtigem erfolgreichen Eingreifen weit hinter ihm zurückstanden. Notdürftig wurde er drei Jahre hindurch durch Privatunterricht vorbereitet und wanderte dann zu Fuß mit einem Freunde nach Marburg, wo er zwei Jahre, und hierauf nach Bonn, wo er ein drittes Jahr seine Theologie studierte. Von seinen Lehrern erwähnte er mir gegenüber den Professor der Philosophie Suabedissen in Marburg und den Theologen Nitzsch in Bonn, den er oft rühmte, und der wohl am tiefsten auf ihn eingewirkt hat. Übrigens war er nicht nur ein fleißiger, sondern auch ein lustiger Student, wie er denn auch später nie ein Kopfhänger gewesen ist. Wenn mich eine etwas unsichere Erinnerung nicht täuscht, so gehörte er als Konkneipant dem Korps der Westfalen an. Ich fragte ihn einmal: »Papa, hast du auch ein Duell gehabt.« – »Es war geplant«, erwiderte er; »ich hatte einen gefordert, aber der Kerl kam nicht, hatte peurs, so unterblieb's.« In Köln wurde 1825 das erste und in Koblenz 1826 das zweite theologische Examen mit Ehren bestanden. Dann aber folgte eine vierzehnjährige Kandidatenschaft, ohne daß eine Stelle sich für ihn eröffnete, so beliebt er auch überall bei den Gemeinden war, in denen er Aushilfedienste geleistet hat. So wandte er sich, nachdem er vier Jahre hindurch an sechs verschiedenen Orten als[7] Hilfsprediger tätig gewesen war, 1831 nach Kamen und vertrat dort sechs Jahre hindurch den altersschwachen Pastor in der sichern Hoffnung, nach dessen Tode in seine Stelle einzurücken. Das Leben verlief dort unter einer schwerfälligen, fast allein materiellen Interessen hingegebenen Bevölkerung ohne alle geistige Anregung, und eine innere Stagnation trat ein, deren Folgen nie ganz überwunden wurden. Mit getäuschter Hoffnung kehrte er 1837 mutlos und gebrochen in die Heimat zurück, und hier war es, wo ihn sein Jugendfreund Koch entdeckte und in sein Haus zog. Das bescheidene, verständige und fromme Mädchen, welches in so aufopfernder Weise seinen schweren Dienst versah, erweckte bald seine Neigung. Sie aber fand an dem um zwölf Jahre älteren und durch ein langes Junggesellenleben etwas verwahrlosten Kandidaten kein sonderliches Wohlgefallen, und erst als Papa eines Tages durch die Küche ging, seine Pfeife am Herdfeuer ansteckte und in die Worte ausbrach: »Mir muß aber auch alles fehlschlagen!« da fühlte sie sich von tiefem Mitleid er faßt, ohne daß es fürs erste zu einer Aussprache gekommen wäre. Aber die kluge Frau Koch sah voraus, was kommen würde, und nahm meiner Mutter das Versprechen ab, bei ihrem Sohne wenigstens so lange auszuhalten, bis Deussen sie als Pfarrersfrau in sein Haus einführen könne. Sie starb im Februar 1838, und einige Monate darauf erfolgte die Verlobung. Nun ging mein Vater zur Aushilfe nach Feldkirch bei Neuwied; aber so beliebt er auch dort in kurzer Zeit geworden war, so scheiterten doch die einmütigen Bitten der Gemeinde, ihn zum Pfarrer zu erhalten, an dem von dem Fürsten zu Wied als Patronatsherrn festgehaltenen Grundsatze, eine so einträgliche Stelle nur einem älteren Geistlichen seines Fürstentums zu verleihen. Endlich eröffnete sich eine bescheidene Aussicht und im März 1840 wurde mein Vater zum zweiten Pfarrer der Gemeinde Dierdorf ernannt, welcher gleichzeitig eine nur von wenigen Schülern besuchte Rektoratsschule zu unterhalten verpflichtet war. Am 19. Juni feierten meine Eltern im Hause der Großmutter in Wevelinghoven ihre Hochzeit, und als beide eine Woche später von Neuwied aus zu Fuß kommend in Dierdorf eintrafen, da wurden sie, nachdem ausgestellte Wachtposten ihr Herannahen gemeldet, vor dem bekränzten Pfarrhause[8] mit dem Gesang der Schulkinder und mit einer herzlichen Ansprache des die erste Stelle verwaltenden Pfarrvikars Reinhardt empfangen. Dieser Reinhardt und seine noch heute im hohen Alter lebende Gattin wurden nach Übernahme der Pfarrei in dem eine Stunde von Oberdreis entfernten Puderbach unsere nächsten Nachbarn und innigsten Freunde. Diese Freundschaft hat sich auch auf die Kinder übertragen, und noch heute wüßte ich kaum einen, der meinem Herzen so nahe stünde, wie der einzige Sohn dieser Familie, Karl Reinhardt, Direktor des Goethegymnasiums zu Frankfurt a.M.
In Dierdorf wußten die Eltern unter engen Verhältnissen sich behaglich einzurichten. Dem praktischen Sinn meines Vaters gelang es, aus unbenutzten Räumen durch Umbau eine behagliche Wohnung herzustellen, in welcher sich meine beiden älteren Brüder Johannes am 16. Juni 1841 und Werner am 25. November 1842 als hochwillkommene Insassen einfanden. Ein Legat des um diese Zeit verstorbenen Koch von tausend Talern zusammen mit 500 von seiner Mutter übermachten Talern legte den Grund zum späteren Vermögen der Familie, von dem noch die Rede sein wird. Da die mit der zweiten Pfarrstelle in Dierdorf verbundene Lateinschule meinem Vater bei seiner Vorliebe für ein zwangloses Leben zu einer immer größeren Last wurde, so verzichtete er gerne auf die Vorzüge des Lebens in einer kleinen Stadt, als sich eine Dorfstelle für ihn eröffnete, und so siedelte die kleine Familie im Oktober 1843 nach Oberdreis über. Hier wurde ich als dritter Sohn fünfzehn Monate später geboren, hier verbrachte ich die ersten zwölf Jahre unter den Vorzügen und Nachteilen des ländlichen Lebens. Die frische, etwas rauhe Luft des Westerwaldes bei ausreichender, wenn auch überaus einfacher Ernährung führte zu einer Stählung des Körpers, welche mir das Leben hindurch zugute kam, aber die Einförmigkeit und die Dürftigkeit der äußeren Eindrücke ließ es zu keiner gehobeneren Lebensstimmung kommen. Wie im Dämmerlicht flossen meine Tage dahin, und charakteristisch ist, daß mich die Wonne des Daseins zum erstenmal durchschauerte, als ich zehn Jahre alt in Vaters altem und wenig benutztem griechischen Neuen Testamente das Griechische lesen lernte.[9]
Wenn ich im Familienkreise es wagte, die Umgebung von Oberdreis für einförmig, unbedeutend, nichtssagend zu erklären, so konnte dies gelegentlich einen Sturm der Entrüstung veranlassen, und teilweise mochte mein Urteil aus einer mir tief eingepflanzten Neigung entsprungen sein, an jedem gegenwärtigen Zustande die Schattenseiten hervorzuheben, oder, wie man sagt, darauf zu schimpfen, eine Neigung, die ich von meinem Vater geerbt haben mag, und welche bei uns beiden keineswegs den behaglichsten Genuß der Gegenwart ausschloß, vielmehr, wenigstens was mich betrifft, ihre Wurzel in einer geheimen, halb unbewußten Angst hat, durch Zufriedenheit mit dem bestehenden Zustande den Sporn zum weiteren Streben abzustumpfen.
Doch, um auf Oberdreis zurückzukommen, so mag ich es wohl oft zu hart beurteilt haben. Einsam war das Dorf und einförmig das Leben in ihm, aber eine gewisse Lieblichkeit läßt sich doch weder den um den Kirchhügel mit Kirchhof und uralter Riesenlinde herumgeworfenen, strohbedachten Häusern absprechen noch auch dem Wiesental und murmelnden Bach da unten und den kornbewachsenen Feldern, welche sich in sanftem Ansteigen bis zu den waldbewachsenen Höhen fortsetzen. Da war im Süden der mit Tannen bewachsene Oberdreiser Berg, den ich meinen Neriton1 zu nennen pflegte, und die nach Osten und Westen sich fortsetzende Hügelkette, bestanden mit prachtvollen Eichen, nur daß eine blödsinnige Verwaltung früherer Zeiten sich hatte einreden lassen, daß die Eichen besser gedeihen würden, wenn man die Spitze der Kronen abschnitte, und nun standen sie da für alle Zukunft verstümmelt und verunstaltet und boten meinem Vater ein unerschöpfliches Thema, wenn er gelegentlich das Bedürfnis fühlte, über den Westerwald, über seine Zurückgebliebenheit, Verkommenheit und Dummheit sich weidlich zu ereifern. Auf der entgegengesetzten Seite des Tales stieg man den Rodenbacher Weg hinauf zu einer auf der Höhe zwischen Wäldern von Lautzert nach Steimel und Puderbach verlaufenden Landstraße. Im Frühling, wenn die Schneemassen der umliegenden Wälder schmolzen, pflegte diese Landstraße stellenweise zu einem undurchdringlichen[10] Morast zu werden, und man mußte sich an der Seite einen Weg durch das Gestrüpp bahnen. Im Sommer hingegen bot diese Landstraße einen beliebten Spaziergang. Auf beiden Seiten wuchsen im Gebüsch unerschöpfliche Mengen von Waldbeeren, und rechts hatte man wiederholt einen Gesamtblick auf die blauen Berge des Siebengebirges. Und nun vollends Steimel, welche Erinnerungen weckt nicht dieser Ort! Hierhin ging Papa, wenn er mit den zu den Ferien eintreffenden Söhnen ein Glas Bier trinken wollte; dann wurde es gewöhnlich später als gut war; der Rückweg nach dem eine halbe Stunde entfernten Oberdreis war im Dunkel des Waldes kaum noch zu finden, und Mama, mit dem Abendessen wartend, empfing den Gatten und die Söhne mit ernstem Gesichte oder wohl gar mit einer Strafpredigt. In Steimel war jeden zweiten Dienstag im Sommer großer Viehmarkt. Schon frühmorgens zogen dorthin in langen Reihen die Bauern der umliegenden Dörfer mit ihren Kühen, Kälbern und Schweinen. Und während dort die als Käufer und Unterhändler geschäftig hin-und herlaufenden Juden mit den Bauern handelten und feilschten, wurden in den weiterhin gelegenen Buden Obst und Kuchen, Spielzeug und mancherlei Bedarfsartikel feilgehalten. »Was kann man auf dem Steimeler Markt kaufen?« fragte ich als sehr kleiner Knabe mein Kindermädchen. »Alles«, war ihre lakonische Antwort, und ich malte mir aus, wie schön es wäre, wenn ich mir auf dem Steimeler Markt eine Königskrone kaufen würde. Eine halbe Stunde hinter Steimel lag Puderbach, wo der schon in Dierdorf mit meinen Eltern befreundete Pastor Reinhardt seinen Wirkungskreis hatte. Oftmals besuchten sich die Familien, und das schönere Haus, der große Garten mit dem Ouittenbaum, vielleicht auch die etwas reichere Lebensführung in Puderbach übten eine mächtige Anziehungskraft. Wiederholt träumte ich als Kind, wie die Eltern auf überspanntem Leiterwagen mit uns nach Puderbach zogen, wie dort bei Tante Reinhardt der Kaffee, der große Kuchen aufgetragen wurde, worauf ich dann gewöhnlich erwachte und beklagte, nicht weitergeträumt zu haben.
So war die Umgebung des Orts, an welchem ich am 7. Januar 1845 kurz vor 3 Uhr morgens leicht und glücklich[11] ins Leben trat und am 24. Januar auf die Namen Paul Jakob getauft wurde. Den letzteren Namen erhielt ich, weil ihn meine beiden Großväter geführt hatten; da aber in Oberdreis auch ein Jude namens Jakob wohnte, welcher Kühe schlachtete, und meine Geschwister mich gelegentlich damit neckten, daß sie mich Paul-Jakob-schlacht-die-Küh nannten, so mißfiel mir dieser zweite Name höchlich; ich warf ihn fort und verleugnete ihn, wo immer dieses möglich ist. Den andern Namen erhielt ich namentlich zum Andenken des Apostels Paulus, und meine Mutter ermahnt mich in dem Büchlein, welches vor mir liegt und Aufzeichnungen über meine ersten Kinderjahre enthält, dem großen Apostel nachzueifern. In der Tat fühle ich mich ihm wie wenig andern Erscheinungen verwandt. Seine unermüdliche Geduld und Sanftmut, mit der er alles über sich ergehen ließ, um nur seinen Zweck zu erreichen, die Beharrlichkeit und Zähigkeit, mit der er die vorgesetzte Aufgabe verfolgte, die Unbarmherzigkeit, mit der er den falschen Schein angreift (Galater 2) und die stolze Demut, mit der er von sich selbst redet, das alles sind Züge, welche ich auch in mir zu finden glaube, und schließlich habe auch ich meine Lebensaufgabe darin gefunden, einem großen Verkannten bei den Menschen Eingang zu verschaffen, nicht zu erwähnen, daß so ziemlich alle Lehrsätze im System des Apostels Paulus nur unter verändertem Namen integrierende Teile meiner eigenen philosophischen Weltanschauung geworden sind. Als ominös will ich noch erwähnen, daß bei meiner Taufe das Taufbecken umgestoßen, aber noch glücklich von dem anwesenden Ohm Hannes, dem ältesten Bruder meines Vaters, aufgegriffen wurde, wie er mir noch selbst erzählt hat.
