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[272] Mein Leben in Kiel ist zu vergleichen mit einer Wanderung durch eine fruchtbare, etwas einförmige Ebene, unterbrochen durch Aufstiege zu Berghöhen mit weiter, erquickender Fernsicht. Die Ebene ist Kiel, die Berghöhen sind die alljährlich einmal, gewöhnlich sogar zweimal unternommenen Reisen.
In Kiel ging es bald an die Arbeit des Abstattens der Antrittsbesuche, deren nicht weniger als 88 zu erledigen waren, denn damals bestand noch die schöne Sitte, daß man alle Kollegen persönlich besuchte, von ihnen wieder besucht, bald darauf zum Diner oder Abendessen eingeladen wurde und gewissenhaft alle in derselben Weise wieder zu sich einlud; kaum einen oder zwei gab es damals, die sich diesen Verpflichtungen entzogen hätten. Diese schöne Sitte ist mit der Zeit, in dem Maße wie die Universität sich vergrößerte, mehr und mehr abgekommen. Übrigens war unser Verkehr nicht ganz auf die Universitätskreise beschränkt, wie wir denn manchen Abend in dem sehr geselligen Kreise unseres Oberbürgermeisters Fuß verbrachten oder bei Sartori, von dem man vor 2 Uhr nachts nie loskommen konnte, oder bei dem Admiral Knorr, der uns alljährlich zu einem großen Monstreball einlud.
Die Universität Kiel zählte, als ich Herbst 1889 in sie eintrat, 500 Studenten, während sie jetzt, vierundzwanzig Jahre später, gegen 2000 hat. Es war daher kein ungünstiger Anfang, als ich meine allgemeine Geschichte der Philosophie in Kiel mit 34[273] Zuhörern eröffnete. Mit der Studentenzahl stieg auch der Besuch des Privatkollegs; in den Jahren 1909–11 waren es regelmäßig über 200, worauf dann die Zahl wieder auf 150 zurückging, teils weil zwei neue Privatdozenten eingetreten waren, teils, weil nach langem Kampfe eine unphilosophische Partei es durchgesetzt hat, daß die Philosophie im Doktorexamen nicht mehr obligatorisch ist.
Der erste Winter in Kiel brachte, wie zu erwarten war, zahlreiche Einladungen, welche wir durch zwei große Gesellschaften erwiderten, zur großen Befriedigung meiner Frau, die sich bei den Arrangements sehr geschickt und sachkundig zeigte. In Berlin waren wir in den Weihnachtsferien Gäste meines Schwagers Franz und faßten zurückgekehrt den Plan, die schönen, langen Osterferien zu einer Reise nach Palästina zu verwenden. Da heutzutage die Landessprache dort das Arabische ist, so ging ich mit meiner Frau daran, mit allem Eifer Arabisch zu lernen. Auf unsern täglichen Spaziergängen wurde, während ein schneidender Ostwind vom Hafen herüberwehte, Tag für Tag das Vulgärarabisch nach dem Büchlein von Wied eingeübt, und zu Hause las ich fleißig in der arabischen Bibel solche Texte, deren Inhalt mir schon bekannt war.
Am 6. März reisten wir von Kiel nach Berlin, am 7. nach Prag und am 8. nach Wien, alles durch tiefen Schnee. Am 10. früh fuhren wir, während immer noch spärliche Schneeflocken herunterkamen, von Wien nach Budapest, und dann ging es den ganzen Tag scharf nach Süden bis Semlin und über die Save nach Belgrad. Die folgende Nacht fuhren wir in engen serbischen Wagen durch ganz Serbien, ohne irgend etwas davon gesehen zu haben. Es soll ein schönes Land sein, aber niemand kennt es, weil die Hauptzüge beide in der Nacht gehen. Am Morgen des 11. März langten wir in Nisch an; hier war kein Schnee zu bemerken, aber ein schneidender Nordwind wehte, und das Volk am Bahnhof in seinen dünnen türkischen Pluderhosen fror dermaßen, daß es einen selbst frieren konnte. Nun ging es in die Türkei hinein, und der Empfang an der Grenzstation war drollig genug. Ich hatte in bezug auf zollpflichtige Gegenstände ein Gewissen von seltener Reinheit, öffnete meinen Koffer dem türkischen[274] Zollbeamten und ließ ihn ruhig darin herumwühlen. Ich hatte aber eine Anzahl von Baedekern und Meyern für Palästina und Ägypten. Diese Bücher mit ihren Karten und Plänen erschienen dem Beamten als sehr bedenklich; besonders das Reichskursbuch mit seinen Ziffern und Eisenbahnrouten war ihm verdächtig; aufmerksam prüfte er den Inhalt, drehte das Buch herum, das unterste nach oben und prüfte nochmals, und schließlich packte er meine sämtlichen Reisebücher und Kursbücher unter den Arm und schob damit ab, und vielleicht hätte ich nie etwas davon wiedergesehen, wäre ich ihm nicht auf dem Fuße gefolgt bis in das Zimmer eines höheren Beamten, der genug von der außertürkischen Welt kannte, um die Bücher als gänzlich unverdächtig und der Heiligkeit des Islam ungefährlich freizugeben.
Weiter ging es immer nach Süden bis Saloniki. Da unser Schiff nach Athen erst am späten Nachmittag fuhr, so hatten wir Zeit, Saloniki zu besehen und die unvermeidlichen Postkarten zu schreiben. Eine derselben war an meinen Kollegen Grafe, damals Professor für Neues Testament, in Kiel gerichtet und lautete:
Nach Thessalonich schrieb Paulus der größere zweimal,
Wenn auch die böse Kritik dieses wie alles benagt.
Aus Thessalonich schreibt Paulus der kleinere heute;
Für ein kanonisches Werk kommen wir leider zu spät.
Saloniki, zwischen schönen Bergen an einem Fluß gelegen, ist eine sehr interessante Stadt. Von den da mals 60000 Einwohnern waren nicht weniger als 40000 Juden, welche aus Spanien vertrieben sich hier angesiedelt haben. Sie unterhalten eine hebräische Zeitung, d.h. eine mit hebräischen Buchstaben gedruckte; sieht man aber näher zu, so ist sie in einem altmodischen Spanisch verfaßt. Übrigens machen die Verhältnisse in Saloniki den Juden alle Ehre. Man wird nicht wie sonst im Orient angebettelt, die Kinder sind anständig gekleidet und gehen, wie wir es beobachten konnten, in die Schule.
Am späteren Nachmittag schifften wir uns auf einem italienischen Dampfer nach dem Piräus ein und kamen erst abends gegen 6 Uhr dort an. Wir fuhren zum Hotel des Etrangers, einem guten Hotel an dem freien schönen Platze, an dem auch das Königsschloß liegt. Am Morgen öffnete ich das Fenster;[275] ein entzückender Frühlingsmorgen begrüßte mich; an Bäumen und Sträuchern schimmerte das erste zarte Grün, die Vögel sangen und erinnerten mich an die Eingangsszene der Elektra des Sophokles. Da wir zwei Tage bis zur Abfahrt nach Ägypten hatten, so benutzte ich sie, um über die Hügel der alten Stadt, wie sie mir von meiner ersten Reise nach Griechenland her noch wohlbekannt waren, zu streifen. Bei dem Rennen und Springen über die felsige, bergige Stätte des alten Athens mag ich des Guten zuviel getan haben, wie sich drei Tage später in Ägypten herausstellte. Nach zweitägigem Aufenthalt schifften wir uns auf dem Khedivedampfer nach Alexandria ein. Gegen Abend konnte ich beobachten, wie einige Türken die vorgeschriebenen Gebetsübungen ausführten. In einer Ecke des Verdecks hatten sie einen Teppich ausgebreitet, ich sah, wie sie die Frage diskutierten, nach welcher Richtung Mekka liege, dann knieten sie nieder, neigten ihre Köpfe bis zur Erde und murmelten ihre Gebete, das Gesicht nach Mekka gewendet. Am nächsten Tage fuhren wir bei schönstem Wetter an der Ostküste von Kreta vorbei und landeten nach zweitägiger Fahrt in Alexandria. Schon beim Ausbooten empfanden wir die glühende Sonne des Südens. In wenigen Tagen waren wir aus dem verschneiten Deutschland in den griechischen Frühling und von dort in Ägypten in den heißen Sommer gekommen. Alles um uns her glänzte in wunderbaren Farben. Ein Knabe, der vor seinem Eselchen kniete und ihm die grünen Pflanzen einzeln in den Mund reichte, war ein Genrebild, bei dem man bedauerte, kein Maler zu sein. Wir strichen fleißig herum, aber mein rechter Fuß schwoll an der Wurzel des großen Zehes von Stunde zu Stunde mehr an, und fing an heftig zu schmerzen. In dem trefflichen französischen Hotel, wo wir abgestiegen waren, meinte einer der zahlreichen als Fremdenführer sich umhertreibenden Dragomane: »Ich glaube, ein Mucken hat Sie gestuchen.« Diese Dragomane sind meistens Juden, sehr anstellig, und sprechen alle auch ein etwas kauderwelsches Judendeutsch. »Wo werden Sie absteigen in Kairo«, fragte mich einer derselben. – »Ich denke ins Hotel du Nil zu gehn, welches mir meine Freunde empfohlen haben.« – »Warum wollen Sie nicht gehen ins New-Hotel, ist doch viel vornehmer.« – »Nun, Samuel, schon im Hotel du Nil[276] kostet der Tag fünfzehn Franken à Person, und das ist mir gerade genug.« – »Dafür können Sie es auch haben in New-Hotel, soll ich telegraphisch anfragen?« – Ich willigte ein und die Antwort kam zurück: Molto bene. Herrlich war die Fahrt am andern Tage von Alexandria nach Kairo durch das überaus fruchtbare Nildelta. Überall sah man die Fellachen fleißig bei der Feldarbeit. Der ägyptische Bauer ist das ganze Jahr hindurch mit Bewässern, Säen und Ernten überaus tätig. Wenn er trotzdem sehr arm ist, wie die bienenkorbartigen, elenden Lehmhütten beweisen, so mag das wohl an der Regierung liegen, welche das Volk zu sehr ausbeutet; früher waren es die Türken, jetzt sind es die Engländer. Nach dreistündiger Fahrt, während der ich den Stiefel auszog und den schmerzenden Fuß hochlegte, langten wir in Kairo an und fuhren ins New-Hotel. Das Zimmer, welches man uns für fünfzehn Franken anwies, kostete laut Anschlag achtzehn Franken für die Person. Schon als ich die Treppe heraufhinkte, begegnete mir ein Herr, der mir sehr bekannt vorkam. Nachher sah ich ihn im Speisesaal mit ein paar Damen sitzen, betrachtete ihn genauer, es war der Graf Landberg, den ich von Stockholm und Christiania her kannte. Da ich einige Tage das Zimmer hüten mußte, hat er mich wiederholt besucht, bot uns auch in liebenswürdiger Weise seinen Wagen an, welches ich jedoch dankend ablehnte, da es uns, wegen der Trinkgelder, allzu teuer gekommen sein würde, denn zu einem solchen Wagen gehört nicht nur ein Kutscher, sondern außerdem noch zwei Läufer, welche in den engen volkreichen Gassen vor dem Wagen herlaufen und mit lautem Geschrei das Volk auffordern, nach den Seiten auszuweichen. Das beste Vehikel und auch das billigste ist in Ägypten der Esel. Man braucht auf der Straße nur den Ruf: »Chumar!« hören zu lassen, so kommen sogleich zwei oder drei angetrabt; man besteigt den einen Esel, gibt dem braunen, nur mit einem langen blauen, beim Laufen aufgeschürzten Hemde bekleideten Führer, meist einem Knaben, Schirm, Buch oder was man sonst zu tragen hat, und nun treibt er hinterherlaufend unter fortwährendem Zureden und Schlagen seinen Esel zum Trabe an. Man tut wohl daran, einen jüngeren Knaben zu wählen, da mit dem Alter die Ansprüche wachsen, während die Behendigkeit des Führers[277] abnimmt und auch der Esel diese Eigenschaft seines Herrn zu teilen pflegt. Zunächst freilich mußte ich auf derartige Vergnügungen verzichten. Ich ließ einen deutschen Arzt kommen, der nach einigem Zweifel die Anschwellung meines Fußes für Gicht erklärte, zu meiner Verwunderung, da ich nie vorher dergleichen gekannt hatte. Seitdem hat mich die Gicht zweiundzwanzig Jahre lang als unheimlicher Gast meist auf der Reise im Frühjahr und Herbst heimgesucht.
Es war hart für mich in einer so neuen und interessanten Welt, wie sie in Kairo mich umgab, mehrere Tage auf das Zimmer beschränkt zu sein, und begehrlich schaute ich durch das Fenster auf die Straße und ergötzte mich an dem Gewimmel da unten, welches nur noch überboten wurde durch das Schauspiel, das sich einige Jahre später in Bombay uns darbot. Inzwischen hatte ich, um die Zeit auszunutzen, mir einen arabischen Lehrer besorgen lassen, einen jungen Kopten, einen Schreiber im Ministerium, von dem ich so viel Arabisch profitierte, wie es in drei Tagen nur möglich war. Da er sehr gut französisch sprach, so lud ich ihn ein, uns auf unsern Streifzügen in die Umgegend zu begleiten.
Der erste ging nach Matarije, dem alten Heliopolis, in der Bibel On genannt, von dessen Herrlichkeit nur noch ein großer Obelisk übrig ist mit einer Inschrift, dessen Züge durch einen in ihnen nistenden Bienenschwarm unkenntlich waren. Eine andere Sehenswürdigkeit ist ein seine Äste und Zweige weit um sich her ausbreitender Sykomorenbaum, unter dessen Schatten die Jungfrau Maria mit dem Christuskindchen bei der Flucht nach Ägypten geruht haben soll. Wegen seiner besonderen Heiligkeit ist das Grundstück, auf dem er steht, mit einem Zaun umgeben. An der Eingangspforte bedeutete man mich, daß ich von meinem Esel absteigen und ihn draußen lassen müsse. Kaum war es geschehen, als ein junger Fant sogar zu Pferde aus dem heiligen Bezirk herausgeritten kam. »Wie,« rief ich aus, »mich zwingt man von meinem Esel abzusteigen, und diesen jungen Burschen hat man sogar mit seinem Pferd hineingelassen!« – »Ja,« hieß es, »das ist ein Engländer, und den Engländern wagt man in Ägypten schon gar nichts mehr zu sagen.«[278]
Ein zweiter Besuch galt den zwei Stunden oberhalb Memphis bei Gizeh stehenden drei großen Pyramiden des Cheops. Wir fuhren zu Wagen auf einer schönen, von Bäumen beschatteten Allee dorthin. In Gizeh angelangt besichtigten wir das Museum mit seinen Mumiensärgen, Papyrosrollen und andern Altertümern und stiegen dann zu der Erhöhung hinan, auf welcher weithin sichtbar die drei großen Pyramiden stehen. Wir lagerten uns am Fuße derselben im Schatten, um das aus dem Hotel mitgebrachte Frühstück zu verzehren. In der Nähe saßen hier und da Araber und lungerten mit begehrlichen Blicken zu uns herüber. Jede Brotkruste, die wir wegwarfen, wurde von ihnen wie von Hunden aufgegriffen und gierig verzehrt. Ich ließ mir das Brot zeigen, welches ihnen als Nahrung dient. Es waren harte, dicke Fladen, ähnlich dem schwedischen Knakebröd, nur aus viel schlechterem Stoff, für den Europäer kaum genießbar. Die Pyramiden sind jetzt ihres Marmormantels beraubt und stellen sich dar als Aufschichtungen von mächtigen, einen Meter hohen Quadersteinen, auf welchen man wie auf Treppenstufen hinaufsteigen kann mit Hilfe zweier Araber, von denen der eine zieht und der andere von hinten schiebt. Ich bestieg ein Kamel, ritt den steilen Abhang zur großen Sphinx herunter, welche aus dem natürlichen Felsen ausgehauen ist und zwischen ihren Riesentatzen einen kleinen Tempel enthält. Von dort ritt ich, meine Frau bei dem Kopten zurücklassend, auf meinem von einem Araber und seinem Knaben geführten Kamel eine halbe Stunde in die Wüste hinein und ließ mich durch ihr immer wieder angestimmtes Geheul um Backschisch nicht im Genusse des erhabenen Naturschauspiels stören. Unter dem wolkenlosen Himmel sah man, so weit das Auge reichte, eine sonnenbeglänzte Landschaft mit schönen Bergen und Tälern, aber alles Stein und Fels, in den Niederungen und Ritzen mit dem vom Winde verwehten Sande gefüllt, ohne jede Spur pflanzlichen oder tierischen Lebens, in schauerlich schöner Einsamkeit. Eine solche Steinwüste würde ganz Ägypten sein, brächte nicht der Nil alljährlich bei der Überschwemmung große Schlammassen aus den südlichen Gebirgen herunter, wodurch sich eine mehrere Kilometer breite Ebene zu beiden Seiten des Flusses gebildet hat, welche, soweit man das Wasser durch[279] selbsttätige Schöpfräder, Rinnen, Pumpen, Leiten oder mit Strohkörben schleudern kann, eine erstaunliche Fruchtbarkeit entwickelt. Eine einzige Furche scheidet das herrlich grünende und blühende Kulturland von der von der Sonne verbrannten, dürren, braungelben Wüste ab.
Da gegen Ende März der Wasserstand schon sehr niedrig ist und die Cookdampfer, auf denen für Unterkommen, Beköstigung, Führer, Esel usw. gesorgt ist, nicht mehr fuhren, auch unsere Zeit gemessen war, so verzichteten wir auf die dreiwöchentliche Fahrt bis zum ersten Katarakt hinauf und begnügten uns mit einer eintägigen Tour auf einem kleinen Dampfer nilaufwärts, welche bis zu den Stufenpyramiden von Sakkara und wieder zurück führte. Mehrere Stunden fuhren wir nilaufwärts, sahen uns beim Aussteigen von einer solchen Schar von Eseln mit ihren Treibern umringt und bedrängt, daß die mitfahrenden Dragomane nur mit Stockschlägen uns Luft machen konnten. Endlich hatte jeder seinen Esel, und nun ging es vorüber an armseligen Hütten und durch herrliche hohe Kokoswaldungen, vorüber auch an einer liegenden Kolossalstatue, angeblich des zweiten Ramses, nach Sakkara, während mehrfach am Wege Bauern standen und allerlei Altertümer in den Händen hochhielten und zum Verkauf anboten, ohne daß ich Zeit fand, mich dabei aufzuhalten, vielmehr meine Aufmerksamkeit dem etwas störrischen Esel meiner Frau zuwenden mußte. Nachdem wir die Stufenpyramiden besichtigt hatten und in die unterirdischen Gräber des Ti und der Apisse hinabgestiegen waren, deren Wandmalereien nach viertausend Jahren in so frischen Farben glänzen, als wären sie gestern gemalt, traten wir auf unserm Dampfer die Rückfahrt an. Sehen Sie doch, was ich gekauft habe, sagte ein kleiner jüdischer Dragoman zu mir und zeigte mir das schön erhaltene Gesicht vom Deckel eines Mumiensarges aus Sykomorenholz, auf der Rückseite ganz roh von dem Sarge losgehauen, und wie billig, fuhr er fort, ich habe nur sechs Piaster (60 Pfennig) dafür bezahlt. Der schöne Kopf reizte mich und, um keine abschlägige Antwort zu erleiden, ließ ich durch einen Dritten dem Besitzer zwei Schilling dafür anbieten. Alsbald kam er auf mich zu und sagte auf französisch: Ich würde das kostbare Stück nicht losschlagen, aber[280] weil ich die Ehre habe, mit Ihnen auf demselben Boote zu fahren, will ich es Ihnen für zwei Schilling überlassen. Sähe man nicht auf der Rückseite die Axthiebe, durch welche das schöne Mumiengesicht von dem Holzsarge getrennt worden war, so würde schon die Niedrigkeit des Preises eine genügende Bürgschaft für die Echtheit sein. Ich habe das schöne Stück, sorgsam eingewickelt, durch alle Schwierigkeiten der Zollkontrollen wohlbehalten mit nach Hause gebracht, und noch heute hängt es in meinem Zimmer als schönstes Andenken an meine ägyptische Reise.
Manches wäre noch von Kairo zu erzählen, was wir nur kurz erwähnen wollen, von der Zitadelle mit ihrer herrlichen Rundsicht, von den Kalifengräbern, einer Gräberstadt in Ruinen, in welchen kleine Leute sich eingenistet haben und behaglich leben, von der großen monumentalen Brücke über den Nil und von dem Äsbequijegarten mit seiner tropischen Flora und seinem indischen Nygrodahbaume, dem ersten, den ich in meinem Leben sah, und den ich schon aus der Ferne nach der Beschreibung an seinen bis in den Boden wachsenden Zweigen erkannte.
Da wir den April für Palästina bestimmt hatten, so nahmen wir in den letzten Märztagen von Kairo Abschied und fuhren mit der Bahn durch das Land Gosen, die häufig vom Wüstensand verschüttete Strecke, nach Ismailija, zwischen Suez und Port Said am Suezkanal gelegen, von wo um 2 Uhr ein kleiner Dampfer nach Port Said fuhr. Dort verbrachten wir die Nacht in einem mittelmäßigen Hotel, besichtigten am andern Tage die geringen Sehenswürdigkeiten des Ortes, den Kanal mit seinem interessanten Treiben, die etwas abseits liegende Araberstadt, wo gerade eine Hochzeit manche Eindrücke bot, und bestiegen gegen Abend den Dampfer, der uns von Port Said nach Jaffa, die Strecke, zu welcher die Kinder Israels vierzig Jahre gebrauchten, in einer Nachtfahrt vom 31. März bis zum 1. April hinüberführen sollte.
Am Morgen des 1. April um 6 Uhr warf unser Dampfer Anker vor dem an einem Bergrücken sich hinaufziehenden Jaffa in beträchtlicher Entfernung vom Ufer, da der infolge türkischer Indolenz versandete Hafen eine weitere Annäherung nicht gestattet. Endlich langten wir auf kleinen, von Arabern geruderten[281] Booten glücklich am Ufer an und stiegen durch die steilen Straßen der Stadt bis zu der Höhe hinauf, auf welcher das Hotel Harder liegt. Ein kleiner, intelligenter Araberknabe hatte sich uns angeschlossen und ließ uns nicht eher los, als bis wir ihm erlaubten, nach dem Frühstück uns zu einem Rundgang durch die Stadt abzuholen. Inzwischen ging er vor dem Hotel wie eine Schildwache auf und ab und trieb alle andern Knaben fort, welche auch auf unsere Führung Anspruch machten, denn er hatte uns für sich allein gleichsam gepachtet. Wie die meisten Hotels in Palästina wurde auch das unsere von einem Mitgliede des Guttemplerordens geführt, einer in Palästina verbreiteten Sekte, welche an die Nähe des Tausendjährigen Reiches und die Herabkunft des himmlischen Jerusalems glaubt und sich in Palästina angesiedelt hat, um demselben nahe zu sein. Von dieser Art war Herr Harder, ein frommer Amerikaner, auch literarisch tätig, da er eine kleine Sammlung von Bibelsprüchen in deutscher, englischer und französischer Sprache verfaßt hat unter dem Titel Bibelpillen, Biblepills, Pilulles Bibliques, welches in allen drei Sprachen in jedem Schlafzimmer auflag zum Gebrauche der Gäste, wenn sie das Bedürfnis fühlen sollten, zur Stärkung ihrer geistlichen Gesundheit diese Pillen einzunehmen. Im Laufe des Vormittags wurde ich mit zwei Herren bekannt, welche Pferde nehmen wollten, um nach Jerusalem zu reiten. Der eine war ein amerikanischer Prediger, sah aber mehr nach einem Räuberhauptmann als nach einem Prediger aus, der andere stellte sich als ein Herr Schmidt aus Trier vor, und es war, ohne indiskret zu fragen, nicht dahinterzukommen, was er eigentlich war, bis wir ihn später in Jerusalem bei einem Festzuge der katholischen Geistlichen in dem entsprechenden Ornate unter ihnen entdeckten. Während meine Frau einen Platz in einem Cookschen Wagen belegte, der am Nachmittag bis Ramleh und am andern Tage bis Jerusalem fahren sollte, schloß ich mich den beiden genannten Herren an, nahm gleichfalls ein Pferd, und so ritten wir am Nachmittag zu dreien nach Ramleh. Der Weg führte durch die Ebene Schepelah, zwischen hohen Hecken von Kaktuspflanzen hindurch, während wir vor uns in der Ferne die blauen Berge von Juda sahen, welche von Stunde zu Stunde immer deutlicher[282] hervortraten. So schön dieser Eindruck war, so beschwerlich war doch der Ritt. Ich war noch von Rußland her im Reiten sehr geübt, aber hier hatte ich einen arabischen Sattel aus hartem Holz unter mir, der dazu so breit war, daß ich ihn nicht ohne Beschwerde mit den Beinen umklammern konnte. So war ich denn froh, glücklich in Ramleh anzukommen, dachte aber mit Unbehagen an den folgenden Tag, wo ich auf dem unbequemen Sattel den langen Ritt nach Jerusalem machen sollte. Diese Sorge erwies sich als unnötig. Am andern Morgen war ein greuliches Regenwetter eingetreten, die Wirtsstube füllte sich mit Männern, Weibern und Kindern, die auf Leiterwagen zum Fest nach Jerusalem fahren wollten, alle dem württembergischen Guttemplerorden angehörig in süddeutscher Bauerntracht, lauter treuherzige deutsche Gesichter, man glaubte mitten in Palästina sich in einer schwäbischen Bauernstube zu befinden. Da das Regenwetter nicht nachließ, so war es für mich ein willkommener Vorwand; ich ließ meine beiden Gefährten allein reiten, schickte mein Pferd zurück und nahm einen Platz im Wagen neben meiner Frau.
Jerusalem liegt bekanntlich auf zwei Hügeln, dem höhern westlichen mit der Oberstadt und dem etwas niedrigeren östlichen, auf welchem einst der Tempel stand. Umschlossen wird die Stadt im Westen und Osten von zwei tiefen Tälern mit zwei meist wasserlosen Flußrinnen, welche sich südlich von der Stadt vereinigen, dem Hinnomtal im Westen und dem Kidrontal im Osten. Östlich vom Kidron mit seinen uralten Ölbäumen und durch diesen von der Stadt getrennt liegt der Ölberg, von welchem aus man eine prächtige Gesamtübersicht über die Stadt genießt und von dem aus auch schon Jesus mit seinen Jüngern auf Jerusalem herabschaute. Ihm galt einer unserer ersten Besuche, und oft noch haben wir ihn wiederholt. Leider ist der Ölberg durch eine prunkhafte griechische Kirche auf mittlerer Höhe sowie durch einen Aussichtsturm auf seinem Gipfel entstellt, von dem man zwar eine prächtige Rundsicht, namentlich auch nach Osten bis zu dem sechs Stunden entfernten Toten Meere genießt, den man aber an dieser geweihten Stätte doch lieber wegwünschen möchte. Auch der Weg über die Kidronbrücke wird einem durch die zur[283] Osterzeit zahlreich auf ihrer Mauer sitzenden Aussätzigen verleidet, welche bettelnd ihre Armstumpfe dem Wanderer entgegenhalten. Der Aussatz besteht in einem schrittweise zunehmenden Absterben der Extremitäten, der Finger, der Hände, schließlich der Arme. Zwar hat die Wohltätigkeit für diese Unglücklichen auf das beste gesorgt, namentlich hat ein reicher Jude, Sir Moses Montefiore, im Tale südlich von Jerusalem auf dem Wege nach Bethlehem hin große Hospitäler errichtet, in welchen jeder Aussätzige ohne Entgelt lebenslängliche Aufnahme und Verpflegung haben kann, nur unter der einen Bedingung, nicht zu heiraten, da der Aussatz wahrscheinlich nicht durch Berührung ansteckend ist, wie mir ein Arzt in Jerusalem versicherte, um so gewisser aber von den Eltern auf die Kinder forterbt. Diese Bedingung, nicht zu heiraten, ist den Aussätzigen so zuwider, daß viele die Aufnahme in das Hospital verschmähen und lieber an Wegen und Zäunen bettelnd herumlungern. Aber auch sonst ist Jerusalem eine der schmutzigsten und widerwärtigsten Städte, die ich kenne. In der Stadt selbst kann kein Wagen fahren, da die Gassen bergauf und bergab, häufig in Treppenstufen führen und dabei sehr schmal sind. Statt der Läden sieht man links und rechts meist nur Höhlen, in denen allerlei Kram zum Verkaufe aufgestapelt ist, hinter welchem der Verkäufer in orientalischer Weise auf dem Boden kauert. Obgleich die Stadt von einem Ende zum andern in zwanzig Minuten durchschritten werden kann, ist es doch schwer, in dem Labyrinth von Gassen und Gäßchen sich zurechtzufinden. Wenn man vom Ölberge kommt, das Kidrontal mit dem von den Franziskanern in einen Blumengarten umgewandelten Gethsemane hinter sich läßt und auf steilem Wege zur Stadt hinaufsteigt, gelangt man durch das nordöstliche Stephanstor in die Via dolorosa, mit dem Ecce-Homo-Bogen, von welchem aus Pilatus Jesum dem Volke gezeigt haben soll, dem Richthause, wo Petrus seinen Herrn verleugnet haben soll, und weiteren Einzelheiten bis zu der Grabeskirche, welche in ihrem riesigen Umfange angeblich, sehr fraglich ob mit Recht, Golgatha, den Salbungsstein und das Heilige Grab umschließt. Man zeigte uns in Jerusalem alles, was wir wünschen konnten, das Fenster, von welchem aus David die badende Bathseba erblickte, den Saal, in[284] welchem Jesus mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl hielt, die Stelle, von welcher aus der Hahn krähte, ja wohl gar den Baum, an dem Judas sich erhängt haben soll. Aber das alles ist später erfunden, und man kann die einzelnen Traditionen, eine Reihe von Jahrhunderten, bis zu ihrem ersten Aufkommen zurückverfolgen. Was an wirklicher Überlieferung überhaupt vorhanden war, ist bald darauf mit der Zerstörung Jerusalems und dem jahrhundertelang bestehenden Verbote für die Juden, die heiligen Stätten zu betreten, erloschen, und die einzigen sicheren Stätten sind der Ölberg, die beiden Flußtäler und der Tempelplatz, während die Grabeskirche, seitdem die heilige Helena ein dort gefundenes Stück Holz für einen Rest vom Kreuz Christi erklärte, für den Ort der Kreuzigung und Grablegung gilt, aber schwerlich mit Recht, da das Ganze zu tief im Innern der Stadt liegt; vielmehr Anspruch darauf dürfte der Hügel des Jeremias im Norden der Stadt vorm Damaskustor haben, wo sich in der Nähe noch alte in die Felsen gehauene Grabkammern befinden, ja auch noch solche mühlsteinartige Steine, um ihre Öffnungen durch Vorrollen zu verschließen und so gegen das Eindringen von Tieren zu schützen. Während wir in den ersten Tagen nach unserer Ankunft fleißig umherstrichen, um diese und andere Merkwürdigkeiten zu besuchen, machte sich ein junger Dragoman viel um uns zu schaffen, öffnete die Tore, erklärte uns dieses und jenes, offenbar in der Absicht, von uns als Führer engagiert zu werden. Er hieß Ibrahim Said, war als junger Araber, wie so viele, von den christlichen Missionaren eingefangen und zu Nazareth gekauft und zum Dragoman herangebildet worden. Aber während die meisten dieser Neophyten auf englisch gedrillt werden und daher reiche Beschäftigung finden, so war unser Ibrahim auf deutsch ausgebildet, hatte daher weniger zu tun und heftete sich an unsere Sohlen. Wir nahmen ihn daher auch zunächst mit uns auf einer Wagenfahrt, die wir nach Bethlehem unternahmen. Man fährt auf einer guten Chaussee von Jerusalem zwei Stunden nach Süden, vorbei an Rahels Grab, bis zu dem auf einer Anhöhe gelegenen Bethlehem. Hier frühstückt man in einem Kloster, besucht sodann die große Kirche und steigt in die unter ihr gelegene geräumige Krypta hinab, wo u.a. die Krippe gezeigt[285] wird, in die das Jesuskindlein gelegt worden sein soll, während drei Schritte davon ein großer silberner Stern mit der Aufschrift:
hic de virgine Maria Jesus Christus natus est
die Geburtsstätte des Heilands bezeichnet. Weiter südlich von Bethlehem besuchten wir noch die sogenannten Teiche des Salomo, eine schon von den alten Königen angelegte Talsperre, in welcher in drei untereinanderliegenden Teichen, um den Druck zu verteilen, ein herrliches, vom Hebron herkommendes Gebirgswasser gesammelt und in einem verdeckten Kanal nach Jerusalem bis unter den Tempelplatz geleitet wird, so daß die dort Belagerten immer mit frischem Wasser versorgt waren. Wie alles unter den Händen der Türken verkommt, so war auch diese Wasserleitung außer Betrieb, da die Bethlehemleute, denen die Instandhaltung oblag, eine solche verabsäumten, weil die türkische Regierung sie nicht bezahlte. Wenn bei uns jeder gern für die Regierung arbeitet, weil er auf pünktliche Bezahlung rechnen darf, so vermeidet in Palästina jeder, eine Arbeit für die türkische Regierung zu übernehmen, weil er sehr häufig um sein Geld bitten muß, ohne es zu erhalten.
Der Zufall wollte es, daß wir in Jerusalem zweimal Ostern feiern mußten, da infolge der Verschiedenheit der Kalender das lateinische Osterfest auf den 6., das griechische auf den 13. April fiel. Der Tempelplatz aber war vor Ablauf beider Osterfeste für Christen nicht betretbar, da dort auch die Mohammedaner Ostern feiern und ein Zusammentreffen mit ihnen leicht zu Reibungen und Konflikten führte; um diese zu vermeiden, war der Zugang bis nach Ablauf des Osterfestes den Christen verboten. Zunächst also hatte am 6. April die römisch-katholische Kirche ihr Osterfest, und Ibrahim Said empfahl angelegentlich, mit ihm die Kirche des Heiligen Grabes zu besuchen, wo am Abende dieses Tages nacheinander und an verschiedenen Orten der geräumigen Kirche in sieben Sprachen gepredigt wurde. Ortskundig wie er war, zerrte er mich in der menschenerfüllten Kirche durch das Gedränge und sorgte dafür, daß mir keine der sieben kurzen Predigten in deutscher, französischer, englischer, italienischer, spanischer, polnischer und lateinischer Sprache entging.[286]
Um die Woche zwischen dem lateinischen und griechischen Osterfeste, vor welchem der Tempelplatz nicht besucht werden konnte, nützlich auszufüllen, dachten wir daran, die dreitägige Tour nach dem Toten Meer und dem Jordan zu machen, für welche Cook 25 Franken pro Tag und Person berechnet, worin dann alles einbegriffen ist. Da bat mich Ibrahim, ihm diesen Verdienst zuzuwenden; er wolle für uns eine eigene Karawane mit Verpflegung, Pferden und zweimaligem Logis in Jericho zu demselben Preise wie Cook, also für 150 oder etwa 160 Franken, organisieren. Ich ging darauf ein, und so war am Ostermontag unsere Karawane reisefertig vor dem Hotel. Da war ein Pferd für mich, eins für meine Frau, eins für Ibrahim, eins für den Koch, eins zum Tragen des Proviants, und eins für den Mukari oder Pferdeverleiher. Dazu stellte Ibrahim noch einen Jungen, um das Pferd meiner Frau zu führen, und da er zu faul war, den Weg zu Fuß zu machen, erschien er auf seinem Eselchen. Mit Stolz blickte ich auf meine Karawane, welche aus sechs Pferden, einem Esel und sieben Menschen bestand. Der siebente war der Beduine, welcher zu Fuß uns begleitete, zum Schutze gegen räuberische Überfälle. Zwar würde er trotz seiner langen Flinte gegen mehrere Räuber nicht viel ausrichten können, und doch gewährt sein Geleite vollkommene Sicherheit, da dieser Beduine von dem Scheich des betreffenden Landstriches gestellt wird, welcher dessen Bewohner, und das sind eben die Räuber, dafür verantwortlich machen würde, wenn etwas passieren sollte. Die Bezahlung eines solchen Beduinen ist also eine Art Tribut, den man an den betreffenden Stamm entrichtet. Wollte man ihn ersparen, so würde man auf eigene Gefahr reisen; man könnte von Räubern überfallen werden, welche einem alles wegnehmen, auch die Kleider, da in ihnen oft Geld eingenäht ist; zuweilen sind sie mitleidig genug, dem Geplünderten wenigstens das Hemd zu lassen. Läßt man sich dabei alles gefallen, so läuft die Sache glimpflich ab, wollte man sich aber zur Wehr setzen, so wäre für Leib und Leben das Schlimmste zu befürchten. So zog denn unsere Karawane durch die Via dolorosa, am Stephanstor hinunter, über die Kidronbrücke, in sanfter Steigung um den Ölberg herum, auf dessen anderer Seite Bethanien liegt, mit seinen Hütten,[287] welche in Höhlen von aufgeschichteten Steinen bestehen; und weiter ging es, vorüber an der Stelle, wo die Parabel vom barmherzigen Samariter spielt, denn auch diese hat man lokalisiert, und so weiter den ganzen Tag über Berge und Täler in der glühenden Sonnenhitze, bis wir ganz verdurstet in Jericho ankamen. Ibrahim bereitete unser Diner, angeblich ein solches eines erstklassigen Hotels, mit welchem es allerdings nur eine entfernte Ähnlichkeit hatte. Bekanntlich liegt der See Genezareth 600, das Tote Meer sogar 1200 Fuß unter dem Meeresspiegel, und so hat denn auch schon Jericho, dessen elende Hütten von Gärten mit einer reichen Fülle köstlich duftender Blumen umgeben sind, ein ganz tropisches Klima. Hier schliefen wir von der Reise ermüdet, ohne uns durch das melodische Quaken der Frösche stören zu lassen. Am andern Morgen bestiegen wir unsere Pferde und ritten auf das Tote Meer zu. Es scheint von Jericho ganz nahe zu liegen, erfordert aber immer noch einen Ritt von zwei Stunden, über einen ganz mit Salzkrusten bedeckten Boden, auf welchem nur spärliche Salzdisteln gedeihen und zuletzt gar nichts mehr wächst. Das Tote Meer ist von lieblichen Bergen umgeben, aber weder von Menschen und Tieren noch auch von Pflanzen belebt, nur daß es von einem Wall mächtiger Baumstämme umgeben ist, welche von dem sehr reißenden Jordan losgerissen, dem Toten Meere zugeführt und durch dessen Wellenschlag an das Ufer gespült werden. Hinter diesem natürlichen Walle entkleidete ich mich und nahm ein sehr erquickliches Bad im Toten Meere, dessen Wasser durch Salz und Asphalt so dick ist, daß man ohne Schwimmbewegungen in jeder Lage auf dem Wasser schwimmt. Ein Amerikaner, der gleichfalls dort mit seinem Knaben badete, legte denselben unbekümmert um sein Schreien flach auf das Wasser, ohne daß er untersank. Nur muß man sich hüten, etwas von dem beißenden Naß an die Schleimhaut der Augen zu bekommen, auch kann man beim Heraussteigen sich nicht so schnell abtrocknen, daß nicht eine Salzkruste an den Ohren zurückbliebe. Dafür ist aber Rat durch ein zweites Bad, welches man später am Nachmittag im Jordan nimmt. Um diesen weit oberhalb der Mündung an der sogenannten Taufstelle zu erreichen, ritten wir ein paar Stunden querfeldein über salzigen Boden, bis wir[288] schon aus der Ferne einen herrlich grünenden Waldstreifen sahen, und näher kommend, das tausendstimmige Leben der Vögel vernahmen, welche die Ufer des Jordans bewohnen. Hier breitete Ibrahim an einer schattigen Stelle des Ufers einen Teppich aus und servierte sein Diner, während neben mir ein Amerikaner sich mit Angeln vergnügte und nach ganz kurzer Zeit einen großen Fisch aus dem Wasser zog. Nach dem Essen zogen wir uns von dem menschenbelebten Ufer in das Gebüsch zu einer Siesta zurück, und nachher suchte ich eine entlegene Stelle am Ufer auf, um mein Bad im Jordan zu nehmen. An Schwimmen war hier freilich nicht zu denken; ich wäre von dem reißenden Wasser sofort eine weite Strecke fortgerissen worden, und so mußte ich mich damit begnügen, einen überhängenden Baumzweig zu fassen und dreimal in den heiligen Fluten des Jordans unterzutauchen. Beim Ankleiden hatte sich ein gut gekleideter Araber herangeschlichen, um zu sehen, wie so ein Europäer angezogen ist. Leutselig knüpfte ich mit ihm ein Gespräch auf arabisch an, war aber nicht wenig erstaunt, als er, der offenbar den besseren Ständen angehörte, zum Schluß um ein Backschisch bat dafür, daß er zugesehen hatte, wie ich mich ankleidete. Wohlbehalten kamen wir am Abend in Jericho an. Über die Eliasquelle, wo sich ein lärmender Trupp von Berlinern einer Stangeschen Reisegesellschaft gelagert hatte, kehrten wir am Abend des dritten Tages nach Jerusalem zurück. Als Andenken hatten wir eine Flasche mit Wasser des Toten Meeres und eine zweite mit Jordanwasser mitgebracht, welches letztere in Jerusalem abgekocht wurde und in der Heimat gedient hat, um mehrere Kinder aus unserer Verwandtschaft und zuletzt auch meine beiden eigenen Kinder zu taufen.