Nach den Schilderungen meiner Mutter in dem erwähnten Büchlein war ich ein gesundes und fröhliches, ungewöhnlich sanftmütiges und geduldiges Kind. Dabei aufgeweckt und von großer Lebhaftigkeit. Alles kam bei mir sehr früh; schon mit zehn Tagen soll ich mit Bewußtsein gelacht haben, zur großen Verwunderung meiner Amme, welche dergleichen nie vorher gesehen hatte. Mit sechs Monaten und drei Tagen soll ich zuerst Papa gesagt, mit elf Monaten und acht Tagen mich selbständig aufgerichtet und eine Strecke gelaufen haben usw. Mit drei Jahren, so erzählt[12] meine Mutter, an einem der ersten schönen Frühlingstage habe ich lange bei den Denkmälern auf dem Kirchhofe gestanden und sei dann zur Mutter geeilt mit den Worten.
»Der Winter ist gefangen;
Der Frühling kommt gegangen.«
In diese Zeit fällt auch meine älteste Erinnerung. Sie ist datierbar, denn sie betrifft meinen dritten Geburtstag am 7. Januar 1848. Noch sehe ich den hohen runden Tisch vor mir, und auf ihm als bescheidene Gaben ein Täßchen aus chinesischem Porzellan und einen Biskuitkuchen. Von letzterem schnitt der Vater uns Kindern von Zeit zu Zeit ein Stück ab, und deutlich erinnere ich mich, wie ich mich im stillen darüber wunderte, daß der Vater den beiden andern ebenso große Stücke gab wie mir, obgleich der Kuchen eigentlich doch mir allein geschenkt war. An Naschhaftigkeit war ich meinen Brüdern entschieden überlegen. Ich erinnere mich, wie uns einst Süßigkeiten geschenkt worden waren. Ich verschlang meinen Anteil sofort, während Bruder Werner den seinigen in einem offenen Raum unter dem mit runder Öffnung versehenen Sitze des Kinderstühlchens aufbewahrte. Länger stand ich im Kampfe mit mir selbst, aber plötzlich übermannte es mich, und ich fuhr zu, um vor Werners Augen ein Stück zu erbeuten. Natürlich wurde meine Absicht unter allgemeiner Entrüstung vereitelt. Das moralische Gesetz predigt sich unter den Menschen ganz von selbst, indem wir uns von Mitmenschen umgeben sehen, an deren Rechten die unsern ihre Grenze finden.
Noch eine datierbare Erinnerung aus dieser frühesten Zeit ist die Geburt meiner Schwester Maria am 10. Dezember 1848. Vier Knaben waren ihr vorhergegangen, welche an jenem Morgen in dem engen Schlafzimmer im ersten Stock des alten Hauses ungewöhnlich lange sich selbst überlassen blieben, ohne daß jemand daran dachte, sie zum Aufstehen zu veranlassen. Wir benutzten diesen willkommenen Aufschub, um zu rolzen, wie wir es nannten, d.h. wir türmten in den Betten Kissen und Federbetten über einander, um uns kopfüber von ihrer Höhe in die Betten herabzustürzen und ähnliches mehr. Da erschien Papa mit gerötetem Kopfe und meldete: »Jungens, ihr habt ein Schwesterchen bekommen.« Ein ungeheueres, nicht endenwollendes[13] Freudengeheul war die Antwort, welches mir bis heute noch in den Ohren gellt.
Im Sommer 1849 unternahm die Familie eine Reise zu den beiden Großmüttern ins Niederland. Bis Neuwied wurde im Leiterwagen gefahren, und der Weg war so holperig, daß die mitgenommene Milch von selbst zu Butter wurde. Unvergeßlich ist mir die Szene beim Einsteigen ins Dampfboot. Als der schnaubende Koloß an der Landungsbrücke anlegte, stiegen die vier Ältesten, Johannes, Werner, Paul und Friedrich, ohne Schwierigkeit ein, und die erst halbjährige Maria wurde auf Mamas Arm hineingetragen. Von dem Aufenthalte bei den Verwandten in Wevelinghoven und Kelzenberg sind mir nur ganz flüchtige, vereinzelte Erinnerungsbilder geblieben. Sehr lebendig aber steht mir noch die Rückfahrt vor der Seele. Einer unserer Bauernonkel lud die ganze Familie auf einen mit Leinwand überspannten Karren und fuhr uns nach Grimlinghausen am Rhein zum Nachtdampfer. Ein zierliches Hündchen, welches uns geschenkt worden war, wurde in einer Hutschachtel untergebracht. Unterwegs erhob sich ein greuliches Unwetter; die Nacht war hereingebrochen, und der Regen prasselte in Strömen auf das Leinentuch des Karrens. Wir krochen zusammen und schützten uns so gut wir konnten, kamen auch glücklich an, aber das Hündchen war verschwunden, und man hat nie wieder davon gehört. In dunkler Nacht und unter fortwährend strömendem Regen gelangten wir mit Sack und Pack an der steilen Böschung des Ufers hinunter auf den Dampfer, wo wir bald alle vier in der Kajüte einschliefen, während Papa die naßgewordenen Kleidungsstücke um den Dampfkessel zum Trocknen aufhing.
Das kleine Schwesterchen war natürlich unser aller Liebling. Eines Morgens, während die Eltern sich ankleideten, war sie, die noch nicht sicher stehen konnte, in einem Gitterbett zwischen Kissen eingebaut worden, und wir wetteiferten, mit ihr zu spielen. Friedrich zeigte sich täppisch, und ich holte aus, um ihm einen Backenstreich zu versetzen, traf aber zu meinem Schreck nicht seine Wange, sondern die des geliebten Schwesterchens. Laut ertönte ihr Wehgeschrei, wütend stürzten die Brüder auf mich los, und so sehr ich auch beteuerte, daß meine Absicht eine andere gewesen, man[14] hätte mich gelyncht, wenn die Eltern nicht dazwischengetreten wären.
Im Jahre 1849 war die Aufregung sehr groß, als des Morgens eine Kompagnie Soldaten, dergleichen nie vorher gesehen war, in das Dorf einmarschierte und auf dem Kirchhofe unter der Linde sich gruppierte. Zuerst hatten wir Kinder große Angst, als aber Papa, der den Weg zum Herzen dieser Tapfern wohl kannte, mit einem Kruge voll Schnaps auf sie zuschritt, da wagten wir es, Werner als der Mutigste voran, in bedächtigen Zwischenräumen ihm zu folgen. Bald mischten wir uns dreist unter die Krieger, bewunderten aus der Nähe ihre Helme, Knöpfe und Waffen und wurden für den gespendeten Schnaps mit Backwerk beschenkt. Es waren von den bei uns zu Weihnachten üblichen Hasen und Puppen, so genannt, weil sie mit diesen Dingen eine entfernte Ähnlichkeit haben.
Diese Truppendemonstration in dem friedlichsten aller Dörfer stand, wenn ich nicht irre, im Zusammenhang mit dem revolutionären Geiste des Jahres 1848, dessen Wellenschlag sich bis zu unserm entlegenen Gestade fortgepflanzt hatte. Von alters her behaupteten die Oberdreiser und einige Nachbargemeinden ein Anrecht auf den zu ihrer Gemarkung gehörigen Wald zu haben, welchen der Fürst zu Wied, der ehemalige, aber seit 1806 mediatisierte Landesherr, in dunkeln Zeiten durch nicht ganz klare Manipulationen an sich gebracht hatte. Auf dem Wege des Prozesses war bisher nichts zu erreichen gewesen, und um einen solchen wieder in Gang zu bringen, zogen eines Morgens auf Verabredung alle Familienhäupter der drei Gemeinden in den fürstlichen Wald, und ein jeder holte sich dort gleichsam als Zeichen der Besitzergreifung eine kleine Fuhre Holz. Sogleich erhoben sich warnende Stimmen, und die Leute brachten denn auch am folgenden Tage das Holz in den Wald zurück; aber der Frevel war begangen, und noch dazu in einer Zeit, wo es ohnehin den Potentaten etwas warm auf ihren Sitzen wurde; die Bestrafung blieb nicht aus: jeder Familienvater sollte ein halbes Jahr, die weniger belasteten ein viertel Jahr ins Gefängnis wandern. Hier fand nun mein Vater Gelegenheit, seine großen Gaben zum Wohl der Gemeinde zu verwenden. Er reiste[15] nach Berlin, erbat bei Friedrich Wilhelm IV. eine Audienz und stellte ihm vor, daß die Abwesenheit aller Ernährer für ein halbes Jahr den Ruin der ohnehin armen Gemeinden herbeiführen würde. Der König zeigte sich entgegenkommend, erklärte aber, daß nicht er, sondern der Fürst zu Wied der beleidigte Teil sei, und daß ohne diesen nichts geändert werden könne. Der Fürst zu Wied aber verweilte fern von dem Schweiß und der Not seiner ehemaligen Untertanen in Paris. Ohne sich lange zu besinnen, reiste nun mein Vater auch noch nach Paris und erreichte endlich, daß die Strafe nur zur Hälfte und zu gelegener Zeit, wie namentlich im Winter verbüßt wurde.
Aber auch nach andern Seiten hin entfaltete mein Vater in seiner Gemeinde eine gesegnete Wirksamkeit, wenn auch nicht gerade in theologischem oder gar pietistischem Sinne. Langjährige Prozesse wußte er durch Vergleich zu schlichten, eine rationellere Bewirtschaftung des Bodens regte er an und ging selbst mit gutem Beispiel voran, den Schlemmereien bei den Hochzeiten, welche einen großen Teil der von den Gästen dem jungen Paare nach Landessitte zur Begründung des Hausstandes dargebrachten Geldgeschenke verschlangen, trat er energisch, wenn auch ohne merklichen Erfolg entgegen, und als die in meinem Geburtsjahre zuerst auftretende Kartoffelkrankheit große Not über die hauptsächlich von Kartoffeln lebende Bevölkerung brachte, da reiste mein Vater kollektierend in der Provinz umher und trug wesentlich zur Linderung der Not bei, indem er irgendwelche Erdarbeiten ausführen ließ und dafür Brote verteilte.
Kirche und Pfarrhaus waren, als sie mein Vater übernahm, in kläglichem Zustand. Die Kirche, um 1800 erbaut, war durch die Kriegszeiten nie recht fertig geworden. Von außen fehlte der Anstrich, im Innern die Orgel, durch das Dach regnete es durch und zwischen den halbzerbrochenen Bänken wuchs das Gras. Noch schlimmer stand es mit dem Pfarrhause, in welchem ich die ersten acht Jahre meines Lebens zugebracht habe. Durch die altmodische Haustür gelangte man in eine große rauchige Küche, links war die mit blauen Vöglein austapezierte gute Stube, rechts führten einige Stufen zu der nur durch Übersteigen einer hohen Schwelle erreichbaren Wohnstube, in deren Hintergrunde wieder[16] Stufen zur Gesindestube herabführten. In diesem Hintergrunde stand ich mit vielen geputzten Gästen, als mein Vater die Taufe Marias oder vielleicht die des um zwei Jahre jüngeren Immanuel vollzog. Aufmerksam folgte ich der heiligen Handlung. Als aber der Kopf des Kindleins entblößt und unter feierlichen Sprüchen und Gebärden Wasser mitten in das Gesichtchen geträufelt wurde, da spürte ich eine unbezwingliche Anwandlung zu lachen, und schnell zog ich mich hinter die Röcke der umstehenden Tanten zurück, um meinen Frevel zu verbergen. An einen andern Geniestreich muß ich denken, wenn ich mir die Küche mit dem rußigen, bei Sturmwetter nicht selten durch herabfallende Schornsteintrümmer gefährdeten Küchenherd vergegenwärtige. Einige Bauersleute waren zu Besuch gekommen und hatten mir ein leider noch nicht gekochtes Ei mitgebracht. Ich bat, es mir zu kochen, fand aber für den Augenblick kein Gehör, da alles mit dem Besuch in der Stube beschäftigt war. Ich schlich mit meinem Ei in die Küche, um mir selbst zu helfen, aber das Feuer war erloschen, alles war leergebrannt und kalt. Ich füllte ein Gefäß mit kaltem Wasser, legte das Ei hinein und hoffte meinen Zweck zu erreichen, indem ich ein Streichhölzchen nach dem andern anzündete und in das kalte Wasser tauchte. Erst als die Zahl der weggeworfenen Streichhölzer sich in beängstigender Weise mehrte, ohne daß sich das Wasser merklich erwärmt hätte, erkannte ich die Vergeblichkeit meiner Bemühungen.