Gegen Ende der Woche war endlich der Tempelplatz, den wir so oft vom Ölberge aus betrachtet hatten, für den Besuch der Christen freigegeben. Ursprünglich war hier der noch in der Omarmoschee erhaltene Gipfel eines Berges, angeblich desselben, auf welcher Abraham seinen Sohn opfern wollte. An dieser heiligen Stätte hat man durch kolossale Unterbauten eine ebene Fläche, zehn Minuten lang und fünf Minuten breit, geschaffen, auf welcher der Tempel des Salomo gestanden haben[289] muß. Das alles ist, bis auf die Unterbauten, verschwunden, und auf der großen steinernen Fläche erheben sich im Süden die Moschee el Aksa, ursprünglich eine christliche Kirche, und in der Mitte der achteckige Bau der Omarmoschee, deren ganzes Innere ausgefüllt wird durch den ursprünglichen Gipfel des Berges. In der Mitte ist eine kreisrunde Öffnung, durch welche das Licht in einen Hohlraum unter den Berggipfel fällt. In der Mitte dieses kellerartigen Raumes befindet sich eine zweite verschlossene Öffnung, durch welche ein Kanal in die Tiefe führt. Das Ganze diente, wie mir scheint, als Opferplatz, und die beiden Öffnungen führten das Blut nach unten ab, da nicht zu ersehen ist, wie es sonst von der großen, vollkommen ebenen Tempelfläche hätte abfließen können. Wir befinden uns also hier im ehemaligen Vorhofe des Tempels, da, wo dem Jahoe in der Vorzeit Tausende von Widdern und Lämmern geschlachtet worden sind. An diesen Vorhof schloß sich dann der Tempel selbst mit dem Heiligen und dem Allerheiligsten, von welchen beiden nur noch die Fläche vorhanden ist, auf der sie gestanden haben.
Der Besuch dieser merkwürdigen Stelle lohnte wohl unsern, bei der Kürze der Zeit über Gebühr verlängerten Aufenthalt in Jerusalem, um so mehr, als ich an demselben Nachmittag, dem Sonnabend vor dem griechischen Osterfeste, noch Zeuge einer seltsamen Feier sein konnte, welche sich an diesem Nachmittage in der Grabeskirche abspielt. Diese Kirche ist nicht ein Dom oder eine Kirche, wie wir sie kennen, sondern vielmehr ein Komplex von vielen Kirchen, in welchem man hinab bis zur Kapelle der heiligen Helena und auf Treppen hinauf bis zu der Stelle steigt, wo das Kreuz gestanden haben soll. Alle diese von Säulen getragenen Kirchenschiffe laufen nach Westen zu aus, in einen von riesiger Kuppel überdeckten runden Dom, in dessen Mitte das Heilige Grab sich befindet, ein kleines Marmortempelchen mit Bank und steinernem Boden, auf welchem die Andächtigen zu knien und den Boden zu küssen pflegen. Unter dieser kolossalen Rotunde spielt sich am Sonnabend vor dem griechischen Osterfeste eine Feier ab von so wüster Art, daß von Andacht keine Rede fein kann. Schon am Abend vorher ziehen Tausende von Männern, Weibern und Kindern mit ihren Betten in die Kirche,[290] schlafen dort, essen dort und sammeln sich am Sonnabendnachmittag in dem großen Raume unter der Rotunde, um das Heilige Grab herum. Der deutsche Konsul hatte mich und etwa zehn andere eingeladen, unter Führung seines Kawassen, eines uniformierten Dieners des Konsuls, dem Schauspiel beizuwohnen. Vor dem Eingange versammelten wir uns und bildeten eine lange Kette. Der Kawasse an unserer Spitze bahnte mit seinem Stock einen Weg durch die dichtgedrängte Menge, uns hinter sich her zerrend. Bald war ein Pförtchen erreicht, durch welches wir auf vielen engen Treppen hoch und höher hinaufgelangten, bis wir endlich in einer Loge hoch über dem Ganzen standen und bequem das Gewühl da unten beobachten konnten. Lauter Lärm aus den dichtgedrängten Massen scholl zu uns herauf; von Zeit zu Zeit wurde ein Spottlied auf die Juden unter Stampfen mit den Füßen abgesungen oder vielmehr abgebrüllt. Es lautete auf arabisch:
El messi attana»Der Messias ist gekommen,
Damo ishtaranaSein Blut hat uns losgekauft;
Ja jeh-ud, ja jehudO Jude! O Jude!
Idkum lierudEuer Fest ist zum Teufel;
Idna lil messiUnser Fest gilt dem Messias.«
Dazwischen wurde da unten allerlei Kurzweil getrieben. So sah ich, wie ein Kerl an einer Säule emporkletterte, sich auf die dichtgedrängten Köpfe, so lang wie er war, herunterließ und nun von den unter ihm Stehenden hin und her gerollt wurde. Endlich trat eine gewisse Stille ein. Türkische Soldaten bahnten mit Kolbenstößen einen Weg um das Heilige Grab herum und bildeten Spalier für die griechische Geistlichkeit, welche, den Metropoliten oder seinen Vertreter an der Spitze, zwischen den Spalier bildenden Soldaten durchzog und in dem Heiligen Grab verschwand. Hier begibt sich ein Wunder; die Laterne der heiligen Helena entzündet sich von selbst, und bald sieht man, wie aus einer der runden Öffnungen des Grabtempelchens eine Hand sich herausstreckt mit einem Bündel brennender Kerzen. Alle drängen darauf zu, um die Kerzen, welche sie bei sich haben, an diesem heiligen Lichte zu entzünden. Sie werden mit Kolbenstößen zurückgetrieben, da oben hoch sitzt vielleicht eine russische Dame, welche einen[291] Tausendfrankschein gespendet hat, um zuerst das Licht zu erhalten. Läufer mit brennenden Kerzen rennen vom Heiligen Grabe durch den Spaliergang und verschwinden durch eine Seitenöffnung, um die Treppen hinauf nach oben zu eilen, dann erst erhält auch das Volk von dem Lichte. Einer zündet seine Kerze an der des andern an, und bald ist der Raum da unten ein einziges großes Lichtermeer, aus welchem dichter, blauer Rauch bis zu uns heraufdringt und den ganzen Kuppelbau erfüllt. Manche nahmen das heilige Licht in einer Laterne mit sich bis nach Rußland, denn alles wimmelt um diese Zeit in Jerusalem von russischen Bauern, welchen ein frommer Verein es ermöglicht, die ganze Reise hin und zurück für zwanzig Rubel zu machen. Man erzählte mir, gesehen habe ich es nicht, daß manche die Begeisterung so weit treiben, ihr Hemd aufzureißen und mit dem Licht ihre Brust anzubrennen, auch sollen in früheren Zeiten oft große Unglücksfälle sich begeben haben durch Schlägereien zwischen der aufgeregten Menge und den türkischen Soldaten, welche dabei schließlich von ihren Waffen Gebrauch machen mußten. Wer den Wunsch hat, den letzten Rest religiöser Empfindung, der ihm noch geblieben ist, ganz loszuwerden, der braucht nur zu einem Osterfeste nach Jerusalem zu gehen.
Unsere Rückfahrt aus Palästina machten wir in einem russischen Schnelldampfer, der uns in drei Tagen nach Konstantinopel führt. Diesmal konnten wir das Schwarze Meer vermeiden und die eben fertig gewordene Eisenbahnlinie Konstantinopel-Wien benutzen; wir fuhren um 7 Uhr abends von Konstantinopel ab, waren am nächsten Morgen in Philippopel, am Nachmittag in Sofia, in der Nacht am Eisernen Tor, den andern Mittag in Budapest, von wo uns dann unser Weg ohne Schwierigkeit über Wien und Berlin rechtzeitig nach Kiel zurückführte. Nach dieser schönen Reise, über welche ich zu Pfingsten meiner Mutter in Hüsten Bericht erstattete, verlief der Sommer 1890 in gewohnter, mit Geselligkeit untermischter Tätigkeit. Inzwischen gestalteten sich die Verhältnisse in unserer Mietswohnung, welche schon von Anfang an die nötige Ruhe hatten vermissen lassen, immer unerquicklicher, und so entschlossen wir uns, das Haus Beseler-Allee 39 zu kaufen.[292]
Januar 1891 gab mir Gelegenheit, als Vertreter meines Kollegen Blaß, welchem als Professor eloquentiae die Sache zustand, die Kaisergeburtstagsrede über den kategorischen Imperativ zu halten, in welcher es mir gelang, den Einheitspunkt zu finden, aus dem die mir seit lange zur Überzeugung gewordene Ethik Schopenhauers und die mir nicht weniger teure Ethik Kants entsprungen sind. Wieder einmal kam der März und mit ihm die Osterferienzeit heran, und wieder spannten wir unsere Flügel weit aus, um im März und April 1891 über Land und Meer bis nach dem uns noch unbekannten Sizilien zu fliegen. Die Reise ging vom 11. März an, wie schon so oft über Berlin, Florenz und Rom.
Wir fuhren mit einem Nachtdampfer von Neapel nach Palermo. Leider war es der Elettrico, dessen Maschine so stark ist, daß sie auch bei ruhigem Seegang das Schiff fortwährend erzittern macht. Statt um 10 Uhr morgens waren wir denn auch schon um 5 Uhr während der Dämmerung im Hafen von Palermo angelangt und hatten die wegen ihrer Schönheit berühmte Einfahrt versäumt. Einige Tage verblieben wir in Palermo und fuhren dann nach Girgenti, im Altertum Agrigent, eine der größten und glänzendsten Städte, von der Akropolis sich eine halbe Stunde weit hinab bis zum Meere erstreckend, wo noch jetzt mehrere vorzüglich erhaltene Tempel die Südgrenze der Stadt bezeichnen. Heute ist Girgenti zu einem kleinen schmuddligen italienischen Städtchen herabgesunken. Von dort ging es über Castro Giovanni, das alte, hoch auf dem Berge gelegene Enna nach Syrakus, dann führte uns die Bahn nordwärts, vorüber an Leontini, der Heimat des Sophisten Gorgias, meist am Meere entlang, in welchem wir die Felsblöcke sahen, welche der geblendete Zyklop gegen Odysseus geschleudert haben soll, bis nach der kleinen Station Giardini, von wo wir auf breiter, gewundener Heerstraße nach Taormina hinaufstiegen, einem der drei schönsten Punkte, welche ich in meinem Leben besucht habe. Von dem Dorfe, welches sich malerisch an den Felsen anschmiegt, geht nördlich ein Weg zum alten Theater und Berggipfel, während man nach Süden zu dem mit Schnee bedeckten, nur leicht sich kräuselnde Wölkchen ausstoßenden Ätna sieht, der viel höher[293] ist als der Vesuv, aber doch an Schönheit ihm nicht gleichkommt, es müßte denn sein aus einer Nähe, zu der wir nicht gelangt sind. Auf der Straße von Taormina sah ich auch zum ersten Male hin und her gehend spinnende Frauen. Der Wergflock liegt auf der Schulter, von diesem geht der Faden zu der frei in der Luft hängenden Spindel, welche von Zeit zu Zeit immer wieder neu mit der Hand in wirbelnde Bewegung versetzt wird. Beim Herabsteigen auf direktem Fußpfade zur Station gab ich mein Päckchen einem Knaben zum Tragen und schenkte ihm nachher dafür einen Frank; er dankte und entfernte sich, kam aber gleich zurück und behauptete, der Frank sei falsch; er hatte ihn in der Geschwindigkeit mit einem falschen vertauscht. Immer noch gilt von Italien das Goethesche Wort: Geprellt wird der Fremde, stell er sich wie er auch will.
Zwischen Mandelplantagen fuhren wir weiter nach dem damals noch blühenden Messina, wo unsere Hauptbeschäftigung war, etwas Mundvorrat für die bevorstehende lange Eisenbahnfahrt zu kaufen. Seltsamerweise konnten wir in Messina keine Apfelsinen auftreiben, so massenhaft sie von dort versandt werden und dann an Ort und Stelle nicht mehr zu haben sind. Auf einem Dampfer setzten wir über den heute kaum noch bemerklichen Strudel der Charybdis nach Reggio di Calabria über, und nun folgte eine lange Fahrt, auf der ich um Mitternacht im halben Schlafe Cotrone als Station ausrufen hörte und des Pythagoras gedachte; der nächste Morgen fand uns in Taranto, der Nachmittag in Foggia und wieder ging es die ganze Nacht durch, bis wir am Morgen in Bologna und am Nachmittag in Venedig ankamen. Wir haben zweimal Venedig besucht, im Herbst 1900 und im Frühjahr 1901, das erstemal bei greulichem Regenwetter, das zweitemal bei so großer Kälte, daß man immer die Sonne aufsuchen mußte, um sich zu wärmen. Wir besuchten den Canale Grande und die hohe über ihn führende Brücke des Rialto, die Glasbläsereien und den Dogenpalast; ehemals ein meerbeherrschendes Zentrum, jetzt, wie es scheint, nur noch dazu da, um für einen Frank fünfzig den Fremden gezeigt zu werden. Madame Kantschin pflegte zu sagen: Pour se plaire à Venise, il faut être malade ou amoureux, und allerdings[294] macht die Stadt, wo es kein Wagengerassel und keine Pferde gibt, bei ihrer erquickenden Ruhe doch einen etwas melancholischen Eindruck. Gibt es denn hier keine Pferde? fragte ich meinen Gondoliere: »Se vuol veder cavalii«, antwortete er, »deve andar al Lido.« Er glaubte, ich habe nach Pferden wie nach einer besonderen Sehenswürdigkeit gefragt. Von Venedig ging es über Undine und den Semmering nach Wien und von dort in beschleunigtem Tempo über Prag und Berlin nach Kiel zurück.
Der Juni brachte uns einen Besuch, der mit einer geringen Unterbrechung bis zum 2. September des folgenden Jahres dauerte und sehr willkommen war. Es war Nenna, die älteste Tochter meines Bruders Werner, die ich schon als Kind in der Wiege mit Georges in Schwerte besucht hatte, die dann nach dem Tode ihrer Mutter von Elisabeth teils in Ternitz, teils in Westfalen erzogen worden war, und die nun das einsame Hüsten mit dem geräuschvolleren Kiel nicht ungern vertauschte. Wir nahmen sie mit uns zu unsern Freunden und in Gesellschaften, und sie gefiel außerordentlich. Kleine Orte wie Hüsten und große Städte wie London und Paris lagen ihr weniger, aber Kiel war ein Ort nach ihrem Herzen. Während Nenna meiner Frau Gesellschaft leistete, hatte ich namentlich nach Beginn der Herbstferien die nötige Muße und Ruhe, das eigentliche Hauptwerk meines Lebens zu beginnen, und so schrieb ich vom 12. August bis zum 12. September 1891 die ersten zwölf Paragraphen meiner »Allgemeinen Geschichte der Philosophie« mit einem solchen Eifer, daß ich schließlich anfing, eine starke Ermüdung zu spüren und es geraten fand, mit meinen beiden Weiblein vom 12. September bis zum 20. Oktober auf Reisen zu gehen, die uns über Amsterdam und London nach Paris, Hüsten und zurück nach Kiel führten.
Für die Osterferien gaben wir Nenna, jedoch nur leihweise, an ihre Eltern ab und rüsteten uns zu einer Reise, um zum dritten Male zusammen Griechenland zu besuchen. Wir fuhren über Brindisi und Korfu nach Athen und fanden Unterkunft in schöner freier Lage im Tal des Ilissos mit Aussicht rechts auf die Akropolis und links auf die Säulen des Tempels des Zeus Olympios.[295] Nach einer Rundreise traten wir durch die Inseln die Rückreise über Pompeji an, welches wir an einem Sonntage, also ohne Eintrittsgeld und ohne von einem Führer herumgehetzt zu werden, in aller Muße betrachten konnten, aber bei Beschreibung der Hinreise schon hätte ich unserer Wallfahrt nach Loreto am 19. März gedenken sollen, wo wir in den zufällig nicht von Pilgerherden gefüllten Logierhäusern überaus liebevolle Aufnahme fanden und das in der Mitte einer großen Kirche stehende, außen von Marmor mit Bildwerken und Inschriften umkleidete, innerlich den Anblick einer verwitterten und rauh geschwärzten Bauernstube gewährende Heimathaus des Heilandes betrachten konnten, welches bei Eroberung des Heiligen Landes durch die Araber von Engelhänden aus Nazareth emporgehoben und über Land und Meer nach Loreto getragen wurde, wie dies durch kleine für zwei Centesimi käufliche Denkmünzlein dem gläubigen Beschauer anschaulich vor Augen geführt wird.
Die wichtigsten Ereignisse des Sommers 1892. für mich waren wohl, daß ich die erste Abteilung meines Lebenswerkes, enthaltend die Einleitung und die Philosophie der Hymnenzeit, bis auf das letzte, die Lehre vom atman behandelnde Kapitel abschloß und daß mein Frauchen mir zusetzte mit den Worten:
»Du wolltest immer nach Indien gehn, wenn du es überhaupt willst, so laß uns jetzt gehn.«
Und sie gab ihm, und er aß. Ich richtete ein durch die Fakultät befürwortetes Urlaubsgesuch für den Winter an das Ministerium, Althoff stimmte mit Freuden zu.
Anfang September fuhr ich mit meiner Frau über Ostende zum Orientalistenkongreß nach London. Ihr werdet Quarantäne halten müssen, prophezeite mein Bruder Werner. Aber von Quarantäne war keine Rede. Die Engländer zwingen eben alles durch eine Sauberkeit, welche allen andern Ländern als Muster dienen könnte.
Der Kongreß verlief unter Max Müllers Vorsitz, trotz des von dem unglücklichen, zu Stockholm in seiner Eitelkeit gekränkten Dr. Leitner zu Madrid veranstalteten und jämmerliches Fiasko machenden Gegenkongresses, mit dem besten Erfolge. Am 9. September hielt ich meinen Vortrag, in welchem ich den Plan meines[296] Hauptwerkes darlegte, vom 10. bis 12. September war ich mit meiner Frau Max Müllers Gast in seinem Hause zu Oxford. Er führte mich und einen italienischen principe in das Christchurch College, dessen fellow er war, und ließ uns das vorzügliche Bier kosten, welches dort gebraut wird. »Müssen Sie auch für das Bier bezahlen?« fragte ich. – »Im Gegenteil, ich bekomme noch Geld heraus,« war die Antwort, »denn jedesmal, wenn ich den Fuß in dieses College setze, habe ich Anspruch auf ein Diner zu 1 Schilling 6 Pence, und diese Summe wird mir jedesmal gutgeschrieben.« Am Montag kehrten wir alle nach London zurück, um durch ein Diner den Schluß des Kongresses zu feiern. Ich saß neben einem jungen Italiener, damals Gymnasiallehrer zu Reggio di Calabria, und diese Tischordnung, über die ich anfangs ein wenig ungehalten war, sollte von großen Folgen sein. Der junge Mann war Carlo Formichi, ich habe ihn, von Indien zurückkehrend, in Neapel besucht, dort und später in Pisa mit ihm und seiner Familie die reizendsten Tage verbracht, länger als ein Jahr (1895–1896) hat er mit mir in Kiel gearbeitet, unter meiner Leitung seine erste Schrift publiziert, und jetzt ist er einer meiner treuesten Freunde und bekleidet zu Rom die angesehenste Sanskritprofessur des Landes.
Am 15. Oktober fuhr ein ganz neues Schiff der P. and O. Company, der Himalaja, nach Indien. Wir nahmen unsere sechsmonatlichen Retourbillette, brachten unser größeres Gepäck schon auf den Himalaja, fuhren über Land, von unsern Freunden Abschied nehmend, durch Deutschland und die Schweiz nach Marseille und bestiegen am. 22. Oktober das neue schöne Schiff, welches uns nach Indien führen sollte.
Hier würde nun über unsere Reise nach Indien, die schönste und lehrreichste, die wir je gemacht haben, zu berichten sein, hätte ich nicht das alles 1904 in einem besonderen Buche herausgegeben. Dort kann man nachlesen, was über unsere höchst interessante Reise durch den Suezkanal, das Rote Meer und den Indischen Ozean berichtet wird, sowie über unsern Aufenthalt in Bombay, in Baroda als Gäste des Maharadja, in Achmedabad und Jäipur, in Agra, wo Lal Baipinath mich zuerst zu einem Vortrag veranlaßte, in Lahore, wo Stein sich freundlich unser annahm und[297] weiter hinaus über den Indus bis Peschavar und Fort Jamrud, wo wir der Heimat der Luftlinie nach am nächsten, in Wahrheit aber ferner waren als irgendwo. Dann folgte die Rückfahrt, der Aufenthalt in Delhi, mein Vortrag in Matura, der Besuch in Cawnpore und Lucknow, der Abstecher nach Dhayodhya, der dreiwöchentliche Aufenthalt in Lenowes und Besuch der Sanskritvorlesungen, der Abstecher nach Bhuddhagdija, endlich Kalkutta mit seinen reichen Eindrücken und die wundervolle Fahrt auf den Himalaja, zurück dann nach Allahabad, mit dem von großen Ovationen gefolgten Vortrag, weiter auf dem Wege nach Bombay der Abstecher nach Ujjayini, der zweite Aufenthalt in Bombay und der Druck meines Vedantavortrags, weiter nach Poona zu Abde, nach Madras zu Oppert und dem edlen Maharadja Vijayanagaram, weiter südwärts über Madura und Trichinapali bis zur Südspitze Indiens in Taticorin, die gefährliche Fahrt auf dem Boote zum Dampfer, die Ankunft in Colombo, die Gastfreundschaft Freudenbergs, die Auffahrt nach Candy und der Abschied von Indien am 16. März, die Ankunft in Brindisi am 1. April und die Weiterfahrt nach Neapel. Das alles muß in meinen Erinnerungen an Indien nachgelesen werden, an welche ich meine weitere Erzählung anknüpfe. In Neapel besuchte ich Formichi und fand ihn als Mittelpunkt einer reizenden italienischen Familie, mit welcher wir das Osterlamm aßen und zum zweiten Male den Vesuv besuchten, nicht unter den Schwierigkeiten wie im Jahre 1887, sondern indem ein großer gemieteter Wagen uns bis zum Observatorium brachte, wo Mutter Formichi aus den mitgebrachten Vorräten das Mahl bereitete, während wir andern, auch meine Frau, am Arm eines wackeren Führers in zwei Stunden zum Krater hinaufstiegen. Auch Pompeji wurde in Gesellschaft von Formichi und seiner Schwester besucht, wobei wir uns alle als Fremde gaben, vom Führer wie üblich ziemlich unwirsch behandelt wurden, während es in Formichi kochte, bis er plötzlich sein Inkognito brach, den Führer auf gut neapolitanisch abkanzelte. Von Neapel ging es nach Rom, wo sich für das Leben wichtige Verbindungen anknüpften. Dort hatten drei junge Italiener, Costa, Sparagna und Cuboni, in dem Hause einer Dame, die uns als Diotima noch oft begegnen wird, in einem[298] Kränzchen meine »Elemente der Metaphysik« durchgegangen und darüber brieflich einige Fragen an mich gestellt. Von Indien zurückkehrend suchte ich Costa auf; er, Musiker und Philosoph, wurde uns ein trefflicher Führer durch Rom, und er schlug vor, am 11. April eine Familie Mond zu besuchen, die droben auf Castell Gandolfo in der Sommerfrische wohnte. Hier lernte ich Dr. Ludwig Mond, den berühmten Chemiker, seine Frau Frida, die beiden Söhne Robert und Alfred kennen, sowie die mit ihnen zusammenwohnende Henriette Hertz, welche zehn Jahre später als Diotima meine nächst meiner Frau teuerste Freundin im Leben geworden ist, bis mir am 8. April 1913 und am 2. Januar 1914 beide durch den Tod geraubt wurden. Damals, im April 1893, ließ sich die Wichtigkeit dieser Verbindung noch nicht ahnen. Wir verlebten einen reizenden Tag zusammen, frühstückten, bestiegen mit Ludwig Mond den Mons Latiaris und kehrten höchst befriedigt nach Rom zurück, wo uns sehr beunruhigende Nachrichten über den Zustand meiner fast achtzigjährigen Mutter erwarteten. Eilig kehrten wir über Mailand und Mainz nach Hüsten zurück, fanden die Mutter schwer leidend, konnten noch zwei Tage lang von Indien erzählen und sie in eine heitere Stimmung versetzen, bis sie am Morgen des 17. April die Augen, welche achtundvierzig Jahre lang so treu über meinem Leben gewacht hatten, für immer schloß. Wir begruben sie am 19. April und kehrten am 21. zur Sommerarbeit nach Kiel zurück.
Ein großes Fest bereitete sich für den Herbst vor, Nennas Hochzeit mit Assessor Adolf Johanssen, welche am 14. September, aber auch schon drei Tage vorher und drei Tage nachher, in Hüsten gefeiert wurde.
Der Winter 1893–94 verlief wie so viele frühere. Die Vorlesungen gingen ihren geregelten Gang, nebenher ging das gesellige Leben. Wir luden ein und wurden eingeladen und verbrachten auch diesmal unsere Weihnachtsferien als Gäste meines Schwagers in Charlottenburg. Wichtiger war, daß die von unserer Freundin Miß Duff mit großem Fleiß und unter meiner persönlichen Mitwirkung entstandene englische Übersetzung der »Elemente der Metaphysik« am 15. November 1893 von Macmillan in London in Verlag übernommen wurde, und daß ich[299] am 13. Februar 1894 über den Verlag meiner »Allgemeinen Geschichte der Philosophie« mit Brockhaus den Vertrag unterzeichnete. Die folgenden Monate gingen mit dem Druck der fertiggestellten Vorrede, Einleitung und Hymnenzeit befassenden ersten Abteilung hin, so daß ich am 2. September mit einem fertigen Exemplar die Reise nach Genf antreten konnte, um dasselbe beim Orientalistenkongreß zu überreichen. Gleichzeitig mit diesen literarischen Arbeiten beschäftigten mich die Vorlesungen und das Dekanat der philosophischen Fakultät, welches ich am 23. Juni 1894 übernommen hatte. Am 2. September fuhr ich von Kiel über Frankfurt zum Orientalistenkongreß nach Genf, wo ich im gastlichen Hause meines Freundes und ersten Schülers in der Philosophie und im Sanskrit, des Professors Paul Oltramare, überaus freundliche Aufnahme fand. Am 5. September hielt ich meinen Vortrag über die Philosophie des Veda, indem ich das erste fertige Exemplar der ersten Abteilung meiner Geschichte der Philosophie dem Kongreß überreichte und zugleich Gelegenheit nahm, mich über meine Reise nach Indien und die Eindrücke derselben zu verbreiten, welche zu denen des gleichfalls anwesenden Freundes Garbe in einem mit Wohlwollen und Ironie hervorgehobenen Gegensatz standen.
Der Orientalistenkongreß, welcher so glorreich angefangen hatte, erfuhr eine unerwartete Unterbrechung. Am Sonntag, dem 9. September, war ich einer Einladung nach Nyon zu Pastor Ehni, einem früheren Sanskritschüler von mir, gefolgt, kehrte am Abend in vergnügter Stimmung nach Genf in das Haus meiner lieben Wirte zurück, da kamen mir beide, Monsieur und Madame Oltramare, freudig entgegengesprungen mit dem Rufe: »Nous vous félicitons – félicitons!« und verkündigten mir die große Neuigkeit, daß ein Telegramm aus dem fernen Kiel die heute morgen erfolgte glückliche Geburt einer Tochter gemeldet habe, auch der Name Erika war schon im Telegramm genannt und hinzugefügt, daß alles nach Wunsch verlaufen sei. Nach meinem Abendessen, bei welchem meine Wirte mir zuredeten, ruhig das Ende des Kongresses abzuwarten, da ja alles zu Hause wohl stehe, zog ich mich für eine halbe Stunde auf mein Zimmer zurück und überlegte, was zu tun sei. Gerne wäre ich[300] bis zum Ende des Kongresses geblieben, aber ich wohnte in einer Familie und mußte mir sagen, daß eine solche, trotz gegenteiliger Versicherungen, es doch als Mangel an Familiensinn empfinden würde, wenn ich bei einem solchen Ereignisse fern vom Hause bliebe. Ich kam zu dem Entschluß, daß es das schicklichste sein dürfte, abzureisen, dann aber auch mit éclat, sofort, noch am selbigen Abend. Ein Zug fuhr um Mitternacht. Da am Sonntagabend keine Leute aufzutreiben waren, so halfen mir Monsieur und Madame Oltramare mit eigenen Händen, meine Koffer nach dem Bahnhofe zu schleppen, und ich fuhr in die Nacht hinein, der Heimat zu. Natürlich erregte mein plötzliches Verschwinden auf dem Kongresse Verwunderung, und Jacobi vereinigte am folgenden Tage meine Mitsanskritisten, bei denen ich durch meine Sanskritrede am Freitag vorher in bester Erinnerung war, zu einem Bierabende und verkündigte gleichfalls in einer Sanskritrede die große Neuigkeit, welche den Freund Deussen so plötzlich den Kongreßfreuden entrückt habe. Ich dankte ihm dafür von Kiel aus in einem Sanskritbriefe und versprach, zum Lohne dafür meine Tochter seinem Sohne zur Frau geben zu wollen, und er erwiderte in derselben Sprache, daß er drei Söhne zur Verfügung habe, und daß jeder derselben es sich zur Freude und Ehre gereichen lassen werde, mein Töchterchen zu heiraten, wenn die Zeit dazu gekommen sein werde.
Es war um 11 Uhr vormittags am 11. September 1894, als ich zu Hause eintraf und zum ersten Male das Angesicht meiner Tochter sah, während ich, auf die Stunde genau zehn Jahre vorher, am 11. September 1884 um 11 Uhr vormittags, bei einer von Frau Dr. Engel veranstalteten Vergnügungstour nach Potsdam zum ersten Male meine Frau zu sehen bekommen hatte. Jetzt betrachtete ich mit viel Erstaunen mein im Kinderwagen liegendes Töchterchen, wagte nicht ihre zarten Fingerchen zu berühren, aus Furcht, es könnte eines davon abbrechen, und beunruhigte mich sehr, wenn ich es aus vollem Halse schreien hörte, wie das bei kleinen Kindern doch üblich ist und nicht aus Schmerz geschieht, sondern nur um sich Bewegung zu machen und die kleinen Lungen im Einatmen des ungewohnten Elementes zu üben. Natürlich drehte sich alles im Hause um den[301] neuen Ankömmling, meine Frau mit matter Stimme versicherte mir, daß sie Erika ganz entzückend finde, und die von allen Seiten eintreffenden Glückwünsche erhöhten das stolze Gefühl, endlich einmal Vater zu sein.
Als Amme hatte man für Erika ein sauberes, nettes Mädchen, namens Sophie aus Gettorf, gewonnen; das Kind ging, wie die tägliche Gewichtszunahme zeigte, einige Monate recht gut voran, dann aber entsprach das Gewicht nicht mehr den Erwartungen, wir beunruhigten uns, und der Arzt konstatierte, daß der Amme die Milch zu knapp wurde. Wir versuchten, ein Fläschchen einzulegen, aber Erika sträubte sich so heftig dagegen, daß mein Vaterherz es nicht mehr er tragen konnte; ich suchte mit Hilfe meiner medizinischen Kollegen Rettung in dieser Not und gelangte so in die Frauenklinik, wo einige dreißig junge Weiber in den Betten lagen, ein jedes mit dem zugehörigen Baby in einem Bettchen am Fußende. Hierhin begleitete ich dreimal täglich mein Töchterchen, wo sie dann bald an dieser, bald an jener sich sättigen konnte. Einmal fuhren wir mit dem Kinde im Halbschlafe vorüber, wo eine militärische Musikbande bereitstand. Der Dirigent hatte schon den Taktstock erhoben, um das Zeichen zum Blasen zu geben, als ich wie ein Löwe auf ihn losstürzte und ihm gebot zu warten, worauf er immer mit dem erhobenen Taktstock wie versteinert stehenblieb, bis wir glücklich vorüber waren. Übrigens bekam meinem Kinde die allzu frische Milch nicht sonderlich, bis es endlich gelang, eine zweite Amme, eine lange, durchtriebene Person aus Fehmarn aufzutreiben, deren Kind dasselbe Alter wie meine Tochter hatte, und bei der sie dann auch körperlich wieder normale Fortschritte machte. Übrigens war Marie, die neue Amme, so unzuverlässig wie möglich; mit jedem begegnenden Soldaten liebäugelte sie, und einmal ließ sie auf dem »Langen Segen« den Kinderwagen mit Erika mitten auf der Straße stehen, um, während dieselbe von schmutzigen Straßenkindern umspielt wurde, in einer benachbarten Kellerwohnung mit einer Freundin sich zu unterhalten. Seitdem ließ ich sie nie mehr allein mit dem Kind ausfahren, habe auf zweimaligem täglichem Spaziergange den Wagen stets selbst begleitet und oft genug, wenn es bergauf ging, ihn selbst geschoben, eine Szene,[302] welche, ohne daß wir es merkten, von mutwilligen Freunden photographiert worden war und bei einer Abendgesellschaft bei Professor Werth zu unserer Überraschung und zum allgemeinen Ergötzen unter andern Lichtbildern in vergrößertem Maßstabe erschien. Eine große Freude war es für uns, Weihnachten 1894 zu sehen, wie die Lichter des Christbaums sich in den Äuglein des erstaunten Kindes spiegelten, eine größere noch, am 31. Dezember seine Taufe zu feiern. Das ganze Haus war mit Erikasträußen dekoriert; Pastor Michaelsen taufte das Töchterchen mit einem Reste des aus Palästina mitgebrachten Jordanwassers; das Kind war schon so entwickelt, daß es den Pastor während seiner salbungsvollen Rede, in der Meinung, er wolle mit ihr spaßen, anlachte, und erst, als er ihr liebliches Gesichtchen mit dem Wasser benetzte, ging es ihr über den Spaß, und sie fing an, ein wenig zu schreien.
Nachdem ich am 2. Juni 1895 meine Übersetzung der sechzig Upanishads abgeschlossen und dieselbe am 28. Juli an Brockhaus zum Druck übersandt hatte, beschloß ich, in den Herbstferien zu meiner Erholung in die Schweiz zu reisen, diesmal leider allein, da meine Frau eben erst von einem sechswöchentlichen Aufenthalte im Sanatorium zu Reinbeck zurückgekehrt war und nun bei Erika bleiben wollte. Ich verließ Kiel am 10. August, reiste über Frankfurt, Basel, Neuhausen, Zürich auf den Rigi, verbrachte eine Nacht im Nebel auf Rigikulm und wanderte dann über Brunnen, Andermatt, über die Furka nach Gletsch und Meiringen und von dort nach der großen Scheidegg, um diesmal unter besseren Verhältnissen als vor dreiundzwanzig Jahren daselbst die Nacht zu verbringen. Seit Jahren hegte ich das Verlangen, einmal die Gemmi kennenzulernen. Ich fuhr nach Spiez und wanderte über Frutigen unter immer heftiger werdenden Gichtbeschwerden weiter, bis ich abends im Klösterli, einem einsamen Wirtshaus an der Landstraße, einkehrte. Am andern Morgen saß ich hier, da die Zehe stark angeschwollen war, fest, ohne alles Gepäck, welches ich nach Leukerbad beordert hatte, aber doch wohlgemut, und betrachtete, auf der Terrasse des Wirtshauses sitzend, die Sennen und Sennerinnen, wie sie eben von der Alp mit ihren Herden herunterzogen, um ins Winterquartier zu[303] gehen. Herr Lehmann, der Wirt vom Hotel Blausee, welcher gerade abreisenden Gästen bis zum Klösterli, wo die Wagen warteten, das Geleit gab, gewährte mir dadurch nicht nur das Schauspiel einer abreisenden Gesellschaft, welches ich von der Höhe meines Standpunktes, wie von einem Sitze im ersten Rang des Theaters, beobachten konnte, sondern versorgte mich auch mit ein Paar alten Pantoffeln und einem englischen Buche, »Dr. Jekyll and Mr. Hyde« von Stevenson, welches ich, behaglich im Bette liegend, zweimal hintereinander durchlas. Am Nachmittag war ich so weit hergestellt, daß ich mit einem Retourwagen nach Frutingen fahren, dort ein Paar Filzschuhe mit festen Sohlen kaufen und, nach dem Klösterli zurückgekehrt, ein Pferd für den andern Tag bestellen konnte. Auf diesem ritt ich am nächsten Morgen, begleitet von einem Diener namens Abraham, über Kandersteg und vorbei an einem See, welcher sieben Monate im Jahre gefroren ist, zum Hotel Wildstrudel und sah von dort die 500 Meter hohe Felswand der Gemmi und unten in schwindelnder Tiefe Leukerbad vor mir liegen. Um den grausigen Abstieg auf dem schmalen, teilweise auf Terrassen herabführenden, teilweise in die Felswand geschnittenen Wege nicht allein zu machen, nahm ich Abraham mit herunter, fand in Leukerbad mein Köfferchen, sah die Badenden, wie sie stundenlang im Wasser sitzen, von schwimmenden Brettchen mit Kaffeetassen und Dominospielen umgeben, ließ mir die Geschichte von der abgestürzten schwedischen Gräfin erzählen, auf welche die Inschrift unica spes hindeutet, und genoß an dem wundervollen Abend den Mondschein, wie er erst die Berggipfel versilberte, während wir noch in tiefer Nacht lagen, bis er endlich auch zu uns heruntergelangte. Am nächsten Morgen wanderte ich die vier Stunden über Inden nach Leuk und fuhr dann mit der Bahn über Montreux und Lausanne nach Kiel zurück, wo ich am Geburtstag meines Töchterchens wohlbehalten wieder eintraf, um die Korrektur der Bogen meiner Upanishadübersetzung mit der Wonne vorzunehmen, welche mich jedesmal erfüllt, wenn ich meinen eigenen Gedanken im Drucke wieder begegne.