Aus dieser Küche führte eine gewundene und bei dem Mangel jeder Lehne für uns Kinder gefährliche Treppe nach dem ersten Stock, wo links und rechts die Schlafzimmer und geradeaus der sehr dunkle und etwas unheimliche Söller lag. Man stieg einige Stufen herunter und befand sich in einem sehr langen, schmalen Raum, dessen Decke und eine Seitenwand nur durch das auf dieser Seite sehr tief herunterreichende Strohdach des Hauses gebildet wurde. Hier sollte es angeblich spuken, und die Leute erzählten, wie ein früherer Pastor mit der Bibel hinaufgestiegen sei, um den Teufel zu beschwören. Diese gruselige Geschichte hielt uns nicht ab, von Zeit zu Zeit und bei hellem Tage dem Söller einen Besuch zu machen und irgendwelchen alten Kram zum Spielen zu benutzen. Dieses alte Haus[17] wurde von Jahr zu Jahr baufälliger, und es mußte an ein neues gedacht werden. Da hierzu die Mittel gänzlich fehlten, so beschloß mein Vater, wie er schon früher durch Kollektieren eine Kirchenorgel beschafft und den Notstand der Gemeinde gelindert hatte, so jetzt auf demselben Wege die Mittel für ein neues Pfarrhaus zusammenzubringen. Diese Angelegenheit hielt ihn einen großen Teil der Jahre 1851 und 1852 von Hause fern. Wieder trug er die Angelegenheit zu Koblenz in persönlicher Audienz dem König vor. »Ich habe kein Geld«, erwiderte dieser mit Lachen, spendete aber dann doch 300 Taler; auch wurde die Erlaubnis erteilt, in ganz Rheinland und Westfalen zu sammeln, und als dies geschehen war, dehnte mein Vater seine Kollektenreisen auch noch auf Holland und die Schweiz aus. So waren, zum großen Teile schon im Jahre 1851, zehntausend Mark zusammengebracht. Wenn es irgend möglich war, kam der Vater zum Sonntag nach Hause. Oft erschien er am Sonnabend spät abends, besorgte am Sonntag den Dienst in der Kirche und was sonst vorkommen mochte und ging Montag früh wieder auf Reisen. Schon längst waren die Pläne für das neue Haus entworfen und der Regierung eingesandt worden. Aber am grünen Tisch beeilte man sich nicht mit der Antwort, zog auch durch allerlei Einwände die Sache in die Länge. Indessen wurde der Aufenthalt im alten Hause immer unerträglicher. Da erklärte mein Vater: Morgen wird gebaut, mag die Regierung sagen was sie will. Nun entwickelte sich ein reges Treiben. Alle Mitglieder der Gemeinde taten Hand- und Spanndienste. Der Keller wurde gegraben dicht neben dem alten Hause, welches man stützen mußte, da es anfing zu rutschen. Bald aber erhob sich das Grundgemäuer des neuen Hauses und auf diesem das Zimmerwerk, zu welchem das Holz aus dem Gemeindewalde geliefert wurde. Dies alles und der ganze weitere Ausbau war für uns Kinder ebenso belehrend wie unterhaltend. In jeder freien Stunde kletterten wir auf den Balken herum, und jeder der vier älteren Brüder, mit Ausnahme meiner selbst, hat einen mehr oder weniger schweren Fall getan. Wir konnten die Zeit des Einzuges kaum erwarten. Sobald die Treppen gelegt waren, richteten wir uns schon in den ungetünchten Zimmern wohnlich ein, und am 23. September 1853,[18] es war ein Sonntagmorgen und der Umzug war beendet, setzte sich Mama ans Klavier und spielte mit Rührung: Unsern Eingang segne Gott. Drei Tage darauf schenkte sie meinem Bruder Reinhard das Leben. Er war das siebente Kind, auf welches als achtes und letztes zwei Jahre später noch Elisabeth folgte. So war denn den Eltern nach und nach die stattliche Reihe von sechs Söhnen und zwei Töchtern beschieden worden, deren Erziehung zur Hauptaufgabe ihres Lebens wurde, welcher sie sich denn auch mit aller Treue gewidmet haben. Das Einkommen der Stelle war gering; es bestand in dem Nießbrauch von Pfarrwohnung nebst Stallungen und Scheune, von Wiesen, Gärten und Äckern sowie aus einer jährlichen Lieferung von Holz aus dem Gemeindewalde. Hierzu kam bis zu seiner späteren Ablösung der sogenannte »Zehnte«. Der zehnte Teil alles Feldertrages in der Gemeinde, z.B. beim Korn die zehnte Garbe, wurde ohne Auswählen ausgesondert, und zur Hälfte dem Fürsten zu Wied, zur Hälfte dem Pfarrer überwiesen. Bares Geld war ursprünglich, d.h. bis zur Ablösung des Zehnten, gar nicht mit der Stelle verbunden, es wären denn die Stolgebühren gewesen, bestehend in ganz kleinen Abgaben bei Kindtaufen, Heiraten u. dgl. Eine Wöchnerin wurde beim ersten Kirchgange mittels einer Einschaltung im Kirchengebete »ausgezeichnet«, wofür zwölf Eier entrichtet wurden. Endlich hatte jeder Hausstand in der Gemeinde zu Ostern zwölf Eier zu liefern, deren mühsame Eintreibung sich durch das ganze Jahr hinzog. Wie oft bin ich selbst, wenn man mal Eier brauchte, mit einem Körbchen unter dem Arme und einer Liste der Säumigen in der Hand von Haus zu Haus gegangen und habe die Ausreden und Vertröstungen der Leute anhören müssen. Manche zogen es auch vor, anstatt der zwölf Eier den hierfür feststehenden Satz von neun Kreuzern (25 Pfennig) zu entrichten. Amtlich war die Stelle unter denen verzeichnet, welche einen Ertrag von weniger als vierhundert Talern lieferten. Denn regelmäßig wurden die jährlichen Beiträge zur Witwenkasse zurückgesandt, wie es in diesem Falle gesetzlich vorgeschrieben war. In Wahrheit ließen sich die Erträgnisse der Stelle doch auf sechshundert Taler und wohl noch mehr bringen, wenn Felder und Wiesen nicht verpachtet, sondern vom Inhaber selbst rationell bewirtschaftet[19] wurden. Und hieran ließen es beide Eltern nicht fehlen. Ein Knecht und zwei Mägde wurden gedungen, ein Pferd zur Bestellung der Felder gekauft, ein Dutzend Kühe füllte die Ställe Schafe, Schweine und eine Ziege waren stets vorhanden, und auf dem Hofe wimmelte es von Hühnern, Enten und Tauben. Eine Anzahl Gänse kam erst später als besondere Liebhaberei des Vaters hinzu, während die Mutter ihnen das Zertreten der Wiesen nicht verzeihen konnte und froh war, wenn sie einen dieser Schreihälse als Festtagsbraten auf den Tisch bringen oder lieben Verwandten in Elberfeld zum Geschenk machen durfte. So machte denn unser Pfarrhaus von außen ganz den Eindruck eines besser situierten Bauernhofes oder kleinen Herrenhauses. Die Felder wurden regelrecht bestellt und abgeerntet, das Heumachen, Kornschneiden, Kartoffelgraben usw. wiederholten sich im Kreislaufe des Jahres, und im Winter konnte man schon vom ersten Morgengrauen an das melodische Klipp klapp der Dreschflegel von der Scheune her vernehmen. An manchen Arbeiten durften auch wir Kinder teilnehmen, wie namentlich an dem Wenden des Heues oder an dem Einernten der reichlich vorhandenen Kirschen, Pflaumen, Birnen und Äpfel. Weniger angenehm war es, wenn wir von Mama in den großen Gemüsegarten zum Ablesen der Raupen befohlen wurden oder in Stellvertretung Papas in herbstlicher Kühle bei den Kartoffelgräbern stehen mußten, da sonst zu wenig getan wurde. Eine Beihilfe, wenn auch zweifelhafter Art, war es, daß bei den Hauptarbeiten, wie namentlich beim Heumachen, Kornschneiden und Kartoffelgraben, jeder Familienvater der Gemeinde an einem Tage »die Stunde tun«, d.h. dem Pastor bei der Arbeit helfen mußte. Der Vorteil dieser Einrichtung wurde indes durch die im Pfarrhaus nachfolgende Bewirtung stark geschmälert. Immerhin reichte die auf diese Weise bewirtschaftete Pfarrstelle hin, um die zahlreiche Familie zu ernähren, wie auch, um durch den Verkauf von Korn und Vieh, von Butter, Eiern u. dgl. so viel Geld zu lösen, wie nebenbei unbedingt erforderlich war.
Bei dieser Lage der Sache, wo die Pfarrstelle fast nur Naturalien eintrug und die Zinsen des kleinen Kapitals, das die Eltern besaßen und das durch den Onkel Wilhelm Heinrich, von[20] dem später noch die Rede sein wird, verwaltet wurde, nicht angetastet werden sollten, eröffnete sich uns zu der Zeit eine dritte Einnahmequelle, welche es ermöglichte, den Überschuß der Wirtschaft an Brot und Fleisch, an Butter, Milch und Eiern vorteilhafter als durch den bloßen Verkauf zu verwerten und nach und nach immer erheblichere Beiträge für unser Fortkommen lieferte. Schon in meinen ersten Lebensjahren war meiner Mutter eine junge Kusine, Elise Brüning aus Elberfeld, zur Ausbildung im Haushaltungswesen für ein Jahr anvertraut worden, und dies hatte sich so gut bewährt, daß ohne jede Bekanntmachung in den Zeitungen nach und nach immer mehr Familien ihre Töchter für ein Jahr nach Oberdreis schickten. Gewöhnlich waren in der späteren Zeit sechs bis zwölf solcher jungen Damen in dem einsamen Oberdreis, trugen durch ihr Kommen und Gehen, durch die Briefe, Sendungen und Besuche ihrer Angehörigen gar sehr zur Belebung des abgelegenen Bergtales bei, und man kann sich denken, mit welchem Interesse wir als heranwachsende Jünglinge bei unserer Heimkehr in den Ferien die Reihen »der lieben Mädchen« (dies war die übliche Bezeichnung) zu mustern pflegten. Sie bezahlten im Jahre einen Pensionspreis von 120, später, wenn ich nicht irre, 180 Talern, wofür sie Wohnung und Tisch, der jetzt an Fleisch, Weißbrot usw. besser bestellt war, sowie Anweisung in den wochenweise abwechselnden Hausarbeiten erhielten. Es gab da eine Stubenwoche, eine Vormittags- und eine Nachmittags-Küchenwoche, eine Bettenwoche usw. Auch Klavierunterricht wurde erteilt, und unzählige Male erklangen »Die Klosterglocken« und stieg das »Gebet der Jungfrau« zum Himmel auf. Kamen wir vom Gymnasium oder der Universität in den Ferien nach Hause, so wurde mancherlei zur Unterhaltung veranstaltet. Gewöhnlich las ich aus Goethe oder Shakespeare vor, oft ein ganzes Drama ohne Unterbrechung in einer Sitzung. Im Herbste 1867 ging ich mit »den lieben Mädchen« die Geschichte der Philosophie nach Schwegler durch, was nur dadurch möglich wurde, daß wir alle täglich eine Stunde früher aufstanden. Mit Fanny Poadt, einer Engländerin, trieb ich Englisch, Deutsch, Lateinisch, und ein andermal habe ich mit zwei oder drei Schülerinnen Shakespeares Macbeth auf englisch durchgearbeitet.[21] Daneben wurden jeden Nachmittag weitere Spaziergänge unternommen, wir besuchten zusammen den Steimeler Markt, die alte Burg Reichenstein, oder wir erklommen den Beulstein, eine Felsmasse mitten im Wald, blickten von dort auf Oberdreis und das idyllische Tal, sahen die Sonne hinter den Bergen untergehen und sangen dazu: »Seht, wie die Sonne dort sinket.« Weniger harmlos war es schon, wenn wir mit »den lieben Mädchen« in ein Wirtshaus einkehrten, um Kaffee, Milch und Bier zu trinken, was eigentlich nur für weitere Touren erlaubt war. Indessen gelang es uns mitunter sogar in Steimel, die »lieben Mädchen« zu einem Glase Bier hereinzunötigen, namentlich wenn ein besonderer Anlaß vorlag, z.B. wenn wir Besuch hatten, was in dem gastlichen Pfarrhause fast immer der Fall war. Übrigens ist alle die Jahre hindurch alles in den Grenzen des strengsten Anstandes geblieben; kein Mädchen ist bei uns zu Schaden gekommen, und sogar die Pfänderspiele wurden ohne Küsse gespielt. Das Stärkste, was vorkam, geschah vielleicht, als ich Weihnachten 1869 aus Minden in die Ferien zurückkam und wie immer eine von den »lieben Mädchen«, gewöhnlich die Schönste, zur Königin meines Herzens erkor und durch stille Aufmerksamkeiten auszeichnete. Der Weihnachtsabend kam heran. Unter dem strahlenden Christbaume wurden zahlreiche Pakete ausgeliefert, und nun ging es an ein Auspacken, Lesen der Briefe, Enthüllen der Geschenke, wobei des Jubels kein Ende war. Unter anderm packte meine Angebetete ein hübsches und für die ganze Familie nützliches Geschenk aus und überreichte es meiner Mutter. Ich stand natürlich daneben. Meine Mutter bewundert das Geschenk, ich bewundere es noch viel mehr und meine Mutter schließt das liebe Kind in ihre Arme und drückt einen Kuß des Dankes auf ihre Stirn. Was war natürlicher, als daß ich auch hierin ihrem Beispiel folgte, und vor aller Augen, ehe man sich dessen versah, einen Kuß von den rosigen Lippen des Mägdeleins geraubt hatte. Die Sache ging im Festgetümmel so hin, kam aber doch am andern Tage, als die Familie unter sich allein war, zur Sprache. Friedrich, der überhaupt immer geneigt war, mir etwas am Zeuge zu flicken, entwickelte mit ungestümer Beredsamkeit, daß durch dergleichen Vorkommnisse der Ruf des Pensionats leiden[22] könne, dessen Erträge doch für den Unterhalt der Familie unentbehrlich seien und nicht am wenigsten auch von mir selbst oft genug in Anspruch genommen würden; er zeigte, immer hitziger werdend, wie ich somit meine eigenen Subsistenzmittel untergrübe und verstieg sich schließlich zu dem klassischen Ausspruche: »Der Paul vertilgt sein eigenes Brot!« Ein allgemeines herzliches Lachen belohnte diese rednerische Leistung und zeigte, daß man für diesmal nicht geneigt war, die Sache allzu tragisch zu nehmen.
Die meisten Pensionärinnen blieben nur ein Jahr bei uns. Ausnahmsweise kam es vor, daß ein Mädchen zwei, drei, ja wohl vier Jahre in Oberdreis verweilte. So blieb Klementine W., ein sehr schönes, aber auch sehr schwer zu leitendes Mädchen, ein Schützling und soviel mir bewußt, entfernte Verwandte von Alfred Krupp in Essen, von 1851 bis 1854 in Oberdreis. Sie war, als sie bei uns einzog, schon lange Zeit so heiser, daß sie keinen lauten Ton hervorbringen konnte. Man nahm an, daß sie ihre Stimme für immer verloren habe. Aber die gesunde Bergluft des Westerwaldes wirkte hier ein Wunder. Eines Abends kehrten die Mädchen von einem längeren Spaziergange auf den Oberdreiser Berg zurück, legten sich schlafen, und als am andern Morgen Klementine herunterkam, hatte sie ihre Stimme wieder erlangt und sprach klar und laut wie ein anderer Mensch. In der Folge wußte sie der Langweile des Landlebens dadurch abzuhelfen, daß sie allerlei dumme, zum Teil auch schlechte Streiche verübte. Dabei hatte sie die merkwürdige Eigenschaft, im Schlafe zu sprechen, und so verlogen sie auch sonst sein mochte, wenn meine Mutter sie im Schlafe ansprach, so konnte sie nichts verschweigen und beichtete alles bis ins kleine, ohne beim Erwachen sich daran zu erinnern. Was später aus ihr geworden ist, weiß ich nicht zu sagen. Jedenfalls wurde sie ein Segen für die Gegend. Denn als durch Mißwuchs und andere Umstände das Elend unter den Leuten immer größer wurde, da überredete mein Vater mit großer Mühe ein paar Leute, mit einer Empfehlung von ihm nach Essen zu Krupp zu gehen. Sie glaubten auf Nimmerwiedersehen zu scheiden, fanden aber bei Krupp Verwendung und konnten bald reichliche Beträge an die Ihrigen in der Heimat senden. Jetzt fand das Beispiel Nachahmung. Immer mehr Leute[23] verlangten, nach Essen zu gehen, und da Krupp sich bereit erklärte, jeden anzustellen, den mein Vater mit einer Empfehlung ihm senden würde, so bildete sich in Essen nach und nach noch eine ganze Kolonie von Leuten aus Oberdreis und der Umgegend, welche dort viel Geld verdienten und nach Hause sandten oder mit sich zurückbrachten und dadurch sehr dazu beitrugen, den Notstand in der Heimat zu lindern.
Eine Hauptursache des Elends war die Leichtfertigkeit, mit welcher meine guten Landsleute Schulden machten, wodurch sie mehr und mehr in die Hände jüdischer und auch christlicher Wucherer gerieten, die es dann verstanden, die Leutchen um all ihr Hab und Gut zu bringen. Um diesem Unheile zu steuern, gründete mein Vater mit einem geringen, ich weiß nicht woher geschenkten, Fonds den Wohltätigkeitsverein in Steimeln, dessen lebenslänglicher Präsident er blieb und dem so ziemlich alle besseren Leute der Gegend sich anschlossen. Dieser Verein lieh Kapitalien zu 5 und verlieh sie gegen Hypothek zu 51/2 Prozent. Jeder Schuldner mußte außerdem noch einen Bürgen stellen. Diese Einrichtung erwies sich als außerordentlich wohltätig und half gar sehr, dem Wucher in der Gegend zu steuern.
Haben wir im bisherigen die Verhältnisse geschildert, unter deren Eindrücken meine Jugend gestanden hat, so wäre nun weiter von dem zu reden, was direkt für meine Erziehung und Bildung geschehen ist.
Während mein Vater seinen Kirchendienst mit Anstand und Würde verrichtete, ohne doch den Eindruck zu machen, als wenn ihm dergleichen sonderlich tief zu Herzen ging, so war meine Mutter beseelt von einem nicht nur sittlich strengen, sondern auch auf richtig frommen Geiste, welcher mitunter des Guten vielleicht zuviel tat. Allezeit, soweit ich denken kann, wurde täglich vor dem Frühstück ein Morgensegen abgehalten, zu dem Sonntags auch die Dienstboten hereingerufen wurden. Die Mutter setzte sich ans Klavier; einige Verse wurden gesungen; dann wurde von dem Vater und später, wo dieser zum Morgensegen nicht mehr zu erscheinen pflegte, von der Mutter ein Kapitel aus der Bibel gelesen, worauf ein freigesprochenes Gebet, wie es gerade der Augenblick eingab, folgte. War dieser Vorgang im Angesichte[24] des aufgetragenen Frühstücks für Kinder oft eine Geduldsprobe, so gab er doch als feierliche Einweihung des Tages diesem ein gewisses sittliches Gepräge und wirkte ohne Zweifel disziplinierend. Schwerer zu ertragen waren die lange Jahre bestehenden Abendsegen, während man schon mit dem Schlafe kämpfte, ohne doch einschlafen zu dürfen. Sogar ein Mittagsegen wurde, vielleicht unter dem Einflusse pietistischer Amtsbrüder, eine Zeitlang versucht, jedoch bald wieder aufgegeben. An diese Andachtsübungen schlossen sich frühzeitige religiöse Belehrungen durch die Mutter. Eine alte Bilderbibel wurde besonders Sonntagnachmittags hervorgeholt, wobei die Mutter uns die zugehörigen biblischen Geschichten erzählte; keine Dämmerstunde ließ sie gern vorübergehen, ohne ihre Kinder um das Klavier zu versammeln, mit ihnen zu singen und erbauliche Erzählungen und Ermahnungen einzuflechten, und in der Passionszeit, namentlich in der Karwoche, lag es auf dem ganzen Hause wie ein Schatten des Todes. An diesen religiösen Unterricht schloß sich frühzeitig der profane. Mein älterer Bruder Johannes unternahm es, mir das Lesen und zunächst die Buchstaben beizubringen. Infolge seiner nervösen und hastigen Art verfuhr er, selbst erst acht Jahre alt, allerdings sehr unpädagogisch dabei. Er zeigte und erklärte mir eine Anzahl von Buchstaben zusammen, und wenn ich sie dann nicht wieder nennen konnte oder verwechselte, so kniff er mich mit seinen scharfen und nicht immer sauberen Nägeln in den Hals. Er nannte dies »mieken«. Eines Tages betrachteten mich die Eltern, und Mama rief: »Je noch, das Kind hat ja einen ganz wunden Hals! Was hast du gemacht?« – »Ei, das ist doch vom Mieken«, antwortete ich. – »Was ist Mieken?« – »Nun, ich lerne doch jetzt lesen, und dabei wird man gemiekt.« Die Eltern hatten Mühe, den mir so natürlich scheinenden Zusammenhang zwischen Lesenlernen und Mieken zu verstehen und suspendierten das kaum begonnene Studium. Ich weiß nicht, wer sich dann weiter meiner annahm. Tatsache ist, daß ich mit fünf Jahren fließend lesen konnte und daß es nicht mehr lange dauerte, bis mich die Lesewut ergriff und mir das Lesen zeitweilig für eine Woche verboten werden mußte. Einem der nächsten Jahre, ich weiß nicht mehr welchem, gehört das folgende Vorkommnis an. Es war an einem heißen[25] Sommertag nach dem Mittagessen; Mama hatte die kleine Maria schlafen gelegt und beauftragte mich, die Fliegen von ihr abzuwehren, während sie selbst im Nebenzimmer sich ein wenig zur Ruhe legte. Ich versuchte das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, indem ich mit der einen Hand dem Kinde die Fliegen wehrte, während ich aus einem in der andern Hand gehaltenen Buche las. Es waren Grimms Kinder- und Hausmärchen, welche uns Tante Marie Reinhardt kurz vorher geschenkt hatte. Ich weiß nicht, ob das Wedeln über dem Lesen allzu lässig betrieben wurde; Tatsache ist, daß das Schwesterchen erwachte und anfing zu schreien. Mama, aus dem Schlafe aufgeschreckt, eilt herbei, sieht das Märchenbuch und konfisziert es. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß mir dieses liebste aller Bücher für längere Zeit vorenthalten bleiben sollte. Mein Kummer war groß, und ich brachte meine Sehnsucht in einem Gedichte zum Ausdruck, welches anfing: »O Märchenbuch, o Märchenbuch«, welches noch längere Zeit vorhanden war, jetzt aber, wie es scheint, verloren ist. Die Sache sprach sich herum, ich mußte es am andern Morgen beim Frühstück vortragen, und man fand es so rührend, daß Mama mir auf allgemeine Bitte das Buch zurückgab.
Wir besuchten nun zunächst die Elementarschule des Orts, welche gegen hundert Kinder verschiedenen Alters aus Oberdreis, Dendert und Hilgert umfaßte. Es war nur eine Schulstube wie auch nur ein Lehrer vorhanden. Die Heizung der Schule wurde in der Art besorgt, daß jedes Kind allmorgendlich im Winter ein Scheit Holz von Hause, oft eine halbe Stunde weit her mitbrachte und beim Eintritt neben den Schulofen warf. Beim Unterricht saßen die Kinder auf Bänken ohne Lehne an langen flachen Tischen, die Knaben auf der einen, die Mädchen auf der andern Seite. Der Unterricht war in manchen Fächern für alle gemeinsam, in andern widmete der Lehrer sich nur einer Abteilung, während er die übrigen still beschäftigte. Am schwersten war für den Lehrer wohl die Schreibstunde. Stahlfedern waren nur dem Hörensagen nach bekannt und galten für einen nicht zu billigenden Luxus. Auch Hefte gab es nicht. Man schrieb auf zusammengefaltete Papierbogen mit Gänsefedern, welche sämtlich der Lehrer schneiden mußte, so daß immer eine Anzahl um[26] ihn herumstand mit der Bitte: »Zepter (Präzeptor), schneid mir die Feder.« Der damalige Lehrer namens Becker war ein kleiner, lebendiger, sehr geschickter und beliebter Mann, und es tut mir noch heute leid, ihn einmal gröblich beleidigt zu haben. Es war in der Dämmerung und wir spielten mit der ganzen Dorfjugend auf der Wiese. Auf einmal hieß es: Stille, der Zepter kommt. Ich hatte gegen den seelenguten Ohm Becker, wie wir Kinder ihn im Pfarrhause nannten, nicht den mindesten Groll, und es war nur die Sucht, mich hervorzutun, vielleicht auch die schon damals in mir liegende Neigung zur Opposition, welche mich verführte, über den auf dem Hohlwege außerhalb des Spielplatzes still und von mir selbst ungesehen Vorübergehenden während des scheuen Stillschweigens der andern einige sehr ungezogene Worte zu sagen, wie sie sonst nur hinter dem Rücken des Lehrers unter den Schülern von Mund zu Mund zu gehen pflegen. Die Sache wurde zu Hause bekannt, ich wurde für einige Stunden eingesperrt, und das Härteste war, daß ich am andern Morgen zum Lehrer gehen und diesen um Verzeihung bitten mußte.
Der Unterricht des Lehrers Becker wurde sehr gerühmt, und auch ich erinnere mich noch wohl, wie anregend es war, wenn der kleine Mann auf ein Bänkchen stieg, um mit seinem Stäbchen die Landkarte zu erklären, oder wenn er eine Kugel in der Mitte der Schulstube aufhing, um die jährliche Wanderung der Sonne durch die rings an den Wänden befestigten zwölf Bilder des Tierkreises anschaulich zu machen.