Der Herbst 1895 und der ihm folgende Winter verliefen in gewohnter Weise; Vorlesungen und Gastereien brachten nichts[304] Neues von Bedeutung, Weihnachten erfolgte die schon zur Gewohnheit gewordene Reise nach Charlottenburg, und der April 1896 kam heran, während der Druck meiner umfangreichen Upanishadübersetzung langsam und stetig fortrückte. Am Karfreitag, es war der 3. April, erschien zu meiner Freude Carlo Formichi. Er hatte den Preis von Siena gewonnen, welcher ihm erlaubte, seine Stelle am Gymnasium aufzugeben und sich ganz den Sanskritstudien zu widmen; er blieb mit mir über ein Jahr in Kiel in fortwährendem nahen Verkehr, er besuchte meine Vorlesungen, ging nach denselben mit mir spazieren und übte sich im Deutschen, indem er mir den Inhalt der Vorlesung auf deutsch wiederholte. Als Ort unserer Unterhaltungen wählten wir mit Vorliebe die Ausstellung am Düvelsbeckerweg, welche gleichzeitig mit der großen Berliner Ausstellung tagte und infolge dieser Konkurrenz an den Vormittagen gänzlich unbesucht und der ruhigste Ort in Kiel und Umgebung war.
Der 9. September 1896, Erikas zweiter Geburtstag, brachte noch eine besondere Überraschung, nämlich den Besuch des Wiwek Ananda Swami, begleitet von Kapitän und Mrs. Sevier. Diesen Swami hatte man als Probe eines indischen Heiligen zur Ausstellung nach Chikago kommen lassen, von wo aus zwei Freunde Indiens, Miß Müller und Mr. Sturdy, ihn veranlaßt hatten, nach London zu kommen und dort Vorträge über den Vedanta zu halten. Zu seiner Erholung hatten sie ihn dann nach der Schweiz geschickt, von wo aus er nach vorheriger Anfrage, ob ich zu Hause sei, am 9. September mit dem Ehepaar Sevier in Kiel eintraf. Ich zeigte ihnen, was es in Kiel zu sehen gibt, veranlagte sie, einen Tag in Hamburg zu verbringen, worauf ich dann in Bremen wieder mit ihnen zusammentraf zur gemeinschaftlichen Reise nach London. Am 12. September fuhren wir alle vier von Bremen nach Amsterdam. Da meine Reisegesellschaft nach englischer Gewohnheit eine größere Anzahl Gepäckstücke bei sich führte, wurde ein Dienstmann mit denselben beladen, der uns in ein großes Hotel gegenüber dem Bahnhof führte. Ich führte, da die andern weder holländisch noch deutsch sprachen, die Verhandlungen und verlangte zwei einzelne Zimmer und ein gemeinsames für das Ehepaar. Es waren aber nur zwei[305] Zimmer da, jedes mit zwei Betten, und da ein Wechsel des Hotels mit all dem Gepäck nicht wohl ausführbar war, mußte ich mich wohl oder übel entschließen, mit dem braunen Bruder aus dem Osten dasselbe Zimmer zu teilen, nicht ohne Bedenken, da mir von meiner indischen Reise her die Lebensgewohnheiten der Inder noch wohlbekannt waren. Als ich mit dem heiligen Mann mein Zimmer bezogen hatte, um schlafen zu gehen, war sein erstes, daß er seine kurze englische Stummelpfeife ansteckte, und es blieb mir nichts übrig, als Tür und Fenster aufzureißen und ihm eine kleine Vorlesung zu halten über die Schädlichkeit, in einem raucherfüllten Zimmer zu schlafen. Er sprach sehr gut Sanskrit und ebensogut englisch, war von lebhaftem, gewandtem, etwas stürmischem Wesen, ein junger Mann, strotzend von Gesundheit, mit vollen rosigen Wangen, sehr verschieden von dem, wie wir uns einen Heiligen vorstellen. Und allerdings sind diese indischen Heiligen über alle Gebote der Kasten erhaben, essen Fleisch, trinken Wein, und wenn wir am folgenden Tage ein Restaurant besuchten und wir andern bei den enormen Preisen uns mit einer Portion begnügten, so nahm er deren wohl zwei, welches alles, da er als Heiliger kein Geld haben durfte, von dem englischen Ehepaare für ihn bezahl wurde. »Sie sind mir ein schöner Heiliger,« sagte ich einmal zu ihm, »Sie essen gut, trinken gut, rauchen den ganzen Tag und lassen sich nichts abgehen.« Er erwiderte in Sanskrit: »Ich halte mein Gelübde.« – »Und worin besteht Ihr Gelübde«, fragte ich. – »Es fordert von mir nur kama – kancana – viraha, Verzicht auf Liebe und Gold.« Nun, auf Gold konnte er leicht verzichten, da alles von andern für ihn bezahlt wurde, und was die Liebe betrifft, so traue ich ihm wohl zu, daß er, wie so mancher junge, von Gesundheit strotzende katholische Geistliche ehrlich bestrebt war, den Kampf mit Fleisch und Blut tapfer zu bestehen, wiewohl er bei unserm abendlichen Spaziergang durch die Kälberstraße für die vorüberschwebenden und uns freundlich zulächelnden Sylphen ein etwas beunruhigendes Interesse bekundete. Wir besuchten am andern Tag noch das Reichsmuseum, fuhren nach Hoek van Holland und schifften uns nach England ein.
Wir wohnten getrennt, trafen aber alle Tage zusammen[306] und unternahmen vieles gemeinsam. Ich wurde durch Wiwekanada mit seinen beiden Protektoren, Mr. Sturdy und Miß Müller, bekannt, welche beide nicht uninteressant waren. Miß Müller wohnte in Wimbledon, wo wir bei ihr frühstückten. Sie hat sich dadurch berühmt gemacht, daß sie sich weigerte, ihre Steuern zu bezahlen, ehe die Frauen das Stimmrecht erhielten. Sie wurde gepfändet, wiewohl sie sich in ihrem Haus verbarrikadiert hatte. Am andern Tag wurden ihr von unbekannter Hand die gepfändeten Silbersachen wieder zurückgestellt. Dort in Wimbledon war es auch, wo mir Mr. Sturdy seine romantische Lebensgeschichte erzählte. Im Alter von zwanzig Jahren hatte er seinem Vater erklärt, in die weite Welt gehen zu wollen. Dieser gab ihm eine mäßige Summe Geldes, und Sturdy begab sich zunächst nach Neuseeland, wo er seine Mittel dadurch erhöhte, daß er Herden von 3000 Schafen vom Innern der Insel nach der Küste trieb und für jedes Schaf einen Schilling erhielt, wovon er dann einige ihn zu Pferde begleitende Knechte zu besolden hatte. Dann ging er nach Australien, kaufte ein großes bewaldetes Terrain, fällte mit eigener Hand die Riesenbäume und steckte das Ganze in Brand; ein ungeheures Feuer verzehrte das Holz und nun verkaufte er das Terrain an Farmer, welche in der Asche ihr Getreide zogen. Durch dieses wiederholt geübte Verfahren war er zu einem ziemlichen Vermögen gelangt, mit welchem er nach England zurückkehrte, in der Absicht, dort seine Angelegenheiten zu ordnen, um dann nach Indien zu gehen und in den Einöden des Himalaja den Yoga zu üben. Ehe es dazu kam, verfiel er in eine schwere Krankheit, wurde von einer lady nurse gepflegt, ging, nachdem er sie reichlich beschenkt hatte, nach Indien, kehrte nach einiger Zeit zurück, um dann wieder dorthin zu gehen. Als er aber bemerkte, wie das arme Mädchen, früher frisch und blühend, zufolge seiner Absicht, sie wieder allein zu lassen, dahinschwand, wurde er von Mitleid ergriffen und hat sie aus Mitleid, wie er mir selbst erzählte, geheiratet. Sie war frisch und lebenslustig, er selbst ganz der Askese ergeben, und wenn beide uns in ein Restaurant in London einluden, bestellte sie Fisch und Braten und Wein und süße Speisen für uns, während er sich mit einer Portion Gemüse und Mineralwasser begnügte.[307] Sie schenkte ihm zwei Kinder, Mary und Ambros, und starb. Er engagierte zu ihrer Erziehung eine Frau Brüning, die von ihrem Manne verlassen war, und sie erzog ihre beiden Kinder mit den seinen. Ich habe ihn später einmal mit Erika auf seinem schönen Landsitz Burton Bredstock besucht; an dem einen Ende der Tafel speiste Frau Brüning mit ihren beiden Kindern, aß Fleisch und trank Wein, während er an dem andern Ende mit Mary und Ambros streng vegetarisch lebte und sich dabei sehr wohl befand. Ich begleitete ihn auf seinen Spaziergängen und dies war für mich eine höchst willkommene Gelegenheit, in den umliegenden Dörfern das Leben der englischen Bauern, welches ich bis dahin nur aus George Eliots »Adam Bede« gekannt hatte, aus eigener Anschauung kennenzulernen und mit dem mir so wohlbekannten Leben des deutschen Bauernstandes zu vergleichen. Dieser Besuch auf Mr. Sturdys Landgut fällt in eine spätere Zeit, in die Jahre 1907 oder 1908, wo ich mit Frau und Tochter wieder einmal in England weilte.
Zurückkehrend zu meinem Aufenthalt in England im Jahre 1896 habe ich noch zu berichten, daß ich hier zum letzten Male im Leben mit dem durch gemeinsame Studien mir so nahestehenden Max Müller zusammentraf. Als er von meiner Anwesenheit in London erfuhr, lud er mich ein, am 30. September 1896 in der Indian and Ceylon Exhibition in London am Nachmittag mit ihm zusammenzutreffen und am Abend bei Reverend Maclure mit ihm zu speisen. Das erstere nahm ich an, das letztere mußte ich ablehnen, da es nach englischer Sitte ebenso unmöglich war, am Tage in der Ausstellung im Frack, wie am Abend zum Diner ohne Frack zu erscheinen, ein Wechsel des Anzugs aber bei der großen Entfernung meiner Wohnung im Norden von London von den beiden Treffpunkten unmöglich war. Um 3 Uhr kam ich zur Ausstellung, wo einige vom Ausstellungskomitee zu Ehren Max Müllers sich in einem bestimmten Zimmer versammelt hatten. Ich wurde sehr freundlich empfangen, und wir besichtigten unter Führung des Komitees die Ausstellung, wobei vieles gezeigt wurde, was gewöhnlichen Besuchern verborgen bleibt, wie z.B. die inneren Einrichtungen und Maschinerien, welche für ein großes Panorama dienten. »Warum wollen Sie heute abend nicht[308] bei uns speisen?« fragte Mr. Maclure. – »Die Wahrheit zu sagen,« erwiderte ich, »weil ich keine Zeit habe, nach Hause zu fahren und mich in Frack zu werfen.« – »Oh,« sagte Mr. Maclure, »kommen Sie doch wie Sie sind, wir sind nur fünf Personen und wir wollen alle ohne evening dress speisen.« Dies nahm ich an, besuchte nach der Ausstellung noch einen Five o'clock tea bei Mr. Gupta, einem höheren Richter aus Kalkutta, und fand mich dort mitten in London in einer großen Gesellschaft, vielleicht vierzig Personen, welche aus lauter indischen Herren und Damen bestand. Am meisten interessierte mich Mr. Gupta und seine Familie, bestehend aus seiner netten, frischen Frau Saudamani (der Blitzt) und drei Töchtern im Alter von sechzehn bis neunzehn Jahren, drei frischen Mädels mit brauner Gesichtsfarbe und langen, schwarzen, herabhängenden Haaren, welche mir ihre Namen: Danalata (Waldranke), Carulata (schöne Ranke) und Lalitalata (liebreizende Ranke) eigenhändig auf ein Blättchen schrieben, das ich als Andenken noch lange bewahrt habe.
Einige Tage nach dem schönen Zusammensein bei Maclure fuhr ich mit Formichi nach Paris; auch Miß Duff hatte ich eingeladen, uns als mein Gast für eine Woche dorthin zu begleiten. Wir fuhren nach Newhaven, dann, diesmal bei selten schönem Wetter, über Dieppe direkt nach Paris, wo wir einige schöne Tage verbrachten, freilich mit Hindernissen, und dieses Hindernis war der Zar von Rußland. Im Hotel waren die Preise gerade doppelt so hoch wie sonst, wofür wir dann den Genuß hatten, eines Abends eine feenhafte Illumination zu sehen. Öfter fanden wir die Sehenswürdigkeiten geschlossen, weil am nächsten Tage der Besuch des Zaren erwartet wurde, für dessen Sicherheit man nicht vorsichtig genug sein zu können glaubte. So kehrten wir eines Tages vom Grab Napoleons vor der verschlossenen Tür zurück und wanderten am südlichen Ufer der Seine entlang, als plötzlich der Weg vor uns gesperrt war. Man erwartete den Zaren, eine Reihe Soldaten hatte schon Spalier gebildet und ein unternehmender Kopf hatte dicht hinter ihnen durch ein über zwei Bierfässer gelegtes Brett eine Art erhöhter Tribüne gebildet und verkaufte den Stand auf derselben für fünfzig Centimes à Person.[309] Wir nahmen das Anerbieten an, und kaum waren wir hinauf gestiegen, als auch der Zug nahte, den wir aus nächster Nähe bequem übersehen konnten. Voran sprengten Kürassiere mit blitzendem Harnisch, mit hocherhobenen mächtigen Revolvern. Dann folgte der offene Wagen, in welchem der Zar in prächtiger Uniform und neben ihm der Präsident Felix Faure in einfachem schwarzen Gehrock saß. Eine lange Suite von Wagen folgte, und wir konnten, nur durch eine Reihe Soldaten von ihr getrennt, von unserm erhöhten Standorte aus alles aufs bequemste übersehen.
Der Winter 1896–87 verlief in gewohnter, mit geselligen Zerstreuungen untermischter Tätigkeit. Im Vordergrunde stand meine Übersetzung der sechzig Upanishads. Am 17. Januar war der mühevolle Index beendet, am 19. Februar wurde das letzte Imprimatur erteilt und am 15. Mai konnte ich das Erscheinen meiner Upanishadübersetzung feiern.
Inzwischen war mir eine neue Aufgabe zugefallen und nahm den größten Teil meiner nur eine kurze Erholungsreise nach Hüsten und Heinsberg gestattenden Osterferien in Anspruch. Die Schusterinnungen Deutschlands hatten sich zusammengetan, um für ihren Handwerksgenossen Jakob Böhme im Görlitz ein Denkmal zu stiften, die nötigen Mittel sollten teilweise durch Vorträge in den verschiedenen Städten zusammengebracht werden, und mir wurde durch Schuster Ortmann der ehrenvolle Auftrag zuteilt, einen solchen Vortrag vor den Kieler Handwerkern in der Harmonie zu halten. Ich schaffte mir die siebenbändige Ausgabe der Werke des Philosophen von Schiebler an, arbeitete mich hinein und verfaßte mit vieler Freude an der Sache meine Abhandlung über Jakob Böhme, in welcher ich, getreu den in meiner Geschichte der Philosophie befolgten Grundsätzen, aus dem traditionellen Element das Originelle, aus dem Wuste mißverstandener und halbverstandener Traditionen den bleibenden Kern herauszuschälen suchte; er besteht darin, daß Böhme den Schwerpunkt von Gott weg in die Seele verlegt; Gott ist für ihn nur die in sieben Qualitäten ausgespannte Möglichkeit des Bösen und Guten, die Seele aber wohnt in der vierten mittleren Qualität, von welcher aus sie sich frei schwingt, entweder in das Reich des Grimmes und der Finsternis (Qualität 1–3) oder in das triumphierende[310] Freudenreich Gottes (Qualität 5–7), welche beide in Gott liegen. – Ich ließ die Schrift drucken und beim Halten des Vortrags verteilen, welcher am Abend des 8. Mai unter reicher Beteiligung von seiten der Handwerker und einer nur sehr mäßigen Teilnahme von seiten der Universitätskollegen verlief. Unter dem Eindruck dieser Arbeit beschloß ich, die Pfingstferien zu einem Besuche in Görlitz zu verwenden. Am 4. Juni fuhr ich mit Frau und Töchterchen nach Berlin, ließ beide im Hause Perels zurück und radelte noch am selben Tage mit Leopold Perels als Reisegefährten bis Glasow, wo wir in dem zum Übernachten einzig vorhandenen Mansardenzimmer des Dorfwirtshauses die Nacht zubrachten und am andern Morgen nach Berichtigung der mit Kreide auf den Tisch geschriebenen Hotelrechnung weiter bis nach Lübben fuhren. Den Morgen des ersten Pfingsttages verbrachten wir zu Lübbenau mitten im Spreewalde und sahen mit Vergnügen, wie in diesem deutschen Venedig alle Welt von den alten Frauen bis zu den kleinen Mädchen herunter in ihren Kähnen die hier die Fahrwege vertretenden Kanäle belebten. Zu Mittag waren wir in Kottbus, am Abend in Spremberg, und der Pfingstmontag führte uns über Muskau nach Görlitz, wo wir im Hotel abstiegen und von Bürgermeister Heyne, einem Mitschüler der Pforta, mit offenen Armen aufgenommen wurden. Der folgende Tag wurde zunächst dem gemeinsamen Besuche des Kirchhofs mit den Gräbern von Jakob Böhme und der 1807 von Goethe geliebten und zuletzt in geistiger Umnachtung gestorbenen Minna Herzlieb gewidmet. Ihr Grab trägt die Inschrift:
»Goethes Liebe verklärte dereinst die rosige Jugend,
Goetheliebe, sie schmückt jetzt das erlösende Grab.«
Weiter wurden das damals noch stehende, jetzt leider abgerissene Wohnhaus Böhmes an der Neiße und die für sein Leben denkwürdigen Stätten des Rathauses und der Landskrone wie auch die Vorstände der Schusterinnung besucht und am 9. Juni nach Berlin zu Perels zurückgekehrt.