Immerhin konnte ein Unterricht in Gemeinschaft mit soviel Kindern verschiedenen Alters auf die Dauer für unsere Zwecke nicht genügen, und da mein Vater selbst zum Lehren ebensowenig Neigung wie Geschick hatte, so entschloß er sich, für uns drei einen besonderen Hauslehrer zu halten, und indem er den Unterricht im Lateinischen sich selbst vorbehielt, konnte er sich mit einem seminaristisch gebildeten Elementarlehrer fürs erste begnügen. Die Wahl fiel auf Heinrich Hoffmann aus Offdillen in Nassau, welcher Herbst 1852 bei uns eintrat und fast zwei Jahre bis Herbst 1854 unsere Erziehung leitete. Er war ein offenherziger, harmloser junger Mann von nicht sonderlich feinen Manieren und hat sich unserer ganz treu angenommen, sowohl im Unterricht[27] als außerhalb desselben. Er war noch nicht lange bei uns, da wurden wir in der Nacht des 9. Januar 1853 durch Feuerlärm geweckt. Es brannte bei der Hanne im Judenviertel, dessen zwei oder drei Häuser ganz nahe dem Pfarrhause und noch näher der Kirche sich an der Kirchhofsmauer hinzogen. Wir standen auf, kleideten uns an und jeder packte seine Habseligkeit an Büchern, Traktätchen und Spielsachen in einen Korb. Unsere Befürchtung, daß die umfliegenden Funken das Strohdach des Pfarrhauses oder das im Rohbau schon fertigstehende neue Haus entzünden möchten, erfüllte sich nicht. Wohl aber hieß es plötzlich zum allgemeinen Schrecken: Die Kirche brennt! In der Tat hatten umherfliegende brennende Massen das morsche Holz eines Dachfensters der Kirche angezündet. Die Gefahr war groß und niemand wußte zu helfen. Denn man mußte mit einem Eimer Wassers unter dem Dach der Kirche über das aus Balken und Flechtwerk hergestellte Gewölbe der Kirche sich im Dunkeln zum brennenden Dachfenster hintasten, und jeder befürchtete, dabei durchzubrechen und in die Kirche herunterzustürzen. Da entschloß sich der wackere Lehrer Becker, gestützt auf seine Lokalkenntnis, das Wagnis zu unternehmen. Es gelang ihm, die Kirche zu retten. Hierbei aber zog er sich in der kalten Winternacht eine Erkältung zu, welche in eine hitzige Krankheit ausartete, die in kurzer Zeit zu seinem Tode führte. Wir durften hin, den Leichnam zu sehen, es war der erste in meinem Leben. In seinem schönen neuen, von ihm selbst gebauten Hause lag er aufgebahrt in schwarzem Sarge, kalt und blaß, die Augen geschlossen, die weiße Zipfelmütze auf dem Kopfe. Wir durften zum Abschied seine Hand ergreifen; die fiel schwer und starr herab, sowie wir sie losließen. So etwas vergißt sich nicht, auch wenn in halbes Jahrhundert uns davon trennt. Der Tag des Begräbnisses war gekommen. Meine Brüder wollten in Tränen zerfließen. Ich aber sprach: »Nur nicht geweint! Der liebe Ohm Becker ist im Himmel. Da ist ihm viel wohler als hier.« Man hat mir dieses Verhalten und ähnliches im späteren Leben als Herzlosigkeit ausgelegt. Aber ich glaube, daß dabei eine Begriffsverwechslung vorliegt. Herzlos ist der, welcher sein Herz vor der Not des andern verschließt, und das habe ich nie getan. Ich habe stets für andere etwas übrig gehabt,[28] wenn auch nicht soviel wie für mich selbst. Wohl aber ist mir von Natur an die Gabe zuteil geworden, fremdes wie eigenes Mißgeschick gelassen hinzunehmen, sobald ich dessen Unabwendbarkeit erkannte.
Als Ersatz für Lehrer Becker gewann Oberdreis einen andern nicht weniger trefflichen Mann, den Lehrer Alsdorf aus Wienau. Wir empfingen ihn eine halbe Stunde vor dem Dorfe mit Gesängen, die unser Herr Hoffmann uns mit den Schulkindern zusammen eingeübt hatte. Alsdorf blieb mit Hoffmann befreundet. Unserer Familie aber war und blieb er über dreißig Jahre lang ein lieber Freund und Helfer, der in allen Nöten herbeigerufen wurde, mochte es sich um das Erkennen einer Kinderkrankheit oder den Ankauf eines Pferdes oder das Stimmen des Klaviers handeln. Seine ersten Kinder starben alle in den ersten Lebensjahren, es war herzzerbrechend, ihn an den kleinen Gräbern weinen zu sehen. Später sind ihm vier prächtige Kinder herangeblüht, dem ältesten werden wir noch öfter begegnen.
Mit Herrn Hoffmann machten wir öfter weite Touren zu Fuß, die weiteste zu Pastor Müller in Holpe. Mit Butterbrot gemahlenem Kaffee und sonstigem Proviant versehen, legten wir den acht Stunden weiten Weg dorthin an einem Tage zurück. Hochpoetisch war es dabei, daß wir unweit Hamm in einem richtigen Kahn über die Sieg gesetzt wurden. Von Holpe zurückkehrend, hörten wir, daß ein Brief für Herrn Hoffmann auf dessen Zimmer liege. Er eilte hinauf, ich sprang ihm nach. Er riß den Brief auf, blickte hinein und rief, indem er vor Überraschung die Hände zusammenschlug: »Ich bin versetzt!« Ich, der ich nicht wußte, welches Gesicht ich bei dieser Nachricht aufsetzen sollte, lief herunter und teilte den andern die große Neuigkeit mit: »Herr Hoffmann ist versetzt.« Alsbald erhob sich ein allgemeines Gejammer, an welchem ich beim besten Willen nicht teilnehmen konnte. Herr Hoffmann war mir lieb und wert, aber eine Veränderung konnte doch auch sehr hübsch werden und war jedenfalls interessant. Und um meinen Gefühlen freien Lauf lassen zu können, lief ich hinaus. Draußen im Hofe waren Faßdauben aufgeschichtet, wie sie aus den besseren Stücken des gelieferten Gemeindeholzes ausgehauen und an Rüfer verkauft zu[29] werden pflegten. Zwischen diese Dauben, wo mich niemand sehen konnte, setzte ich mich hinein, und da habe ich nach Herzenslust gelacht. So verschieden waren meine Gefühle von denen meiner Brüder. Zwar hatten wir von den gemeinsamen Eltern denselben Intellekt geerbt, aber die Mischungsverhältnisse waren verschieden. In einem gewissen Sinne kann man sagen, daß bei mir wie auch bei Elisabeth der ruhige, klare, berechnende Intellekt und bei den andern das Gemüt, die Gefühle, der Wille vorherrschte.
Herr Hoffmann also schied, und nun unternahm es Papa, uns ins Lateinische einzuführen. Eines Tages erschienen drei schöne neue Exemplare der Elementargrammatik von Kühner, wo sehr zweckmäßig das Präsens der vier Konjugationen zuerst eingeübt wird, so daß man sogleich Sätzchen übersetzt wie rana coaxat oder agricolae arant und daran seine Freude hat. Leider fehlte es dem Vater an Stetigkeit. Immer seltener rief uns Papa zum Unterricht und bei den Subtilitäten der dritten Deklination geriet die Sache ganz ins Stocken. Mit Kummer sah Mama, wie wir Tage und Wochen lang Ferien hatten, da es immer noch nicht gelingen wollte, eines neuen Hauslehrers habhaft zu werden, zumal bei Papas Unlust zum Unterricht der Hauslehrer auch das Latein übernehmen sollte, also doch schon ein Kandidat der Theologie sein mußte. Oft verkündigte Papa: Heute wollen wir Lektion halten. Dann gingen wir aufs Zimmer, aber Papa kam nicht oder ging doch bald wieder weg, und wir blieben uns selbst überlassen. Dann ging es wohl über Papas Bücherschrank her, und es wurde Passendes und Unpassendes durcheinandergelesen. Eines Nachmittags, ich mochte acht oder neun Jahre alt sein, fiel mir ein Bändchen in die Hände, welches den ersten Teil von Goethes Faust enthielt. Ich verstand das wenigste davon, aber Sprache und Reim fesselten mich so sehr, daß ich, auf der Erde neben dem Bücherschrank hockend, nicht aufstand, ehe ich das Büchlein von Anfang bis zu Ende durchgelesen hatte.
Ein ganzes Jahr zog sich die lehrerlose, fast in völliger Untätigkeit verbrachte Zeit hin, ehe es gelang, einen Kandidaten der Theologie zu gewinnen, wie sie zwischen dem ersten und zweiten Examen für Hauslehrerstellen leicht, aber immer nur für[30] kurze Zeit zu haben sind. Im Herbste 1855 trat bei uns der nassauische Predigtamtskandidat Wilhelm Christ ein, welcher zum Glück schon nach sechs Wochen wieder abzog. Ich sage zum Glück, denn ein längerer Verkehr mit diesem Menschen würde uns ganz verdorben haben. Seine Sitten waren nicht schlecht, aber burschikos und roh; er machte ganz den Eindruck eines lustigen, wüsten Studenten; sein Hauptvergnügen war, uns zu schlagen, und er betrieb seine Peinigungen ganz systematisch. Beim Übersetzen mußten wir zu zweien links und rechts neben ihm stehen und das für alle gemeinsame Buch der eine mit der linken, der andere mit der rechten Hand vor ihm in der Schwebe halten. Er selbst, zwischen uns sitzend, wiegte sich auf den Hinterbeinen seines Stuhles, indem seine beiden Hände auf unsern Schultern ruhten. Sobald nun etwas falsch gemacht wurde, schlug seine Hand mehr oder weniger hart auf die Wange in ihrer Nähe, und so sollten wir richtig und schön übersetzen, während wir fortwährend in Angst vor einem plötzlichen Schlage schwebten. Alles wurde mit Schlägen bestraft. Jede Kleinigkeit, jedes Vergessen, Zuspätkommen oder Offenlassen der Tür kostete soundso viel Schläge. Diese wurden nicht etwa sofort erteilt, sondern angeschrieben. Es wurde richtig Buch darüber geführt, und am Sonnabend war Zahltag. Dann stellte der Unmensch das eine Bein auf einen Stuhl, nahm einen nach dem andern vor und legte ihn über das hochgestellte Bein und streichelte längere Zeit den sonst zum Sitzen dienenden Körperteil, bis dann unerwartet ein derber Schlag erfolgte, sei es mit der Hand oder einem geeigneten Stück Holz. Diese Exekution hieß das Überlegen. Wir hielten das Wort für den in der Welt dafür üblichen Terminus technicus und ich fand einen Trost darin, daß der verhaßte Brauch schon bei den Römern bestanden haben müsse, denn ich fand im lateinischen Vokabularium »überlegen consultare.« Wieder einmal stand der Sonnabend bevor, und ein langes Sündenregister harrte der Erledigung. In unserer Angst wandten wir uns an die »lieben Mädchen« und baten um ihre Fürsprache. Sie erschienen denn auch in corpore vor dem Tyrannen und baten ihn, uns die Strafe zu erlassen. »Ein Erlassen der Strafe, meine Damen, ist unmöglich,« sprach er, »aber wenn Sie die Schläge auf sich[31] nehmen wollen, so können die Buben ausgehen.« Die guten Mädchen erklärten sich dazu bereit, wohl in der Meinung, daß es nicht so schlimm werden würde. Und wirklich vollzog er an ihnen vor unsern Augen dieselbe Prozedur, die wir so oft erlitten hatten, nur daß die Mädchen nicht aufs Knie gehoben wurden, sondern auf dem Boden stehend sich darüberbeugen mußten, auch die Schläge vorwiegend auf Schultern und Rücken appliziert wurden. Ich hatte den Eindruck, daß er gelinde dabei verfuhr; meine Brüder aber behaupteten, er habe die Mädchen ebenso stark geschlagen wie uns, ausgenommen eine, mit der es eine besondere Bewandtnis hatte.
Es war nämlich damals bei uns ein Mädchen, Ottilie M. aus U., welche sich nicht durch besondere Schönheit, aber durch Munterkeit und einen eigentümlichen Liebreiz auszeichnete. Sie war, wenn ich so sagen darf, meine erste Flamme. Denn Emil C. aus Barmen, der eine Reihe von Jahren mit uns erzogen wurde und natürlich mein Busenfreund war, hatte mir, dem achtjährigen Knaben, unter andern Dummheiten die Meinung beigebracht, daß es Zeit sei, uns eine Geliebte anzuschaffen. Dies leuchtete auch mir ein, und wir wählten unter den zehn Jahre älteren Mädchen zwei aus, die wir dann durch allerlei Ritterdienste auszeichneten. Seine Dulzinea hieß Pauline M., die meine war jene Ottilie M. Die Mädchen ließen sich diesen Scherz gefallen und erklärten lachend, daß sie sich ein Brett über den Kopf binden wollten, um nicht weiterzuwachsen, bis wir ihnen an Größe gleich sein und sie heiraten würden. Emil und ich trieben die Albernheit so weit, daß wir Liebesbriefchen verfaßten und sie in der Kirche zwischen das Holzwerk der Pulte steckten, an denen die Mädchen zu sitzen pflegten. Zum Glück hat nie jemand die Sache entdeckt, auch beseitigten wir die Papierchen bald wieder aus Furcht vor der Mutter, welche in allem, was die Religion betraf, keinen Spaß verstand. Diese Liebelei entsprang bei Emil offenbar nur aus dem Wunsche, alle seine Barmer Straßenjungenstreiche auch in unser unschuldiges Oberdreis zu verpflanzen. Bei mir ging die Sache doch etwas tiefer. Noch heute steht das liebliche Mädchen mit dem unbedeutenden, süßen Gesichtchen lebendig vor meinen Augen, und es ist mir so, als wenn alle meine späteren Lieben[32] eine gewisse Familienähnlichkeit mit dieser ersten gehabt hätten. Jedenfalls habe ich durch sie schon die Qualen der Eifersucht durchkosten müssen. Der Kandidat Christ, der sie schon damals weniger als die andern geschlagen haben sollte, fand zu meinem Verdruß ein unverkennbares Wohlgefallen an ihr. Er verließ uns schon nach sechs Wochen, kehrte aber öfter zum Besuche bei uns ein, verlobte sich auf einem solchen mit Ottilie öffentlich und hat sie denn auch später richtig sitzen lassen. Sie ist unverheiratet geblieben bis auf den heutigen Tag.
Nachträglich hätte ich hier noch eines Unfalles zu gedenken, der mich im September 1855 traf und sich, solange ich lebe, wohl immer wieder neu in Erinnerung bringen wird. Wir hatten unter anderm ein Feldbett, welches durch schrägstehende Eisenstangen festgehakt wurde. Hier spielten wir eines Tages. Mein Bruder Werner, mit den Füßen auf der Erde und den Händen auf dem Bette, bot uns seinen Rücken zum Daraufspringen dar, worauf er uns nach der Seite abschüttelte. Hierbei fiel ich mit der linken Seite auf eine der eingehakten Eisenstangen. Der Schmerz war nicht groß und ging in ein paar Tagen vorüber, und es war nur als Scherz gemeint und wurde auch als solcher aufgefaßt, wenn ich am andern Morgen beim Frühstück erklärte: »Ich glaube, ich habe eine Rippe zerbrochen.« Das war etwa am Montag. Am Freitag kehrten die Schmerzen wieder, doch konnte ich noch mit nach Neitzert zu einer Hochzeit gehen und dort auf einen Pflaumenbaum klettern. Am folgenden Tage fand es meine Mutter doch für geraten, mit mir nach dem eineinhalb Stunden entfernten Altenkirchen zum Arzte zu gehen. Als solcher lebte damals in Altenkirchen Doktor Arnoldi, ein außerordentlich sanfter und ruhiger Mann, der sich von unserm Kreisphysikus in Dierdorf sehr vorteilhaft unterschied und mit Recht das allgemeine Vertrauen genoß. Dieser erklärte, daß wirklich eine Rippe zerbrochen und schon eine Herzerweiterung entstanden sei. Er verschrieb Salbe zum Einreiben und Tropfen zum Einnehmen, zur Verwunderung meiner Mutter, der es noch nicht vorgekommen war, daß man einem Kinde Tropfen gab. Wir kamen glücklich nach Hause zurück, aber in der Nacht wurde es sehr schlimm. Ich hatte hohes Fieber und große Schmerzen, welche nur dadurch[33] erträglicher wurden, daß meine Mutter, die bei mir wachte, ihre Hand gegen meine Seite hielt. Mehrere Wochen lag ich, während es erst allmählich besser wurde, von den Brüdern getrennt in einem unteren Zimmer zu Bett. In der Nacht zum 14. Oktober 1855 werde ich durch ein Geräusch geweckt, welches aus dem Nebenzimmer kommt. Ein Kommen und Gehen, mancherlei Stimmen, zuletzt das Geschrei eines Kindes. Ich rufe hinüber, und Papa erscheint und beruhigt mich durch die Erzählung, daß in der stürmischen und regnerischen Nacht fremde Leute mit einem kleinen Kinde angekommen seien und um Nachtquartier gebeten hätten. Das kleine Kind, welches in dieser Nacht angekommen war und den Abschluß der Familie bilden sollte, war meine Schwester Elisabeth. Bald darauf war ich so weit hergestellt, daß meine Brüder sich vor den kleinen Wagen spannten, der zu unsern Spielen diente und mich mit aller Sorgfalt nach Altenkirchen zum Arzt und wieder zurückfuhren. Noch jahrelang fühlte ich Stiche in der Nähe des Herzens, und das Turnen war mir verboten. Später konnte ich mich allen körperlichen Übungen nach Herzenslust hingeben, aber selbst jetzt noch stellen sich zuweilen unbehagliche Gefühle am Herzen ein, man nimmt an, daß sie von einem Nerven herrühren, der unrichtig eingeheilt ist.
Nach dem Weggange des Kandidaten Christ entschloß man sich, lieber einen Elementarlehrer anzunehmen, der gerade zu haben war, als daß man abermals längere Zeit ohne Lehrer bliebe, und so trat, wenn auch nur zur Aushilfe und für kurze Zeit, Herr Remy aus Maxsayn bei uns ein. Wir waren geneigt, ihn als Elementarlehrer und wegen seiner kleinen Gestalt nicht für recht voll zu nehmen, fühlten aber sehr bald durch, daß wir an ihm einen methodisch erfahrenen und gewissenhaften Mann gewonnen hatten, dessen Unterrichtsstunden interessant und lehrreich waren und gar sehr gegen das wüste Treiben des Kandidaten Christ abstachen. Leider konnte er nur sechs Wochen bleiben, lud uns aber freundlich ein, ihn in dem fünf Stunden entfernten Maxsayn zu besuchen. Dorthin wanderten wir denn auch in den folgenden Weihnachtsferien und wurden in dem einfachen ländlichen Hause von Herrn Remy, seiner Mutter und sei nen Brüdern freundlich aufgenommen. Eines Abends setzte sich Herr Remy mit[34] einigen Freunden zum Kartenspiel nieder, während wir zusahen. Dies brachte mich in große Gewissensnot. Von der Mutter hatte ich gelernt, daß Kartenspielen Teufelswerk sei, und als ich eines Tages ein mir geschenktes, abgenutztes Kartenspiel nach Hause brachte, hatte ich dieses sogleich ins Feuer werfen müssen. Was sollte ich jetzt tun? Ich ging hinaus und überlegte lange bei mir, ob ich aus Achtung vor dem geliebten Lehrer schweigen oder ob ich der Gesellschaft die Gottlosigkeit ihres Tuns vorhalten sollte. Zum Glück entschied ich mich für das erstere.
Herr Remy hatte uns verlassen, und wir waren wieder einmal verwaist. Da erschien eines Nachmittags bei uns ein Mann, der nichts auf der Welt sein eigen nannte, als den Anzug auf seinem Leibe, eine Brille, eine Schnupftabaksdose und sechs große baumwollene Taschentücher. Seine Sprache klang fremdartig und wurde erst nach einiger Gewöhnung verständlich. Er hieß Kaiser und stammte aus Bayern, wo er in einem Kloster zu Donauwörth Mönch gewesen war. Von dort war er, ich weiß es nicht recht warum, entflohen und hatte sich nach Koblenz gewandt, wo man wußte, daß wir einen Lehrer suchten und den von allen Mitteln Entblößten zu uns sandte. Er kam wie gerufen und wurde sogleich als unser Lehrer engagiert. Wir haben diese Wahl nie bereut. Kaiser nahm sich mit aller Treue unserer an. Er konnte gut Latein, und auch das Griechische, welches ich bei ihm begann, war ihm, von den Akzenten abgesehen, hinreichend vertraut. Seine starke Seite aber war die Musik. Er komponierte und transponierte mit Leichtigkeit, spielte ausgezeichnet Violine und Klavier und sang, indem er sich selbst begleitete, mit einer herrlichen Tenorstimme. Unvergeßlich ist mir, wie er das »Groß ist Jehova, der Herr« oder die »Junge Nonne« zu singen pflegte. Aber auch uns wußte er in der Musik heranzubilden. Er gliederte uns zu einer vierstimmigen Kapelle, indem ich den Sopran, Johannes den Alt, Werner den Tenor und Emil Kleff den Baß sang. Mit unermüdlichem Fleiße legte er für jede Stimme ein besonderes Heft an, und bald füllte sich dasselbe mit den lieblichsten Liedern, welche wir unter seiner Leitung einübten und bei jeder Gelegenheit vortrugen. Mochten wir Besuch empfangen oder in der Umgegend abstatten, immer und[35] überall begleiteten uns die geliebten Lieder und erfreuten die Herzen. Eines Tages waren wir unter Kaisers Führung nach dem drei Stunden entfernten Hachenburg gewandert und waren bei der befreundeten Familie Latsch eingekehrt, welche Bäckerei und Schenkwirtschaft hatten. Dort saß als Stammgast Tag für Tag bei seinem Glase Wein mit geröteter Nase und martialischem Schnurrbarte ein alter Haudegen, der Baron v. Runkel. Wir mußten vor ihm einige Lieder vortragen, welche seine Freude zum Entzücken, das Entzücken schließlich zu einem uns beängstigenden Paroxismus standen. Wie in einem Wutanfalle sprang er auf und rief: »Ihr verdammten Buben, hätte ich doch meinen Säbel hier! Ich wollte, hol' mich der Teufel ...« Hierbei fuchtelte er wild mit den Armen in der Luft herum, die hellen Tränen rollten über das weinselige Angesicht in den grauen Bart und zuletzt packte er den Nächststehenden von uns, es war Johannes, und drückte ihm mit seinem zottigen Schnauzbarte einen Kuß auf den Mund, daß uns allen schauderte, während Johannes hinauslief, sich zu waschen und vor einer halben Stunde nicht wiederkam.
Schon bei früheren Lehrern hatten wir das Klavierspielen angefangen. Doch legten leider die Eltern hierauf keinen besonderen Wert, und wenn die Fingerübungen uns anfingen langweilig zu werden, so waren sie leicht geneigt, uns der Stunden zu entheben. Ich habe dieses oft bereut, wenn ich im späteren Leben nach Musik lechzte und nun mühsam und unzulänglich nachholte, was damals versäumt war. Eine Zeitlang gab Kaiser mir, den er besonders in sein Herz geschlossen hatte, auch Violinstunde. Als ich dabei die Frage, ob man auf der Violine zwei Töne gleichzeitig spielen könne, in die Worte faßte: »Kann man auch einen Diphtongen geigen?« wollte er sich vor Lachen schütteln, erklärte diese Worte für einen echten Witz und erläuterte an ihnen das Wesen des Witzes, welchen er nicht unrichtig als einen Vergleich nicht zu vergleichender Dinge auffaßte.
Während unter Kaiser im Lateinischen bereits die Feldherrn des Cornelius Nepos, ein Miltiades, Themistokles und Alcibiades, ihren Heldenlauf auch vor unsern Augen wiederholten, gab der gefällige Lehrer meiner Bitte nach und lehrte uns auch[36] das Griechische, nachdem ich mir die Buchstaben schon aus Papas griechischem neuen Testamente mit Entzücken angeeignet hatte. Am Karfreitag des Jahres 1856, während ich selbst an den Röteln, der einzigen Kinderkrankheit, welche gehabt zu haben ich mich erinnern kann, schwer daniederlag, vollzog sich in der Oberdreiser Kirche ein wichtiger Akt: In Gegenwart mehrere Geistlichen und einer großen Menge trat Kaiser feierlich zum Protestantismus über. Er verließ uns gegen Ende des Jahres, um sich im Predigerseminar zu Wittenberg auf die Übernahme einer Pfarrstelle vorzubereiten. Noch oft kehrte er in unser Haus, welches ihm zur zweiten Heimat geworden war, zurück und heiratete später die sanfte, aber oft auch launische Emma Kleff, welche früher als Pensionärin, später zur Aushilfe bei meiner Mutter gewesen war. Er zog mit ihr als Pfarrer in ein entlegenes Dorf auf dem Hunsrück.
Es folgten im Jahre 1857 noch zwei weitere Hauslehrer, beide Kandidaten der Theologie zwischen dem ersten und zweiten Examen, welche als solche nur je ein halbes Jahr blieben. Der erste, namens Hirsch, Sohn des Oberleutnants Hirsch in Neuwied, war einer der heitersten Menschen, die mir begegnet sind. Jederzeit, in frohen wie in trüben Zeiten, lag etwas wie Sonnenschein auf seinem ganzen Wesen, wodurch wir uns stark zu ihm hingezogen fühlten. Sein Unterricht war anziehend und fördernd, wie er denn auch wissenschaftlich eine gute Grundlage hatte. Er trug sich mit dem Plane einer Übersetzung des Plautus und hatte dazu schon bedeutende Vorarbeiten gemacht. Später, nachdem er uns schon verlassen, verfiel er dem Fanatismus oder wie man zu sagen pflegt, einer geistlichen Erweckung. Er warf seine Plautusarbeiten ins Feuer und beschloß, nur dem Herrn zu leben. Dieser sollte alle seine Schritte leiten, ihm überließ er auch die Auswahl seiner Gattin. Es wird erzählt, daß er in Dierdorf, wo er später als Pastor war, gelobt habe, die erste, welche ihm eines Morgens begegnen würde, als die vom Herrn für ihn bestimmte anzusehen. Es sei ihm dann die bescheidene und liebliche, durch ihre Rehaugen uns allen wohlbekannte Kindergärtnerin begegnet, und Tatsache ist jedenfalls, daß er diese geheiratet hat. Sie schenkte ihm nach und nach sieben Töchter, während er selbst als[37] Gefängnisprediger in Wesel seiner Neigung zu Bußpredigten freiesten Lauf lassen konnte.
Ehe ich nun unsere Übersiedelung auf das Gymnasium zu Elberfeld berichte, welche dem jungen Leben eine reichere Fülle von Eindrücken zuführen sollte, will ich noch einiger Anregungen gedenken, in welchen ein reiches, flutendes Leben seinen Wellenschlag bis zu dem entlegenen Gestade meiner Heimat ausbreitete.