Der Sommer 1897 verlief in gewohnter Weise. Die Gesundheit meiner Frau hatte sich so erfreulich gekräftigt, daß ich ihr am 22. Juli ein Rad kaufte und mit ihr in der nächsten Zeit[311] mehrere Touren unternahm. Die Herbstferien führten uns am 12. August zunächst nach Hüsten, wo ich mich eine Woche lang mit einem stärkeren Anfall der Gicht abquälte, dann aber als beste Kur am 23. August mit Werner bis nach Siegen radelte. Während er weiter nach Österreich fuhr, kehrte ich allein nach Hüsten zurück. Da Anna sehr elend war, beschlossen wir, sie nach Drieburg ins Bad zu begleiten. Ich fuhr am 25. August mit meiner Frau voraus, um die Sache vorzubereiten, ließ sie schon in Drieburg zurück, kam in der Nacht, mit dem Vorderrade im Dunkeln den Weg tastend, nach Hüsten zurück und brachte am nächsten Morgen früh die ganze Gesellschaft mit Sack und Pack nach Drieburg, von wo aus ich mit meiner Frau einige angenehme Touren zu Rad unternahm. Am 2. September, auf St. Sedan, wie ich zu sagen pflegte, ließen wir die dreijährige Erika mit ihrem Kindermädchen Emma unter Annas Schutz zurück, und ich fuhr mit meiner Frau über Sonnborn–Elberfeld nach Paris zum Orientalistenkongreß, welcher, wie üblich, unter vielen Festlichkeiten verlief. Am 6. September war Empfang beim Kultusminister Rambaud. Die zweihundert Geladenen mußten ihre Mäntel und Hüte durch ein kleines Fenster in eine Portierloge reichen, und als nach einem schönen unterhaltenden Abend alle wie es zu geschehen pflegt, ungefähr gleichzeitig aufbrachen, entstand vor der Portierloge eine heillose Konfusion. Immer wurde irgendein Stück herausgereicht, während der Eigentümer nicht zu finden war, und hundert andere in großer Toilette in den engen Raum zusammengedrängt vergebens nach ihren Sachen verlangten. »Hiernach zu schließen,« bemerkte Kollege Oldenberg sehr gut, »würden wir den nächsten Krieg gewinnen müssen.« Am 9. September hielt ich im großen Saale der Sorbonne den Vortrag über meine Upanishadübersetzung, natürlich auf französisch, welches mir seit der Genfer Zeit all mein Leben sehr geläufig geblieben ist.
Der Kongreß zu Paris 1897 hatte mit einem glänzenden Festmahl in den Räumen des Hotels Continental geschlossen. Ich hatte unter den Franzosen viele neue Freunde gefunden, und einer derselben Professor Finot, fuhr zu Rad mit mir und meiner Frau am 12. September nach Versailles, wo wir nicht versäumten,[312] auch das Trianon und den Hamar de Marie Antoinette zu besuchen, wo eine reizende Gruppe von niedlichen kleinen Häusern, einer Kirche, Mühle, Molkerei, Bürgermeisterei usw. an die Schäferspiele erinnerten, zu welchen sich die überfeine Hofgesellschaft vor dem Ausbruche der Französischen Revolution hier in idyllischer Waldeinsamkeit zusammenzufinden pflegte.
Wir fuhren nach Brüssel, wo uns Dr. Nyssens empfing. Nyssens, jetzt Dr. med., hatte schon seit vielen Jahren an einer französischen Übersetzung meiner »Elemente der Metaphysik« gearbeitet, sie war endlich fertig geworden und ich beschloß, während meine Frau nach Kiel zum Kinde vorausfuhr, den Monat Oktober in Brüssel zu verbringen und die Übersetzung mit Nyssens durchzugehen. Zur Erholung von der Arbeit besuchten wir gelegentlich die gerade tagende Weltausstellung, welche in einiger Entfernung von Brüssel in Tervüren aufgebaut war; daß eine Straßenbahn dahin führte, war in der Ordnung, aber daß diese Bahn auch innerhalb des Festplatzes rundherum geführt wurde, störte sehr den ruhigen Genuß der links und rechts von ihr ausgestellten Sehenswürdigkeiten und erklärt sich nur aus einem Mangel an Geschmack, den ich, im Gegensatz zu den Franzosen, bei den Belgiern oft bemerkt zu haben glaube.
Eine Hauptanziehung bildeten zwei nebeneinander stehende Brutanstalten; in der einen sah man hinter Glas 5000 Hühnereier in Brutwärme und konnte beobachten, wie alle fünf Minuten ein Hühnchen aus dem Ei auskroch, das andere war eine Brutanstalt für Kinder, eine Couveuse d'enfants. Hier wurden zu früh geborene Kinder schon vom sechsten Monat an in einem sorgfältig temperierten und stets mit frischer, reiner Luft versorgten Raume unter Glas gehalten und aufgepäppelt; ob damit der Menschheit und nicht am wenigsten den armen Kinderchen selbst eine Wohltat erwiesen wird, läßt sich billig bezweifeln.
Unter den Geselligkeiten des nächsten Winters verdient besondere Erwähnung nur das Fest, welches ich am 28. Februar 1895 zu Schopenhauers 110. Geburtstag in der Seebadeanstalt gab Viele Herren und Damen, im ganzen 110, hatten die Einladung angenommen, und die damals zahlreichen Damen meines Kollegs, meist Professorenfrauen, hatten ein Festspiel gedichtet, jede Dame[313] ihre eigene Rolle, und brachten es an diesem Abend in einer auf meine Veranlassung errichteten Bühne zur Aufführung. Der Titel war: »Erika im Reiche der Philosophie.« Erika, dargestellt durch die reizende Frau Professor Staeckel, im niedlichen Kinderkostüm, befindet sich im Studierzimmer ihres abwesenden Vaters, umstanden von den die verschiedenen Philosophien repräsentierenden Damen in entsprechendem, charakteristischem Kostüm. Um sich die Langeweile zu vertreiben, berührt sie mit Vaters Zauberstab eine der Philosophien nach der andern, die indische Philosophie, vorgestellt durch Frau Professor von Starck, die ägyptische durch Frau Professor Braitmaier, die griechische durch Fräulein Jenny Jensen, die mittelalterliche durch die sehr komisch kostümierte Frau Professor Erdmann und die neuere durch Frau Professor Milchhöfer, wobei dann jede in geschmackvollen Versen dem Kinde Rede und Antwort zu stehen und vorzubringen wußte, was sie im Kolleg verstanden und behalten hatte. An die griechische Philosophie richtet Erika unter anderm die Frage: »Was ist die Liebe?« und erhält zur Antwort: »Dafür bist du noch zu jung!« – Weiter erschien, angeführt von meinem Schüler im Sanskrit Dr. Walter, eine Deputation in indischem Kostüm, hielt eine Ansprache in Sanskrit und überreichte zum Schluß eine große, von Maler Ölwein ausgeführte, noch jetzt in meinem Treppenhaus hängende Tafel, welche Schopenhauer darstellt, wie er als Asket mit abgezehrten Gliedern in der Waldeinsamkeit sitzt, wie die wilden Tiere ihn umschmeicheln und ihm huldigen und wie die Göttin Sarasvati, auf einem Boote heranfahrend, ihm ihre Offenbarungen mitteilt. Ein an das Festmahl und die Vorstellungen sich anschließender Tanz fesselte die Gäste bis lange nach Mitternacht.
Ende August fuhr ich, während meine Frau, ein wichtiges Ereignis erwartend, in Kiel blieb, zu meiner Erholung nach Hüsten, welches freilich diesmal keine sonderliche Erholung sein sollte. Nach Fertigstellung der französischen »Elements de la métaphysique« hatten wir sie dem Hauptverleger philosophischer Werke in Frankreich, Alcan in Paris, zum Verlag angeboten. Seine ablehnende Antwort war sehr charakteristisch. Metaphysik, schrieb er etwa, ist ein Artikel, der heutzutage wenig gangbar[314] ist, und soweit noch Nachfrage darnach besteht, ist der Markt mit metaphysischen Schriften ausreichend versorgt, um den Bedarf zu decken. Auf Brockhaus' Rat wandten wir uns jetzt an Perrin et Co. in Paris, erboten uns 1000 Franken zuzuzahlen, und er übernahm den Verlag. Eben war ich in Hüsten angelangt, als kurz nacheinander wie ein Platzregen sämtliche Korrekturbogen mich überfielen, und nun saß ich bis 1 Uhr nachts auf der Terrasse meines Bruders mit der Umarbeitung beschäftigt. Ich sage Umarbeitung, denn die Lektüre überzeugte mich, daß das Buch dank meiner Mitarbeit des vorigen Jahres in Brüssel zwar dem Sinn nach nichts zu wünschen übrigließ, aber in dieser Form für den französischen Geschmack sehr ungenießbar sein würde. Ohne langes Besinnen ging ich daran, Seite für Seite den Text zu glätten, so daß wenig von der alten Form bestehen blieb. So ist es ein recht lesbares Buch geworden, welches mir weniger in dem halb bigotten, halb freigeistigen Frankreich, um so mehr aber in Italien und Rußland zahlreiche Freunde erworben hat.
Über dieser Arbeit verstrichen die Herbstferien des Jahres 1898. Am 28. September fuhr ich mit Anna und Johannes, der uns bis Münster begleitete, von Hüsten ab und langte am 29. September mit Anna in Kiel an, wo sie im Monat Oktober meiner Frau in ihrem Zustande eine willkommene Gesellschaft und Hilfe bot, während ich mich Tag für Tag mit der Korrektur der Druckbogen meiner französischen Elemente herumschlug. So nahte der 21. Oktober 1898 heran; ich hatte gehofft, daß es der 22. sein würde, an dem so viele berühmte Männer geboren sind (Bacon, Lessing, Byron und Zeller am 22. Januar, Schopenhauer 22. Februar, Kaiser Wilhelm I. 22. März, Kant 22. April, Wagner 22. Mai), aber Sache war nicht weiter aufzuhalten. Alles war aufs beste vorgesehen, Wärterin und Frauenarzt waren zugegen, den Nachmittag und Abend unaufhörliches Stöhnen meiner Frau, dann plötzlich alles still, sie war chloroformiert worden, und abends fünf Minuten vor 10 Uhr der laute Schrei eines Kindes, welcher zu mir drang ins Nebenzimmer, und der Ruf des Arztes, den die Wärterin an mich und ich an die unten harrende Schwägerin und eine Freundin weitergab: Ein[315] lebender Junge! Selten habe ich in meinem Leben ein Entzücken empfunden wie in diesem Augenblick. Am nächsten Morgen betrat ich, die vierjährige Erika auf dem Arm, das Wochenzimmer, und da lag, immer noch matt aber glückselig lächelnd, meine Frau, in ihrem Arm Wolfgang und in seinem Arm eine große Storchtüte mit Süßigkeiten, welche er dem Schwesterchen vom Himmel mitgebracht hatte. Ich war gespannt, zu sehen, welchen Eindruck dieser Anblick auf Erika machen würde; sie tat, was, wie ich vermute, alle Naturmenschen im Augenblicke der höchsten Überraschung und des Staunens zu tun pflegen, – sie lachte. Von nun an konnte sie täglich bei ihrem Mütterchen aus- und eingehen und an dem Brüderchen ihre Freude haben.
Schon während der Weihnachtszeit hatte Erika angefangen zu husten; wiederholt konsultierte ich den Arzt, ohne daß er der Sache Bedeutung beimaß. Als ich aber am 27. Januar vom Kaiserdiner zurückkehrte, kam mir das Kindermädchen Emma mit der Vermutung entgegen, daß bei Erika, wie sie glaube, der Keuchhusten im Anzuge sei. Diese Nachricht erfüllte mich mit schwerer Sorge, nicht so sehr für Erika, denn ein vierjähriges Kind überwindet den Keuchhusten leicht, um so mehr aber für den drei Monate alten Wolfgang. Sofort trennte ich beide Kinder, quartierte Erika am nächsten Tage bei meiner Schwester in der Waißstraße ein, aber es war schon zu spät, auch Wolfgang fing an zu husten; in diesem Alter aber bedeutet der Keuchhusten eine Lebensgefahr, da das Kind leicht ersticken kann, auch bei sorgfältigster Überwachung. Diese konnten wir der Amme Christine, einem ungebildeten, übrigens aber treuem Meiereimädchen, nicht anvertrauen. Ich beschloß in Gemeinschaft mit meiner Frau das Kind die Nächte durch selbst zu bewachen, und wir haben dies den ganzen Monat Februar, einen der schwersten meines Lebens, durchgeführt. Bis 2 Uhr nachts hatte ich das Kind in meinem Zimmer, las neben ihm sitzend teils Rigveda, teils den Faust, den ich in dieser Zeit erst recht liebgewann, und wenn ein Hustenanfall kam, ich zählte in der schlimmsten Zeit deren nicht weniger als neunzehn in einer Nacht, sprang ich zu, richtete das Kind auf, klopfte ihm den Rücken und war gerührt durch den dankbaren Blick, den es mir zuwarf.[316]
Um 2 Uhr schob ich Wolfgang zu meiner Frau hinüber, weckte sie und übergab ihr die Wache für den Rest der Nacht, während ich selbst schlafen ging. Zum Glück war bei allem Husten das Erbrechen nur mäßig, sonst hätten wir das zarte Kind wohl kaum behalten. Inzwischen hatte Erika den Keuchhusten in seiner ganzen Heftigkeit durchgemacht, ohne daß sie einen dauernden Schaden davongetragen hätte. Zur Erholung fuhr ich im April mit Erika nach Hüsten und ließ sie dort, während ich mit meinem Neffen Willy eine Radfahrt über Heinsberg nach Brüssel machte. Hierbei kamen wir gleich hinter der Grenze nach Exaeten, wo eine Jesuitenkolonie sich angesiedelt hatte, immer bereit, nach Deutschland einzudringen, sobald ein Gesetz ihnen dieses erlauben würde. Von Exaeten pflegte der Jesuitenpater Dahlmann die Vorreden zu seinen Schriften über die indische Philosophie zu datieren, und ich beschloß, ihn dort aufzusuchen, ließ meinen Neffen in einem gegenüberliegenden Wirtshause, wo er mit holländischen Bauern sich mit Hilfe seines rheinländischen Plattdeutsches unter hielt, und ließ mich bei den Jesuiten anmelden. Da Pater Dahlmann nicht anwesend war, sondern sich inkognito in Berlin aufhielt, ließ ich mich beim Rektor melden. Während ich im Empfangszimmer ein großes Bild des Ignatius von Loyola betrachtete, erschien der Rektor, ein altes, verhutzeltes Männchen mit einer Brille auf der Nase, und bot mir ein Glas Wein an. Ich lehnte es ab, in der Hoffnung, daß er es nochmals anbieten werde, denn ich hätte gar zu gern von dem Wein der Jesuiten gekostet, aber er war zu höflich, sein Anerbieten zu wiederholen. Ich sagte ihm von Dahlmann so viel Gutes, wie ich es seinen Arbeiten über die indische Philosophie gegenüber nur irgend verantworten konnte, und empfahl, ihn auf den bevorstehenden Orientalistenkongreß nach Rom zu schicken. Später habe ich ihn in Berlin aufgesucht, wo man ihm im Katholischen Krankenhause ein Zimmer zur ungestörten Benutzung überlassen hatte. Hier saß er, ein zarter, etwas schüchterner junger Mann, umgeben von seiner Sanskritbibliothek, und konnte sich nach Herzenslust seinen Sanskritstudien hingeben. Wenn die Jesuiten einen Mann von Fähigkeit unter sich haben, so pflegen sie seine Bestrebungen in jeder Weise zu unterstützen und zu fördern.[317]
Inzwischen waren meine französischen »Elements da la métaphysique« und meine die Upanishadzeit behandelnde zweite Abteilung der Geschichte der Philosophie erschienen, und ich rüstete mich zum Orientalistenkongreß in Rom, um mit einem Vortrage das letztere Werk zu überreichen.
Am 22. August verließ ich Kiel und begab mich zunächst nach Frankfurt, um als Gast meines Freundes Reinhardt, damaligen Direktors des Goethegymnasiums, die hundertfünfzigste Wiederkehr von Goethes Geburtstag mitzufeiern. Karl Reinhardt sorgte auf das beste für mich, verschaffte mir einen Platz an der Ehrentafel und tat sein möglichstes, mir von den fast zu reichlich gebotenen Genüssen, dem Festakte, dem Monstrekonzert im Hippodrom, dem Festzuge, dem vom Goethegymnasium aus sich in Bewegung setzenden Fackelzuge und der Illumination, nichts entgehen zu lassen. Mit ihm und Freund Gjellerup, der auf meine Bitten von Dresden herbeigeeilt war, speiste ich Schopenhauer zu Ehren im Englischen Hofe, aber sehr verletzt fühlten wir uns alle drei, zu sehen, daß man den Speisesaal, in welchem der siegreich Vollendete seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte, durch eine Zwischenwand in zwei kleinere, dem gemeinen Dienste des Lebens überantwortete Räume zerlegt hatte und daß das Ölbild des Meisters verschwunden war. Noch einmal habe ich in späteren Jahren mit Amtsgerichtsrat Auerbach und Dr. Pfungst, dem leider so früh Verstorbenen, Schopenhauer zu Ehren in dem neuen Englischen Hofe gespeist, aber es war kaum eine Ehrung zu nennen, da ja von dem durch Schopenhauers Besuch geweihten Hause nichts als der Name übriggeblieben ist. Damals, 1899, führte mich Karl Reinhardt auch in das Atelier, wo der Bildhauer Schierholz die Büste zum Frankfurter Schopenhauerdenkmal in Gips ausführte. Ich äußerte den Wunsch, die von ihm modellierte Kolossalbüste später einmal zu erwerben; sie wurde mir nach dem Tode des Künstlers für ein mäßiges angeboten und jetzt bin ich stolz darauf, in meinem Hause nicht eine Kopie des Frankfurter Denkmals, sondern das Original zu besitzen, von welchem das unter meiner Mitwirkung entstandene Denkmal in den Frankfurter Anlagen eine Kopie ist. Damals, es war noch zu meiner Berliner Zeit, hatte ich Professor Wilhelm[318] Dilthey gebeten, unserm Komitee beizutreten, erhielt aber zur Antwort: »Ich soll einem Komitee zur Errichtung eines Denkmals für Schopenhauer beitreten, für den Mann, der meine Kollegen so schlecht behandelt hat? Nimmermehr!« Ihm war die Kollegialität wichtiger als die Pflicht, dem größten philosophischen Genius seines Zeitalters zu der gebührenden Anerkennung zu verhelfen.
Die Frankfurter Goethetage des Jahres 1899 waren verrauscht, und ich fuhr auf einigen Umwegen nach Rom. Hier überreichte ich auf dem Orientalistenkongreß die zweite Abteilung meiner »Geschichte der Philosophie« und sprach dabei über die Bedeutung, welche die Upanishads des Veda nicht nur für ihre Zeit hatten, sondern für alle künftigen Zeiten behalten werden. Aus den Zeitungen hatte Angelo Conti, damals ispettore dei monumenti zu Florenz, von meinem Vortrag gelesen und bat mich, ihn auf der Rückreise zu besuchen. Gern erfüllte ich diesen Wunsch, er führte mich in seine Familie ein, welche auf der Höhe gegenüber Fiesole wohnte, und es hatte für mich einen hohen Reiz, ein italienisches Familienleben kennenzulernen und mit Conti, seiner Frau und seinen Kindern an einem Tische zu speisen, in dessen Mitte eine Riesenflasche mit Chiantiwein in einem Gestell hing, aus welcher jeder durch Neigung der in Angeln ruhenden Flasche den gewünschten Wein in sein Glas laufen ließ. Beneidenswert war auch die Besichtigung der Sammlungen von Florenz unter Contis Führung, welcher die zur Schonung verhängten Gemälde für mich enthüllen ließ und erklärte, zu meiner großen Freude, und doch hätte ich sie lieber dem gegönnt, welcher vielleicht nicht ein besseres Verständnis, aber bessere Augen besaß, um diese Herrlichkeiten würdig zu genießen. Da Conti einen Bericht über meinen Vortrag zu Rom für eine Zeitschrift in Florenz wünschte, so setzte ich mich eines Abends im Hotel hin und schrieb unter dem Klappern der Teller und dem Lärm der Gäste meinen Vortrag italienisch nieder, welchen Conti mit geringen Verbesserungen am nächsten Tage erscheinen ließ. Es war für mich eine willkommene Gelegenheit, auch einmal einen Artikel in italienischer Sprache zu publizieren.
Am Abend des 23. Oktober nahm ich von dem schönen Florenz und so manchen lieben Freunden Abschied, traf am[319] nächsten Abend in München und am Morgen darauf im besten Wohlsein in Berlin ein, wo Frau und Tochter mich im Hause meines Schwagers erwarteten. Hier aber zeigten sich die ersten Vorboten des Unheils, des schwersten, welches mich bisher im Leben getroffen hat. Ich lag behaglich auf dem Sofa, hatte meine Brille abgesetzt und griff nach der Zeitung; da entdeckte ich in der Mitte des rechten Auges einen runden, smaragdgrünen Fleck, bestehend in einem ziemlich starken Bluterguß in der Retina. Nach Kiel zurückgekehrt, konsultierte ich sofort den Augenarzt; er empfahl heiße Fußbäder und hoffte, daß der Bluterguß in einigen Monaten aufgesogen sein werde. Das Auge wurde beim Lesen gedeckt gehalten und so mußte das linke Auge die Arbeit allein verrichten. Ich hatte gerade in diesem Winter viel zu lesen, zunächst weil ich zum ersten Male mein Faustkolleg vortrug, dann auch, weil ich die Rezension von Eduard von Hartmanns »Geschichte der Metaphysik« übernommen hatte. Das Rezensieren ist für mich von jeher ein undankbares Geschäft gewesen, denn ich pflegte die Bücher mit einem großen Zeitaufwand wirklich durchzulesen, und dann fiel das Urteil meist nicht sonderlich günstig aus und war nicht geeignet, mir Freunde in der Welt zu gewinnen. Ich habe es denn auch bald darauf ganz aufgegeben. So wurde während des Winters von 1899. auf 1900 das linke Auge, welches allein den Dienst verrichten mußte, über Gebühr angestrengt, und manchmal bei Lampenlicht war es mir, als wenn es ganz voll Feuer wäre. So kamen die Osterferien 1900. heran; ich war froh, die Arbeit des Semesters hinter mir zu haben, und wandte mich mit der größten Lust meinen Sanskritarbeiten zu, immer nur das linke Auge gebrauchend. Eben war ich mitten darin, die Sankhya-Sutras zu studieren und zu exzerpieren, als, es war an dem mir unvergeßlichen 12. April, auch das linke Auge seinen Dienst versagte; es hatte sich eine, wiewohl nur leichte Trübung gerade in der Macula gebildet, und ich mußte die Arbeit unterbrechen. Mit Frau und Kindern fuhr ich am 14. April nach Charlottenburg zu Schwager Franz, und hier bestand meine Schwägerin Jettchen darauf, mich am 24. April zu Hirschberg zu führen. Er untersuchte das Auge und sagte sodann: »Also, Sie möchten den dritten Band Ihrer ›Geschichte der Philosophie‹[320] schreiben? Ich kann nur raten, daß Sie sich drei Monate lang alles Lesens und Schreibens enthalten, und dann schreiben Sie Ihren dritten Band.«
Also drei Monate, den ganzen Sommer durch, weder lesen noch schreiben! Die Sache war ausführbar, da ich es mir schon längst zur Gewohnheit gemacht hatte, meine Vorlesungen ohne irgendein Manuskript zu halten; aber schwer wurde mir diese Enthaltsamkeit. Wie Tantalus, gequält von Hunger und Durst, ohne doch die Früchte von oben, das Wasser von unten erreichen zu können, so saß ich, umgeben von den herrlichsten Schätzen, welche die Weisheit des Orientes und Okzidentes uns hinterlassen hat, und mußte mich ihrer enthalten. Doch fehlte es nicht ganz an einem Ersatz.
Schon 1898 war ein junger Student, Wilhelm Jahn, an mich herangetreten mit einer in Marburg halb fertig gewordenen Dissertation über Schopenhauer. Ich ließ sie mir vorlesen und machte ihm klar, daß sie zur Einreichung sich nicht eigne. Er sah es ein, schloß sich immer enger an mich an, hörte mit großem Eifer meine Vorlesung und begleitete mich nach derselben auf meinem Spaziergang. Ich lenkte ihn auf Epiktet; mit unermüdlichem Fleiße exzerpierte er dessen Schriften, dann aber kamen wir auf den toten Punkt, die Arbeit stockte, mein junger Freund wurde mißmutig und geriet, ich weiß nicht, ob gegen Epiktet oder gegen sich selbst, in immer steigende Erbitterung. Ich überlegte, wie ihm zu helfen sei. Ihn reizte das Ferne, Hohe, Ideale. An reichen Mitteln fehlte es ihm nicht, und so lenkte ich ihn auf das Sanskrit hin. Eines Tages sprach er zu mir: »Nehmen Sie mich als Ihren Schüler im Sanskrit an und zum Dank will ich Ihnen helfen, Ihr Buch zu vollenden.« Gesagt, getan. Ich habe ihn Sanskrit vom ersten Buchstaben an gelehrt, er machte reißende Fortschritte, und so konnten wir 1900–1902 dazu schreiten, an meiner »Geschichte der Philosophie« zu arbeiten. Die ganze Darstellung des Sankhyasystems in meinem dritten Bande habe ich ihm damals in die Feder diktiert.
Inzwischen war es mir nicht gut gegangen. Der Fleck im rechten und die Trübung im linken Auge bestanden fort. Bei einer Wasserfahrt mit meinen Studenten am 3. August 1900 wollte ich[321] auch dem oben hochstehenden Steuermann eine Zigarre anbieten, trat beim Herabsteigen fehl und stürzte mit der Zigarrenkiste aufs Verdeck herunter, ohne doch merklichen Schaden zu nehmen. Vielleicht war dies der nächste Anlaß, vielleicht auch nicht; denn erst am 7. September, nach einigen mit meiner Frau unternommenen Spazierfahrten zu Rade, zeigte sich am rechten Auge von unten her, täglich sich vergrößernd, ein dunkler Schatten. Ich hielt es für einen Katarrh, befragte aber doch am 8. September den Arzt, welcher die Sache für sehr ernst hielt und als eine Netzhautablösung erkannte. Zwölf Tage mußte ich zu Bett liegen, ohne merkliche Besserung. Inzwischen hatte Freund Weber über die Sache mit auswärtigen Augenärzten korrespondiert, und so bezog ich am 29. September, begleitet von meiner Frau, die mir alle Zeit durch treuesten Beistand leistete, die Augenklinik von Professor Deutschmann in Hamburg.
Ohne meinen akademischen Verpflichtungen irgendwie Abbruch zu tun, habe ich die drei Jahre, von Herbst 1900 bis Herbst 1903, hindurch mit wenigen, sogleich zu besprechenden Ausnahmen alle meine Ferien zu Ostern, Pfingsten, Herbst und teilweise sogar Weihnachten in Deutschmanns Klinik verbracht. Stets, mit Ausnahme des letzten Males, wo sie selbst zu leidend war und eine Nichte ihre Stelle vertrat, hat meine kleine Frau mir getreulich Gesellschaft geleistet, mir vorgelesen, für mich geschrieben und die täglichen Gänge in die Stadt besorgt. Über Deutschmann bin ich in diesen Jahren von nah und fern sehr oft befragt worden und habe stets das nämliche geantwortet. Ich halte ihn für einen sehr gewissenhaften, dabei ungemein geschickten und auch vor kühnen Eingriffen nicht zurückschreckenden Arzt. Mir hat er allerdings, trotz mehr als zehnmal wiederholter Operation, leider nur wenig geholfen, doch könnte es ohne diese Kur mit dem Auge vielleicht noch schlimmer stehen.
Ich lag bei Deutschmann in der Klinik, als nach dem am 25. August 1900 erfolgten Tode meines Freundes Nietzsche die Wiener Rundschau in Briefen und Telegrammen mir zusetzte, über Nietzsche etwas zu schreiben. Ich überlegte die Sache und diktierte während drei Tagen meiner Frau rein aus dem Gedächtnis meine »Erinnerungen an Friedrich Nietzsche«, in welchen[322] ich über seine Jugendzeit, unser Zusammenleben in Pforta und Bonn, unsern brieflichen Verkehr, unser Wiedersehen in Basel, Sils-Maria und Naumburg berichtete und mit der Geschichte seiner Erkrankung und der elf Jahre bis zu seinem Tode dauernden geistigen Umnachtung schloß, über seine Lehre, das Wichtigste hinzufügend, welches von Theobald Ziegler in einer Rezension für das Beste erklärt worden ist, was über Nietzsches Lehre gesagt worden sei. Dieses Schriftstück sandte ich an die Wiener Rundschau und mußte erleben, daß sie mit Weglassung alles früheren nur den Bericht über die Erkrankung abdruckte, wodurch der Schein erregt wurde, als wenn ich nur für diese Periode im Leben des Freundes Interesse gehabt hätte. Ja, sie gingen in ihrer Schamlosigkeit so weit, meinen bescheidenen Titel zu streichen und statt dessen zu setzen: »Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche.«
Ich war über dieses Verfahren äußerst betroffen, fühlte mich vor allen Nietzschefreunden und namentlich vor seiner Schwester kompromittiert, und meine einzige Rechtfertigung war, daß ich die vollständige Schrift mit dem richtigen Titel publizierte, worauf die Firma F.A. Brockhaus bereitwilligst einging. Die Schwester hatte in meiner Darstellung einen Punkt beanstandet und ich ließ zu meiner Rechtfertigung meine Korrespondenz vieler Jahre, denn nie wird ein Brief bei mir vernichtet, nach einem Briefe von Overbeck durchsuchen, und bei dieser Gelegenheit fanden sich zu meiner Überraschung wohl gegen zwanzig Briefe Nietzsches vor, denn nur die sieben interessantesten hatte ich besonders aufgehoben und der Schwester bei einem Besuche in Kiel zum Geschenk gemacht. Alle diese Briefe paßten so vortrefflich in meine aus treuer Erinnerung diktierte Darstellung hinein, daß ich sie sämtlich derselben einreihte, ein Geschäft, bei welchem ich von Freund Jahn und meiner gerade zu Besuch bei uns weilenden Schwägerin Jettchen Volkmar auf das eifrigste und geschickteste unterstützt wurde. Der Schwester schrieb ich, daß ich eine »Anzahl« Briefe gefunden habe und meiner Darstellung einverleiben werde. Sie glaubte, daß es sich dabei nur um einige wenige Briefe handle, gab ihre Einwilligung, und als ich daraufhin den Druck des Werkes, die Faksimilia und das Porträt herstellen ließ und der Schwester gelegentlich die Zahl der Briefe[323] angab, da verlangte sie telegraphisch von mir und Brockhaus, den bereits begonnenen Druck zu sistieren. Brockhaus erklärte, daß er von der Publikation zurücktreten müsse, wenn ich nicht die Zustimmung der Schwester erlangte, und nur mit vieler Mühe und nach längerem Korrespondieren gelang es mir, diese Zustimmung von der mir von jeher wie auch noch jetzt nahe befreundeten Schwester zu erwirken.
Die durch meinen so oft wiederholten Aufenthalt in der Augenklinik mir auferlegte unfreiwillige Muße benutzte ich unter anderm dazu, eine wichtige Ergänzung »über das Wesen des Idealismus« den gerade die dritte Auflage erlebenden »Elementen der Metaphysik« als Vorbetrachtung vorauszuschicken, angeregt namentlich durch die Bekämpfung des Idealismus in Reinkes »Welt als Tat«, wie ich denn auch die vorliegenden Lebenserinnerungen vom 22. September 1901 in der Klinik meiner Frau zu diktieren angefangen, diese unterhaltende Arbeit ebendaselbst am 18. Oktober 1903 wieder aufgenommen und damit weiterhin in meinen spärlichen Mußestunden unter vielen Unterbrechungen fortgefahren habe bis auf den heutigen Tag (Juli 1914).
Zur Erholung von den Leiden der Klinik gestattete mir der menschenfreundliche Arzt einen zweimaligen Aufenthalt an der See in Wyk auf Föhr, wo ich vom 5. August bis 11. September 1901 und vom 5. August bis 2. September 1902 mit meiner Frau, Erika, Wolfgang und dem Kinderfräulein weilte, wie auch im April 1903 den Besuch des Historikerkongresses zu Rom, welcher, wie sich zeigen wird, für das nächste Jahrzehnt von großen und segensreichen Folgen werden sollte.
Reizend war der zweimalige Aufenthalt in Wyk, trotz der Parteien, welche sich in diesem Städtchen gegenseitig befehdeten, während ich mit Freund und Feind im besten Einvernehmen lebte. Ich habe hin und wieder im Leben einen Menschen, mit dem nicht anders fertig zu werden war, ungern fallen lassen müssen, aber im übrigen mir nie den Luxus gestattet, einen Feind zu haben oder Feindschaften zu unterhalten, da ich dies in der Tat für eine Vergeudung der Energie ansehe, wie die Monisten es nennen. Eine wertvolle Bekanntschaft wurde mir beim ersten Wyker Aufenthalt, der in Bielefeld eine Vorbereitungsschule für das[324] Gymnasium unterhaltende Lehrer Mertgen, eine noch wertvollere beim zweiten, die seiner Tochter Emmy Mertgen, eines wackeren Mädchens von seltener Verständigkeit und großer Energie, welche es denn auch, unterstützt durch die besten Kreise Bielefelds, durchgesetzt hat, daß ihr nach dem Tode des Vaters die Leitung der Schule trotz des Widerstrebens eines engherzigen Schulrates verblieb. Auch sonst war der zweimalige Aufenthalt in Wyk von großem Reiz. Wir wohnten natürlich am Strande der hier sehr ruhigen See, von ihr getrennt nur durch einen Promenadeweg und einen breiten Sandstreifen, in welchem die Kinder vom Morgen bis zum Abend vor unsern Augen aus Sand ihre Festungen mit Türen, Wällen und Gräben auszuführen pflegten. Am Abend wurde regelmäßig das Theater besucht, welches, wenn auch sonst nicht eben prima, doch den Vorteil gewährte, eine Reihe der besseren, schon anderweit bewährten Lustspiele für ein sehr mäßiges Eintrittsgeld kennenzulernen und zu genießen. Verschönt wurde der zweite Aufenthalt durch den amerikanischen Professor James Woods und den Inder Vishvanath Prabharam Vaidya, welche beide mich schon früher wiederholt in Kiel besucht hatten und jetzt mit mir den Aufenthalt in Wyk in gemeinsamer Arbeit teilten, woran sich dann der gleichfalls gemeinsame Besuch des Orientalistenkongresses zu Hamburg vom 4. bis 11. September 1902 anschloß.
Noch will ich aus dem Jahre 1902 einer in Berlin gefeierten Hochzeit gedenken, nicht, weil sie nach Zahl der Gäste, herrlichem Festmahl, theatralischen Aufführungen und dergleichen das größte und glänzendste Fest dieser Art war, dessen ich mich erinnere, sondern weil das junge Paar zu meinen liebsten Freunden gehört, bei denen ich mich in ihrem schönen Hause in Düsseldorf bei jedem Besuche so wohlfühle, wie nur irgendwo in der Welt. Die Braut war Elsa Volkmar, die Tochter meines Schwagers in Charlottenburg, und ich habe sie von frühester Kindheit an gekannt, Jahr für Jahr heranwachsen sehen und an ihrem intellektuellen, ungewöhnlich klaren und verständigen Wesen stets meine große Freude gehabt, ebenso wie an ihrem Gatten, Albert Herzfeldt, früher Mitbesitzer einer großen Baumwollspinnerei, aber von jeher von Sehnsucht erfüllt, alle seine Kräfte der Malerei widmen[325] zu können. Nach dem Tode des Vaters und dem Verkauf der Fabrik hat er mit unermüdlichem Eifer, großem Ernste und von Jahr zu Jahr steigendem Erfolge seine Kunst betrieben und vor einigen Monaten mich durch ein Brustbild Schopenhauers, von ihm für mich in Lebensgröße gemalt, erfreut.
Zu Ostern 1903 war es mir endlich einmal wieder möglich, eine größere Reise zu unternehmen und nach vier Jahren wieder einmal das geliebte Italien zu besuchen, um an dem Historikerkongreß in Rom teilzunehmen. Schon von Kiel aus hatte ich meinem Freunde Costa die bevorstehende Ankunft in Rom gemeldet, und in Pisa, während ich bei Freund Formichi weilte, erreichte mich über Kiel ein von meiner Frau mir nachgesandtes Telegramm, in welchem Costa mir mitteilte, daß Diotima, welche ich zehn Jahre vorher zusammen mit der Familie Mond auf Castell Gandolfo kennengelernt hatte, mich einlade, in ihrem Palazzo Wohnung zu nehmen. Am Morgen des 1. April kam ich in Rom an, bezog in Diotimas Palazzo ein vorzügliches Zimmer, sah zu Mittag und Abend an der reichbesetzten, stets mit Blumen geschmückten Tafel eine Reihe wissenschaftlich und künstlerisch hervorragender Persönlichkeiten, besuchte mit der Freundin den Kongreß und die übrigen Sehenswürdigkeiten in Rom und der Umgegend, freute mich an dem lebendigen Interesse, welches die Freundin meinen wissenschaftlichen Bestrebungen entgegenbrachte und fühlte mich von ihrem engelgleichen Wesen mächtig angezogen. Sie war nur ein Jahr jünger als ich, stammte ursprünglich aus Köln, war, da der gewöhnliche Lebensweg der Frauen ihrer hochstrebenden Natur nicht genügte, unverheiratet geblieben und hatte in dem Hause des berühmten Chemikers Dr. Ludwig Mond, mit dessen Gattin sie von Jugend an und das ganze Leben durch in inniger Freundschaft verbunden war, eine Art zweite Heimat gefunden, indem sie abwechselnd in England als Gast der Familie Mond weilte und dann wieder die Angehörigen dieser Familie während der Winterzeit als Gäste bei sich in Rom sah. Ich nannte meine Freundin Diotima, weil sie in der Tat in ähnlicher Weise anregend und inspirierend auf mich wirkte, wie die weise Frau aus Mantinäa auf den Sokrates. Eigentlich hieß sie Henriette Hertz, also geradeso wie die bekannte Freundin[326] Schleiermachers, ohne daß ich darum wünschen möchte, in Parallele mit Schleiermacher gestellt zu werden, dessen platonische Arbeiten ich zwar nach Gebühr zu schätzen weiß, der aber in der Philosophie das sehr zweifelhafte Verdienst hat, den ganz unhaltbaren Idealrealismus mit seiner Doppelwelt in Kurs gebracht zu haben, und der dann auch in der Theologie über Zweideutigkeiten und Halbheiten nicht hinausgekommen ist. Übrigens besteht auch noch der Unterschied, daß Schleiermachers Henriette Hertz eine Jüdin, die meinige aber sozusagen eine Christin war. Sozusagen, denn obgleich aus einem streng jüdischen Hause entsprungen, hatte sie doch von ihrer katholischen Amme heimlich und ohne Vorwissen der Eltern die Nottaufe erhalten. Ich fragte einmal einen mir befreundeten katholischen Geistlichen, ob ein solches Verfahren wohl Gültigkeit habe, und er erwiderte mit einer sehr charakteristischen Handbewegung: »Wenn es richtig gemacht worden ist, so gilt es auch.«
Die schönen Tage bei Diotima gingen zu Ende. Ein reger Briefwechsel wurde mit ihr die folgenden zehn Jahre hindurch unterhalten; von meinen Schriften mußte ich ihr die einzelnen Bogen, frisch wie sie aus der Druckerei kamen, immer zuschicken; sie ließ sie durch ihren Sekretär sogleich sorgfältig einheften und hat sie, wie ich mich noch oft überzeugen konnte, fleißig gelesen.