Die größten Festlichkeiten, welche unser Haus sah, pflegten die Kindtaufen der jüngeren Geschwister zu sein, deren ich mich von Maria an noch sehr wohl erinnere. Dann kam nachmittags eine größere Anzahl von Gästen, namentlich die umwohnenden Pastorsfamilien zu uns; nach der stets im Hause abgehaltenen Taufe versammelte man sich, zwanzig bis dreißig Personen an Zahl, bei Kaffee und Kuchen; und noch spät blieb man bei Wein und Heringssalat zusammen, den meine Mutter vorzüglich zu bereiten und sehr zierlich anzurichten wußte. Regelmäßig wurden auch die Geburtstage gefeiert, an denen man in gehobener Stimmung des Morgens zum gedeckten Geburtstagstisch geführt wurde, wo ein runder Topfkuchen, Rodong (d.h. wohl rotonde) genannt, von kleinen Geschenken umgeben war. Die Zahl der Jahre wurde durch Zuckerstücke, die auf dem Kuchen aufgebaut waren, symbolisch angedeutet. Einem solchen Geburtstagsfeste sah man mit Erwartung entgegen, und ich hatte dann eine erhöhte Furcht, daß ich sterben könnte, ehe mein Geburtstag gewesen sei.
Außer den Geburtstagen waren es die Kirchenfeste, welche gebührend gefeiert wurden. Ein kleines Tannenbäumchen an den vier Adventsonntagen kündete durch ein, zwei, drei und zuletzt vier Lichtlein die große Zeit an. Dann strahlte am heiligen Abend der große Christbaum, den wir nach einem alten Privilegium unter den Tannen des Oberdreiser Berges auswählen durften, und dessen Glaskugeln und Flitterwerk jedes Jahr in vermehrter und verschönerter Menge wieder erschien. Die Klingel ertönte, wir stürmten herein, und der Christbaum strahlte uns entgegen. Es wurde gesungen: Gelobet seist du, Jesus Christ. Die ganze Herrlichkeit steht mir noch heute vor Augen, sobald ich an dies Lied denke. Eine kurze Ansprache auf die Bedeutung des Tages hin, dann ging es an die Geschenke. Zuvor aber wurde noch das[38] an der Seite aufgebaute Krippchen bewundert. Eine nach der Seite offene Kiste war der Stall zu Bethlehem mit Maria, Joseph und dem Kinde, den heiligen drei Königen in orientalischen Prachtgewändern und dem Öchslein und Eslein im Hintergrund. Das Ganze war mit duftigem Moos zierlich verkleidet. Über dem Stalle sah man die Hirten auf dem Felde, und über ihnen schwebten an einem Tannenzweige, durch unsichtbare Fäden gehalten, die Engelchen, welche bei jeder Berührung des Zweiges lebhaft hin- und herflogen. Über dem Ganzen hing ein großer vergoldeter Stern. Am ersten Weihnachtsabend wurde der Christbaum in die Kirche gebracht, welche dann zum Erdrücken voll zu sein pflegte. Die Schulkinder sangen Lieder, erzählten die Weihnachtsgeschichte und wurden dann beschert. Die »lieben Mädchen«, welche gewöhnlich hierzu etwas beisteuerten, durften denn auch die Gaben verteilen. Sie standen mit ihren Körben in einer Reihe, an welcher in langem Zuge die Kinder vorbeidefilierten, wobei ein jedes seinen Anteil an Gebäck und Äpfeln, an Traktätlein, Schreibheften usw. erhielt. Auch die jüdischen Kinder nahmen unbefangen an dieser Feier teil. Die übrigen Jahresfeste hatten ebenfalls ihr angenehmes Beiwerk. Zu Neujahr gab es Brezeln; am Karfreitag wurde gewöhnlich das einzige Mal im Jahr Fisch gegessen; es war ein langer harter, durch Wässern und Kochen erweichter Stockfisch. Zu Ostern wurden dann die gefärbten Ostereier im Garten versteckt und gesucht, und zu Pfingsten fehlte es nicht an frischem Grün, das Haus zu schmücken. In anderer Weise ein Fest war es, wenn alljährlich ein Schwein geschlachtet, oder wenn einmal in drei Jahren der große Weiher von Schlamm gereinigt wurde, wobei die Menge der gefangenen Karpfen der Küche des Pastors zugute kam. Weniger ergiebig als dieser in der Pfarrwiese gelegene große Weiher, aber interessanter für uns war der etwas tiefer mitten im Dorf liegende kleine Weiher. Hier wußten wir uns eine Schiffahrt in unserer Weise zu organisieren, indem wir die Waschbütten des Hausen dort zu Schiffen machten und uns mit Stangen von einer Station zur andern hinstießen.
Um Einkäufe zu machen, ging man früher meist nach Dierdorf, später fast ausschließlich nach dem etwas näheren und auch[39] leistungsfähigeren Altenkirchen. Der rote Hof, mit der befreundeten Gutsbesitzersfamilie Schmidt, lag so entfernt, daß er nur selten, dann aber auch gleich für mehrere Tage besucht wurde. Besonders interessant waren die Besuche bei der Familie Freudenberg, welche auf der Raubacher Hütte einen Hochofen betrieb. Das Schmelzen der Eisensteine, das Herauszerren der glühenden Schlacken und endlich das Ablassen des flüssigen Eisens waren Anblicke, die für uns einzig dastanden. Auch war dort ein künstlicher Teich mit Badehäuschen, ein Garten mit schönen Laubengängen und ferner fehlte es nicht an einer guten Bewirtung. Von den Söhnen waren drei, Adolf, Philipp und Franz, mit uns ungefähr in gleichem Alter. Wir spielten gern mit ihnen, wenn sich auch von ihrer Seite ein gewisser städtischer Übermut uns gegenüber leise durchfühlen ließ. Einen dieser Spielkameraden, Philipp Freudenberg, habe ich 1893 in Kolombo auf Ceylon als deutschen Konsul und reichen Kokosölfabrikanten wiedergefunden. Ich habe mit meiner Frau in seinem gastlichen Hause einige sehr angenehme Tage verbracht. Wir rechneten aus, daß wir uns seit 1853, also gerade vierzig Jahre, nicht mehr gesehen hatten. Die Charakterzüge des Knaben hatten sich in dem Mann mit merkwürdiger Treue erhalten.
Ganz anderer Art waren unsere Beziehungen zur Familie des Gutsbesitzers Schindler in Schöneberg. Unter der Behauptung, mit uns noch entfernt verwandt zu sein, hatte diese Familie einen Verkehr mit uns angeknüpft, und dieser blieb, so wenig wir auch zueinander paßten. Der alte Schindler war ebenso reich wie er geizig war. Mit seinem Vater lebte er infolge von Erbschaftsstreitigkeiten in bitterer Feindschaft. Der Alte hatte sich von ihm getrennt, ein reizendes kleines Häuschen für sich gebaut und auf seine alten Tage ein junges Bauernmädchen aus Oberdreis geheiratet. Anders sah es bei dem hundert Schritt weit davon wohnenden Sohne aus. Er betrieb Landwirtschaft, Viehhandel, Jagd, Fischfang und lieh Gelder auf Zinsen. Überall im Hause trat einem der schmutzigste Geiz entgegen. Die Frau war ein Nonplusultra von Häßlichkeit. Drei Töchter, Ida, Amanda und Sidonia, hatten nichts Schönes außer ihren Namen. Wir nannten sie die drei Grazien. Von Natur und mehr noch durch[40] Erziehung vernachlässigt, klein, unentwickelt und häßlich, waren sie ein ständiger Gegenstand heimlichen Spottes. Alles erschrak, wenn sie eines Sonntagmorgens auf dem Berge sichtbar wurden, um bei uns zur Kirche zu gehen – mit dem Pastor ihres Orts waren sie zerfallen – und den Tag mit uns zu verbringen. Oft nahmen wir uns vor, den Verkehr abzubrechen, aber immer wieder verlockte uns ein schöner Tag, den anmutigen Weg nach Schöneberg einzuschlagen. Unterwegs wurden dann regelmäßig den neu kommenden »lieben Mädchen« Wunderdinge von der Schönheit der drei Grazien aufgebunden, und wenn wir dann ihre Enttäuschung sahen, so war aus dem Lachen gar nicht wieder herauszukommen, und wir mußten allerlei erfinden, um nur unsere lachlustige Stimmung zu motivieren. Außer den drei Töchtern war ein jüngerer Sohn vorhanden, aus dem wohl etwas hätte werden können. Ich sage dies nicht, weil er als kleiner Bengel eines Tages in dem am Hause vorbeifließenden Wiedbach einen Krebs fing und denselben vor unsern Augen lebendig mit Haut und Haar herunterfraß, sondern weil er auch in der Schule gute Anlagen bekundete. Ich, damals schon Student, setzte dem Vater hart zu, dem Sohne eine gute Schulbildung zu geben. Aber das mochte der alte Geizhammel an den einzigen Sohn nicht wenden. Nur eine Sprache wollte er ihn lernen lassen, das Hebräische, damit er beim Viehhandel auf dem Steimeler Markt die Juden unbemerkt in ihren Zwiegesprächen belauschen könnte. Dort, in Steimeln, auf dem Markte war der Alte ein selten fehlender Gast. Oben im Honoratiorenstübchen, wo man ein Glas Bier trank, saß er abseits von der gemeinschaftlichen Tafel, und ich setzte mich dann wohl neben den Herrn Vetter, wie wir uns gegenseitig titulierten, und entsetzte mich, wenn er sein Zigarrenetui öffnete, in welchem ein äußerst unappetitliches Assortiment angerauchter Zigarrenstummel sorgfältig aufbewahrt zu werden pflegte.
Nur selten kamen wir als Kinder nach dem fünf Stunden entfernten Neuwied. Doch erinnere ich mich, wie eines Tages in Geschäften mit dem Leiterwagen dorthin gefahren, bei Pfennig im Nassauer Hof übernachtet und am andern Tage die Heimreise angetreten wurde. Jeder von uns hatte als Taschengeld 18 Pfennig mit auf die Reise bekommen. Ich bewahrte meine[41] sechs Dreier in einem abgelegten Streichholzdöschen und machte mir über die Verwendung viele Gedanken. In Neuwied war am Morgen nach der Ankunft mein erster Gang nach einer Spielwarenhandlung. Die Verkäuferin zeigte mir mancherlei vor, aber immer waren die Preise unerschwinglich. Besonders stach mir ein Döschen in die Augen, aus welchem man eine glitzernde Schlange hervorziehen und ebenso wieder zurückbringen konnte. Wie entzückend! Aber fünf Groschen! Wo sollten die herkommen? Allerlei wurde noch gezeigt. Immer war es zu teuer. Zuletzt fragte ich verzweifelt: »Haben Sie denn nichts, was achtzehn Pfennig kostet?« Da holte sie einen hölzernen Hampelmann hervor. Diesen kaufte ich, hatte freilich nicht lange Freude daran. Schon auf der Rückfahrt rissen die Fäden, und Arm und Bein hingen schlaff herab.
Eine große Aufregung in der Oberdreiser Kinderwelt brach aus, als eines Tages in Oberdreis ein Puppentheater eintraf und beim Gastwirt Born im oberen »Saale« aufgeschlagen wurde. Gedruckte Zettel prangten an Häusern und Ställen, welche noch nie zu solcher Ehre gekommen waren. Heute abend große Vorstellung: Alexander von Pavia. Entree ein Groschen. Alles strömte hin, auch wir erhielten mit Mühe Erlaubnis dazu. Da saßen wir vor dem gemalten Vorhang. Aufmerksam betrachtete ich das Bild auf ihm und glaubte schon, das sei alles, was wir zu sehen bekommen würden, da klingelt es, wie durch Zauberhände rollt sich der Vorhang nach oben zusammen, und wer beschreibt mein Entzücken über das, was ich sah. Das Prunkzimmer eines Königspalastes mit Türen, Fenstern und Hausgerät zeigte sich, und da stand leibhaftig auf dem Boden ein kleiner Mann in kostbarem Gewande und links und rechts zwei andere neben ihm, alle drei von oben an unsichtbaren Fäden gehalten. Es war Alexander von Pavia selbst. Er drehte den Kopf, er hob die Arme, er sprach zu seinen Gefährten und erhielt Antwort, und zuletzt stolzierten ab, indem sie mit großem Anstand die Beine hoben. Und dann erst die Fürstinnen in ihren kostbaren Gewändern und der böse Golo und sein drolliger Diener Bimpel. Die Freude an diesen Personen und ihren Schicksalen wurde noch überboten durch das, was der folgende Tag bot. Es wurde[42] Genovefa gespielt. Das Schloß des ersten Aktes hatte sich unbegreiflicherweise im zweiten Akte in einen dunkeln schauerlichen Wald verwandelt. Hierhin folgten wir der unglücklichen Gräfin, sahen ihre Hirschkuh über die Bühne hinken, sahen im weiteren Verlaufe den Teufel mit Hörnern und Klauen, den Tod als schauerliches Knochengerippe erscheinen und freuten uns, daß zuletzt die Tugend siegte und das Laster seine Strafe fand. – Leider zog das kleine Theater nach wenigen Tagen wieder weiter, aber noch wochenlang blickte ich von der alten Mauer am großen Birnbaume sehnsüchtig nach dem Fenster hin, wo man vordem die Puppen und ihre Kostüme hatte liegen sehen können. Jetzt ging ich daran, aus einer alten Kiste mit Drähten und Tapetenstreifen selbst ein Theater herzustellen. Wie groß war unsere Freude, als es uns schließlich gelang, auch einen Vorhang zu konstruieren, welcher sich durch Ziehen an einer Schnur mit Leichtigkeit hob und senkte. Jetzt konnte gespielt werden. Die Stücke hatten wir im Kopf, und die Figuren stellten wir aus Bilderbogen durch Aufkleben und Ausschneiden her. Auch ihre Glieder konnten sie leidlich gut bewegen und mußten sich nur hüten, dem Publikum ihre Rückseite zu zeigen.
Ich war etwa acht Jahre alt, als Pava uns mit sich auf die Koblenzer Messe nahm. Den ersten Tag marschierten wir nach Neuwied und stiegen bei Pfennig ab. Am andern Morgen um 6 Uhr sollte uns der Dampfer nach Koblenz führen. Im Hotel konnten wir erst spät aufbrechen, weil ein Herr sich noch die Stiefel wichsen ließ, ehe man uns abfertigte. Eiligst ging es nun zum Rhein; da lag schon fauchend und zischend der Dampfer, aber wie wir eben die Landungsbrücke betreten wollten, fuhr er vor unserer Nase ab. Mein Vater war höchst aufgebracht, und sein Zorn war um so größer, als er den Mann mit den geputzten Stiefeln behaglich am Rhein auf und ab spazieren sah. Jetzt mußte die kleine Gesellschaft zwei Stunden weit auf einer langweiligen Chaussee bis Engers marschieren und fuhr dann mit dem Lokaldampfer nach Koblenz. Am Nachmittag strich mein Vater mit uns dreien über die Messe. Da gab es viel zu sehen, und während ich noch dastand, durch irgendeinen Anblick gefesselt, waren Vater und Brüder verschwunden. Vergebens[43] suchte ich nach ihnen, die Angst ergriff mich, und ich wußte nicht, was zu tun war. Da entdeckte mich eine Dame, die meinen Vater und uns im Hotel gesehen hatte, und führte mich wohlbehalten wieder dorthin. Am Abend kam das Beste: Papa nahm uns mit in die Schaubude von Rudolf Knie. Da gab es Seiltänzer, Jongleure und andere Artisten in Fülle. Diese Eindrücke versüßten mir die beschwerliche Wanderung von Valendar über Isenburg, welche uns Papa auf dem Rückwege zumutete, und zu Hause angelangt, versuchte ich in den nächsten Tagen nicht ohne Erfolg, einige der gesehenen Kunststücke nachzumachen. Immer größer wurde mein Wohlgefallen an dergleichen. Schließlich konnte ich nicht länger schweigen, ich nahm unsern Lehrer – es war noch Herr Hoffmann – beiseite und vertraute ihm, daß ich jetzt über meinen künftigen Beruf im klaren sei und ein Seiltänzer werden wolle. Der verständige Mann verlachte mich nicht, sondern setzte mir ernsthaft und umständlich auseinander, wie man hierzu schon in frühester Jugend angeleitet werden müsse. »Für dich«, so schloß er seine Rede, »ist es zu spät. Du bist schon acht Jahre alt, und ein Seiltänzer muß mit fünf Jahren anfangen.« Und so stand ich da mit dem wehmütigen Bewußtsein, meinen eigentlichen Beruf in der Welt schon so früh für immer verfehlt zu haben.
Unsere erste selbständige Reise unternahmen wir drei Brüder, Johannes, Werner und Paul, im Herbste 1856. Die Großmutter in Wevelinghoven hatte fünf Taler geschickt mit der Bestimmung, daß die drei Enkel sie damit besuchen sollten. So wurden denn drei Ränzel gepackt, und wir machten uns mit Proviant und guten Ratschlägen reichlich versehen auf den Weg. Ich hatte gefürchtet, daß das Reisegeld einem der beiden älteren Brüder eingehändigt und ich dadurch in eine gewisse Abhängigkeit von ihm versetzt werden möchte. Wie groß war daher meine Freude, als Papa beim Abschiede jedem einen Taler und zwanzig Groschen auszahlte. Mit frohem Selbstgefühl wanderten wir drei kleinen Burschen in die unbekannte, lockende Ferne hinaus. Als uns jemand begegnete und fragte: Nun, wollt ihr auf Reise gehen? Da antwortete Johannes: »Ja, und auf eigene Faust.« Und dabei hob er seine kleine Hand und ballte sie zur Faust. Den[44] ersten Tag ging es bis Anhausen, wo wir bei Pastor Bringmann übernachteten. Am andern Tage wanderten wir in herrlicher Morgenfrühe nach dem zwei Stunden weit entfernten Neuwied und von hier trug uns der Dampfer nach Köln, wo wir gegen Mittag wohlbehalten eintrafen. Zunächst wandten wir uns nach dem Neußer Bahnhof, welcher damals eine viertel Stunde von der Stadt entfernt im freien Felde lag. Dort mußten wir erfahren, daß ein Zug erst nach mehreren Stunden fahren würde, keine vierte Klasse haben und es in der dritten bis Neuß dreizehn Groschen für jeden kosten würde. Das war denn doch zuviel für unser kleines Budget. Wir kehrten nach der Stadt zurück und fuhren nachmittags um vier Uhr in einem Omnibus, eingepökelt wie die Heringe, für vier Groschen nach Stommel. Von hier waren noch drei Stunden zu Fuß zurückzulegen, und so trafen wir erst am späten Abend bei der Großmutter ein. In den Häusern der Großmutter und zweier Onkel, von denen der eine Buchbinder, der andere Gerber war, fanden wir gastliche Aufnahme. Besonders interessierte mich die Buchbinderei. Ein alter Phädrus, den ich im Ranzen mit mir führte, wurde vor meinen Augen neu gebunden. Das Heften, Beschneiden und Bekleben hatte ich bald abgesehen und beschloß es zu Hause nachzumachen. In der Tat wurde es weiterhin die Lieblingsbeschäftigung meiner Freistunden, Bücher einzubinden, und ich bewahre noch einen von mir selbst leidlich gebundenen Cornelius Nepos. Fehlte es an ungebundenen Büchern, so wurden alte Einbände abgerissen und das Buch neu gebunden. Mitunter blieb ich auch in der Arbeit stecken, und mein Vater hat es mir bis in die spätesten Zeiten noch vorgeworfen, daß ich sein altes, dickes lateinisches Wörterbuch von Lünemann in einzelne Bogen aufgelöst, aber nicht wieder zusammengebunden habe. Aus der Heimat der Mutter ging es dann in die des Vaters. Unsere Wohnung nahmen wir beim Onkel Wilhelm Heinrich in Jüchen. Hier schliefen wir alle drei in dem großen Bette des Zimmers mit den Goldtapeten und dem Wunderschrank, von welchem der Onkel jeden Morgen beim Wecken drei der schönsten Äpfel zu uns herunterrollen ließ. Von Jüchen aus machten wir unsere Besuche in der Umgegend, vor allem in dem eine Viertelstunde entfernten Kelzenberg, wo die[45] alte Großmutter noch lebte, ebenso wie ihre drei Söhne, die als engherzige Bauern uns nicht nähertraten; nur der Onkel Heinrich machte eine rühmliche Ausnahme. Sein Haus in Jüchen betraten wir stets wie eine zweite Heimat und verließen es nie, ohne von ihm reichlich beschenkt zu werden. So nahm er sich schon bei unserm Besuche 1856 unserer mit großem Interesse an, und es war schon die Rede davon, daß wir durch seine Mithilfe unser Reiseprogramm dahin erweitern sollten, auch noch die Verwandten in Elberfeld zu besuchen. Freilich kam ein unliebsames Ereignis dazwischen. Unser alter Schulkamerad, Christian Schmidt, der in Oberdreis mehrere Jahre hindurch den Unterricht unserer Hauslehrer teilweise mitgenossen hatte, war Elementarlehrer in dem eine Stunde von Jüchen entfernten Schelsen geworden. Onkel Wilhelm Heinrich erlaubte uns, Christian auf einen Nachmittag zu besuchen. Dieser nötigte uns, die Nacht zu bleiben, indem wir alle vier in seinem geräumigen Bette schliefen. Drei lagen parallel und der vierte quer am Fußende. Unser Ausbleiben erfüllte den guten Onkel mit Sorge, und als wir am andern Morgen wieder eintrafen, hielt er uns eine gewaltige Strafpredigt und blieb auch nachher in ziemlich übler Laune. Keiner wagte es unter diesen Umständen noch von der Tour nach Elberfeld zu reden. Wie groß war daher unsere Freude, als der Onkel selbst einige Tage darauf beschloß, uns nach Elberfeld reisen zu lassen. Er begleitete uns selbst bis Düsseldorf, und drückte uns die Billetts nach Elberfeld und dazu noch jedem einen Taler in die Hand und verließ uns erst, nachdem er uns in ein Kupee gesetzt und dem Schutze eines Mitreisenden anempfohlen hatte. So gelangten wir nach Elberfeld, und hier ging uns eine neue, nie gekannte Welt auf. Die hohen glänzenden Häuser und Läden, die breiten verkehrsreichen Straßen, das reichere Leben im Hause der dortigen Verwandten, das alles übte auf unsere unverwöhnten Gemüter einen mächtigen Zauber aus. Unser Besuch galt vor allem den Geschwistern Brüning, einem Onkel und vier Tanten, welche, damals noch sämtlich unverheiratet, ein bedeutendes Betten- und Leinengeschäft betrieben. Auch dieses Haus kann ich als eine wirkliche Heimat betrachten. Die Seele des Ganzen, gleichsam das Ministerium des Äußern und Innern[46] waren Elise und Marie. Während die andern Geschwister teils sich verheirateten, teils frühzeitig verstarben, sind die genannten beiden von bleibendem und wertvollem Einflusse auf meine Entwicklung geblieben. Elise zeichnete sich durch einen klaren, kalten Verstand aus, der mich öfter anleitete, die Konsequenzen zu ziehen, wenn ich ratlos und zaudernd stand. Sie war es, welche mir Herbst 1866, als ich mit der Theologie zerfallen von Tübingen nach Bonn zurückkehrte, den Entschluß einflößte, trotz des entgegenstehenden Wunsches der Eltern mich in der philosophischen Fakultät immatrikulieren zu lassen. Im Gegensatze zu ihr war Marie Brüning ganz Gemüt, ganz Herz, ganz Hausmütterchen und hat es an mir bewiesen von dem Tage an, wo sie mich zu Oberdreis als fünfjährigen Knaben in der Badewanne abseifte, bis zu Zeiten, wo wir dieser und anderer Jugenderinnerungen mit fröhlichem Lachen zu gedenken pflegten. Von Brünings aus machten wir unsern Besuch 1856 bei Onkel und Tante Schnabel. Wir wurden hereingeführt und blieben bescheiden an der Tür stehen. Niemand war im Zimmer außer zwei Knaben, welche in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers spielten. Sie blickten auf, und der eine fragte den andern: »Kennst du die?« – »Nee«, war die Antwort. – »Ich auch nich«, sagte der erste wieder, und damit wandten sie sich wieder ihrem Spiele zu, ohne von uns weiter Notiz zu nehmen. Es waren Ernst und Moritz Schnabel, der erste mein Busenfreund bis zu seinem frühen Tode, der andere noch gegenwärtig Chef der von seinem Vater ererbten Vertretungen englischer Häuser. Endlich kam der älteste Sohn Heinrich dazu und vermittelte die Bekanntschaft, da er schon vorher zur Stärkung seiner Gesundheit einige Monate in Oberdreis zugebracht hatte. Er war von den drei Söhnen der am wenigsten begabte und hat es doch am weitesten in der Welt gebracht.
Von Elberfeld kehrten wir reich an schönen Erinnerungen auf unser stilles Dorf zurück. Im Laufe des folgenden Jahres stellte sich bei dem ewigen Wechsel der Hauslehrer die Notwendigkeit heraus, uns einem Gymnasium zu übergeben, und so wurde beschlossen, uns drei Ältesten zum Herbste 1857 nach Elberfeld zu schicken. Mit Sehnsucht sah ich der Zeit entgegen, wo ich in dem geliebten Elberfeld meinen dauernden Wohnsitz nehmen sollte.[47] Ich zählte die Wochen, die mich noch von der Abreise trennten. Eine der ödesten Stunden in der ganzen Woche war die Kinderlehre am Sonntag in der Kirche. Hier kratzte ich acht Wochen vor der Abreise auf dem Rücken der Bank, hinter welcher ich saß, mit dem Nagel acht Kreise ein und durchkreuzte an jedem Sonntage einen von ihnen. So rückte der Oktober des Jahres 1857 immer näher, und mit ihm der Tag der Abreise. Am Abend legte uns die gute Mutter noch gar vieles ans Herz. Sie schilderte uns die Gefahren der großen Welt und betete, daß der Herr uns vor ihnen behüten möge. Plötzlich stand sie still auf unserm gemeinsamen Gange durch den Garten und sprach: »Und nun, ihr Kinder, versprecht mir noch eines hier vor Gottes offenem Angesicht: daß ihr niemals eine Konditorei besuchen werdet!« – Wir sagten es zu und haben es auch gehalten. Wir haben in den zwei Jahren meines Elberfelder Aufenthaltes keine Konditorei betreten, und noch lange im späteren Leben überlief mich ein Schauer, wenn ich an einer Konditorei vorbeiging.
1 Berg auf Ithaka.
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