Am 22. Mai folgte ich der Einladung durch Rektor Muff zum Schulfeste nach Pforta, war Gast in seinem Hause und freute mich, dieselben Räume zu bewohnen, an welchen ich vierzig Jahre vorher so oft mit scheuer Ehrfurcht vorübergeschlichen war. Muff versah sein schweres Amt in jeder Hinsicht vortrefflich, aber die wissenschaftliche Höhe, auf welcher Pforta zu meiner Zeit gestanden hatte, war unter dem Druck des veränderten Zeitgeistes und der von oben eingeführten Reformen merklich gesunken.
Wie ich am Schlusse des Jahres 1902 in meinem Kalender notieren konnte, daß ich nunmehr den ersten Teil des Faust von Anfang bis zu Ende einschließlich der Walpurgisnacht und des Walpurgisnachttraumes auswendig wisse, so schloß ich das Jahr 1903 mit dem frohen Bewußtsein, jetzt auch vom zweiten Teile des Faust nebst einer Anzahl anderer Partien den fünften[327] Akt vollständig meinem Gedächtnisse anvertraut zu haben. Das Auswendiglernen, namentlich von Stellen in fremden Sprachen, hat mir von jeher Freude gemacht. Systematisch betrieb ich es erst seit Eintreten des Augenleidens, um mir so einen Schatz zu sichern, der auch beim Versagen der Augen mir stets zu Gebote stünde, lernte neben größeren Partien aus Sophokles, Horaz und andern Klassikern als Hauptübung auf meinen täglichen Spaziergängen vom Megaduta des Kalidasa die größere Hälfte mit vieler Mühe, aber auch mit großem Vorteil auswendig, denn durch nichts dringt man besser in eine Sprache ein, als durch dieses Memorieren, fühlte auch, wie das Gedächtnis in dem Maße, wie ich es übte, auch für andere Dinge sichtbarlich an Schärfe und Kraft zunahm, und so hätte ich am liebsten neben dem ersten auch den ganzen zweiten Teil des Faust auswendig gelernt, hätte ich nicht befürchten müssen, durch allzu große Belastung mein Gedächtnis mehr zu schädigen als zu kräftigen.
Das Jahr 1904 verlief seinem ersten Teile nach neben gelegentlichen kleinen Erholungsreisen nach Berlin in fleißiger und erfolgreicher Arbeit. Wie ich die zweite Abteilung meiner Philosophie der Inder erst nach Herstellung der Übersetzung der sechzig Upanishads hatte bauen können, so durfte ich jetzt die den Abschluß der indischen Philosophie bringende dritte Abteilung ins Auge fassen, mußte aber als Vorarbeit zu ihr die im Original allzu schwer übersehbaren philosophischen Haupttexte des Mahabharatam übersetzen, und hierzu bot sich eine willkommene Gelegenheit. Bald nach der Abreise von Freund Jahn im Jahre 1902 hatte sich, mit einer Empfehlung meines Schwagers Volkmar, ein junger Sanskritist eingestellt, mit welchem ich vier Jahre lang, von 1902 bis 1906, zusammen arbeiten konnte. Er hieß Otto Strauß, stammte aus Berlin und war in der Lage, sich ganz dem Luxusstudium des Sanskrit hingeben zu können. Gewissenhaft und pünktlich erschien er jeden Nachmittag, in den Ferien auch wohl am Vormittag, bei mir und wir beschlossen, nach einigen Vorbereitungen die vier philosophischen Texte des Mahabharatam in der Art ins Deutsche zu übersetzen, daß er mir die einzelnen Verse, während ich mit Ohr und Auge folgte, vorlas, welche ich dann mit ihm durchsprach und schließlich eine genaue, möglichst[328] wortgetreue Übersetzung, wie sie bis dahin noch in keiner Sprache bestand, ihm in die Feder diktierte. So entstand bis zum Jahre 1906 ein umfangreiches Werk, auf Grund dessen ich dann weiterhin in der Lage war, meine Philosophie der Inder fort- und bis zu Ende zu führen, wie noch zu berichten sein wird. Erst der August des Jahres 1904 brachte mir als willkommene Erholung vier aufeinanderfolgende Reisen.
Die erste ging nach Cambridge, wohin ich einer Einladung der British Association for the Advancement of Science folgte und dabei die Gastfreundschaft meines Freundes, des Sanskritprofessors Bendall, genoß.
Von Cambridge eilte ich über Utrecht und Frankfurt nach Badenweiler, um in dem herrlichen Hotel »Römerbad« einige frohe Tage mit Diotima und der Familie Mond zu verbringen und von hier aus den Religionskongreß in Basel zu besuchen, auf welchem ich am 29. August über Brahmanismus, Buddhismus und Christentum in Gegenwart der Freundin einen wohlgelungenen und auch wohlaufgenommenen Vortrag hielt, obgleich meine Mißbilligung des Missionierens unter Völkern, welche denselben religiösen Gedanken wie wir in einer andern, ihnen mehr angemessenen Form besitzen, in dem missionsfrohen Basel etwas anstößig, aber gerade dadurch besonders am Platze sein mochte. Von Badenweiler eilte ich, von der Freundin bis Freiburg begleitet, nach Hamburg, um vom 3. bis 20. September als Gast des Kaisers mit zehn andern Kollegen, unter ihnen Freund Hillebrandt aus Breslau, an einer Meteorfahrt zu den berühmten Badeorten Ostende, Insel Wight, Guernsey, Jersey, San Sebastian, Biarritz, Trouville, Brighton und Helgoland teilzunehmen.
Auf diese drei schönen Reisen folgte eine vierte nach Berlin. Bei dieser Gelegenheit machte ich im Straußischen Hause die Bekanntschaft von Miß Ada King, einer gewandten und geistig regsamen Engländerin, welche mich weiterhin auch in Kiel besuchte und meine Erinnerungen an Indien ins Englische übersetzte. Erst nach Jahren sind dieselben bei Nateson in Madras gedruckt worden.
Eine größere Reise wurde im April und Mai 1905 durch den Orientalistenkongreß in Algier veranlaßt. Ich holte Freund Jahn[329] in Bremen ab und fuhr mit ihm auf dem Bremer Lloyd nach Cherbourg, von wo aus der jetzt durch einen Damm mit dem Festland verbundene Mont St. Michel auf der Grenze zwischen der Normandie und Bretagne besucht wurde. Dann ging es über Paris nach Marseille und von dort auf einem überfüllten Dampfer der Transatlantickompagnie nach Algier. Der sehr mangelhaft organisierte Kongreß bot nur wenig. An ihn schloß sich eine Gesellschaftsfahrt nach Constantine und von dort in die Wüste nach Batna, der aus dem Sande wieder ausgegrabenen Stadt Timgat, der märchenhaft schönen Oase Biscra und der fast nur von Arabern und Berbern bewohnten Oase Sidi Okba; von hier ging es auf beschwerlicher Fahrt nach Tunis und dem benachbarten Karthago.
Mit Befriedigung sahen wir alles, was der Kardinal Lavigerie für die Ausgrabungen des alten Karthago und für die Unterbringung der Funde in wohlgeordneten Museumssälen geschaffen hat, aber mit Unwillen mußten wir bemerken, daß er gerade auf die Byrsa eine große Kirche gepflanzt und dadurch weitere Ausgrabungen sehr erschwert hat. Die Rückfahrt von Tunis nach Marseille auf dem großen, später untergegangenen »Général Chanzy« der Transatlantic war nichts weniger als angenehm. Obgleich ich schon wochenlang vorher brieflich und telegraphisch für uns zwei Kabinenplätze vorausbestellt hatte, wurden wir immer wieder mit unbestimmten Besprechungen abgefertigt, und als ich am Tage der Abreise unter einem Gedränge von Reisenden vor dem Schalter des Bureaus stand und unsere Retourbillette erster Klasse zur Abstempelung präsentierte, wurden sie statt einer Kabinennummer mit der empörenden Bemerkung: S.C. (sans couchette) versehen. So mußte ich denn mich mit einer der Matratzen begnügen, die in hinreichender Anzahl vorhanden waren, versuchte zunächst mich mit ihr, wie vordem auf der Reise nach Indien, auf dem Verdeck zu installieren, mußte aber, da ich jeden Augenblick nahe daran war, mitsamt meiner Matratze umgeblasen zu werden, diesen Kampf mit dem luftigen Elemente aufgeben, und es blieb nichts anderes übrig, als auf einer Hühnerleiter in einen großen, mit einer Stallaterne erleuchteten und wohl ursprünglich für die Aufbewahrung von[330] Waren bestimmten Raum unterzukriechen, und da verbrachte ich als Passagier erster Klasse zwei Nächte, umgeben von dreißig zum Teil seekranken Leidensgefährten. Eine solche Behandlung wäre auf einem deutschen Dampfer unerhört gewesen. Nach Paris zurückgekehrt, hatte ich die Freude, in der Wohnung von Bébé Kantschin, jetzt Madame Pellorce, zusammen mit ihrer Schwester Marianne, jetzt Baronin d^Hoguère, und meiner ehemaligen Herrin, der ehrwürdigen und sehr gealterten Madame Kantschin, zu frühstücken; damals sah ich diese Frau, von der in den vorliegenden Blättern so oft die Rede gewesen ist, zum letzten Male, denn sie ist bald darauf gestorben.
Über einige weitere Erlebnisse des Jahres 1905, die Pfingstferien, welche mir eine Kindtaufe in Potsdam, einen Besuch in Pforta und die alljährliche Feier der Goethegesellschaft in Weimar brachten, über einen sehr angenehmen Besuch von Freund Gjellerup und seiner Frau, welche eine Woche durch als Gäste in unserm Hause weilten, endlich über eine Fußtour von Hüsten aus mit vier jungen frischen Mädchen ins Sauerland, bei der wir auch die Bekanntschaft des Professors Kämper, früher Gymnasiallehrer, jetzt Einsiedler auf dem Heydberge, machten und in seiner einsamen Klause fern von aller Kultur einregneten, will ich kurz hinweggehen und nur noch einer interessanten Englandreise vom 29. September bis 21. Oktober gedenken. Zwei junge Engländerinnen, Schwestern und Besucherinnen meiner Vorlesungen, wollten nach England zurückkehren und wählten, da sie mit Gepäck stark beladen waren, der Billigkeit halber einen der kleinen von Hamburg bis direkt in das Herz von London fahrenden Dampfer der Kirstenlinie, auch Shakespearelinie genannt, weil ihre kleinen Schiffe den Namen von Mädchen aus Shakespearedramen tragen; es gibt da eine Portia, Nerissa, Jessika, Desdemona und sogar eine Ophelia trotz des ominösen Namens. Ich schloß mich ihnen an. Unser Schiffchen hieß Viola und sollte in zwei Nächten London erreichen; aber durch Nebel, dann durch Gegenwind, Regen und Unwetter kamen wir so langsam von der Stelle, daß ich nach zwei Nächten auf meine Frage, ob wir nicht bald die englische Küste sehen würden, vom Kapitän die Antwort erhielt: »Vorläufig sehen wir noch die deutsche Küste, es ist ja bei diesem[331] Wetter nicht vorwärtszukommen.« Endlich nach vier Nächten langten wir beim Tower in London an und ich begab mich sofort in ein befreundetes Haus, wo mich ein Telegramm von Diotima erwartete. Sie bewohnte mit der Familie Mond einen für die Sommerzeit gemieteten herrschaftlichen Landsitz, Holmewood-Castle, mit großem Park, eine Stunde von Tunbridge-Wells. Sie bot mir an, mich in London zu besuchen, ich aber kam ihr zuvor, reiste nach Tunbridge-Wells und verbrachte in der herrlichen Landschaft mit ihr einige höchst angenehme Tage. Dann riß ich mich mit dem Versprechen, die Familie später in London wieder zu treffen, los, fuhr nach Chester, um in der Umgegend von Llandodno und Bangor mit Professor Arnold einige Spaziergänge zu machen. Den 10. Oktober benutzte ich, um, von Arnold mit gutem Rate wohlversehen, den Snowdon, diesen höchsten Berg Englands, zu besteigen. In vierstündiger, überaus mühsamer Wanderung durch die ganz menschenleere Gegend auf wenig gebahnten Wegen, vorüber an Abgründen links und rechts, erreichte ich, während unheimliche Nebelgespenster hin und wieder vorüberhuschten, endlich den Gipfel und trat, nachdem ich mich, erschöpft wie ich war, in dem zum Glück noch nicht geschlossenen Hotel durch verschiedene Beefteas und Whiskys erholt hatte, ins Freie, um mich umzusehen, und hier wurde mir ein unvergeßlicher Anblick zuteil: über mir strahlende Sonne und wolkenloser Himmel, in welchem einige Berggipfel wie Inseln emporragten, und unter mir, so weit das Auge reicht, von der Sonne herrlich beglänzt, ein Wolkenmeer, in welchem die Umrisse von Flußtälern, Hügeln und Seen sich deutlich abzeichneten. Zum Glück fuhr an diesem Tage gerade noch zum letzten Male die Bergbahn nach unten und so erreichte ich wohlbehalten meine lieben Arnolds in Bangor und von dort aus London, um noch mehrere Tage als Gast Diotimas und der Familie Mond dort zu weilen. Eine lange gehegte Sehnsucht wurde durch Diotimas Güte erfüllt, indem sie mit mir Stratford-on-Avon, die Geburtsstadt Shakespeares mit der Kirche, die sein Grab einschließt, dem Geburtshause und der Anne-Hathaway-Cottage, besuchte, wobei der Haupteindruck auf mich der der Verwunderung war, wie ein so großer, weltumfassender Genius seine Jugendjahre in einem[332] Städtchen zubringen konnte, welches sich von hundert andern englischen Landstädten in nichts unterscheidet.
Nach Kiel zurückgekehrt benutzte ich den Rest des Jahres und den größten Teil des folgenden, um in fleißiger Arbeit mit Strauß die Übersetzung der Mahabharatatexte zu vollenden und in Druck zu geben, worauf mich der Freund nach vierjähriger treuer Mitarbeit verließ, um nach Berlin zu den Seinigen zurückzukehren.
Im übrigen brachte mir das Jahr 1906 einen zweimaligen Besuch Italiens und eine Fußwanderung durch Holstein mit den Kindern.
Die vier Texte des Mahabharatam waren abgeschlossen, und ich rüstete mich am 12. September zu einer Schweizerreise, um Werner und Anna beim Unterbringen ihrer beiden Töchter Minchen und Gretchen in einer Genfer Pension hilfreiche Hand zu leisten. Wir gelangten am Abend bis Bern, und da der ihm folgende 17. September ein wundervoller Sonnentag war, so setzte ich es durch, daß wir zwei Herbsttage zum Besuche des Berner Oberlandes verwendeten. Von Lauterbrunn und dem Staubbach aus erreichten wir unter mühsamem Aufstieg in glühender Sonnenhitze die Wengernalp, hörten während der Nacht die Lawinen von der nahen Jungfrau gegenüber herunterdonnern, sahen noch auf der kleinen Scheidegg den Zug mit winterlich vermummten Reisenden auf der Jungfraubahn abfahren, und kehrten abends wieder nach Bern zurück, um am nächsten Tage in Genf die Mädchen in der Pension unterzubringen, während ich mit Werner und Anna, der alten Genfer Zeit gedenkend, noch einige Tage in einer Pension am Quai du Mont Blanc verweilte. Am Tage ihrer Abreise stellte sich für mich eine andere liebe Begleitung ein, Albert und Elsa aus Düsseldorf, welche über Genua nach Sizilien fahren wollten. Im übrigen war die Gesellschaft in der Pension Hiller eine, wie man schonend zu sagen pflegt, sehr gemischte, und nur eine junge Frau von stillem, ernstem Wesen unterschied sich merklich von dem lärmenden Troß. Es war Elsa von Bülow, Gemahlin eines Richters vom internationalen Gerichtshofe zu Alexandria in Ägypten; wir fanden uns sehr bald, und groß war meine Freude,[333] als ich entdeckte, daß auch sie eine nahe Freundin von Diotima war. Sie begleitete mich bis Lausanne, um mit demselben Schiff zurückzukehren, während Albert und Elsa, die vorausgereist waren, wieder in Montreux mit mir zusammentrafen zur gemeinsamen Fahrt durch den eben eröffneten und daher stark besuchten, aber im Grunde wenig bietenden Simplontunnel nach Turin und Genua. Nach einigen schönen Fußwanderungen bis Chiavari hin brachte ich in Genua meine Freunde auf ihren Dampfer, blieb noch einige Tage bei Freund Jahn in Sestri Levante und fuhr dann, nach meiner Gewohnheit überall bei Freunden einkehrend, zunächst nach Pisa zu Freund Formichi, nach Genf, wo mich die Familie Oltramare als ihren Gast erwartete.
In Kiel bemächtigte sich meiner zunächst während der folgenden Monate ein Gefühl der Ebbe. Strauß, der langgewohnte Mitarbeiter, war abgereist, die wissenschaftliche Arbeit stagnierte, und obgleich dieser Zustand den Vorlesungen zugute kam, so war das Gefühl, Monat für Monat ohne Förderung meiner Lebensarbeit schwinden zu sehen, für mich schwer zu ertragen. Da sandte mir ein gütiges Geschick am 9. Januar 1907 einen neuen Mitarbeiter, welcher mir in der geschicktesten Weise vier Jahre hindurch bei meinen auf die Mithilfe fremder Augen angewiesenen Arbeiten half und auch seitdem in einer durch die veränderten Verhältnisse gebotenen Einschränkung geholfen hat bis auf den heutigen Tag. Es war Alfred Menzel aus Eckernförde, der sich, ursprünglich zum Elementarlehrer bestimmt, durch eigene Begabung und Energie zum Abiturientenexamen emporgearbeitet hatte und während seiner auf die Philosophie gerichteten Universitätsstudien immer mehr in Naturwissenschaften und Sprachen, nicht nur die klassischen und neueren, sondern auch das Arabische und Sanskrit, eingedrungen war, wodurch er eben, von seiner Lehrerin und Freundin, Frau Kapitän Hansen in Eckernförde, auf mein »System des Vedanta« aufmerksam gemacht, sich mir näherte. Ich hielt ihn fest, und bald war er mein täglicher Gehilfe. Zunächst erledigten wir einige kleinere Arbeiten, die am 2. Mai im Druck erschienene »Geheimlehre des Veda«, welche eine Sammlung aller wichtigeren Upanishadtexte für den allgemeinen Gebrauch zusammenfaßt, und am 2. Juni die »Outlines[334] of Indian Philosoph«, in denen ich durch Reproduktion eines im »Indian Antiquary« publizierten Artikels die indische Philosophie skizziert und an ihn einen Neudruck meines 1893 in Bombay gehaltenen Vortrags über den Vedanta angeschlossen hatte, welcher ein Bild der gegenwärtig in Indien herrschenden und tiefe Berührungspunkte mit der Lehre Kants und Schopenhauers bietenden Philosophie lieferte. Gleichsam zum Lohne für soviel Bemühungen wurde ich am 8. Juni 1907 vom Kaiser mit dem Geheimratstitel geschmückt, während inzwischen ungesäumt die dritte Abteilung meiner »Geschichte der Philosophie« in Angriff genommen worden war; die Philosophie der epischen Zeit wurde auf Grund der von mir übersetzten Mahabharatatexte und der ursprüngliche Buddhismus nach den ältesten Quellen bearbeitet. An diese schlossen sich die sechzehn philosophischen Systeme, von denen der Materialisten und Buddhisten als den schlechtesten bis hinauf zum Vedanta des Çankara als dem besten an, wobei mir ein geistvolles indisches Kompendium, der Sarva – Darcana – Sangraha des Madava (um 1350 p. Chr.) neben den Haupttexten der einzelnen Systeme als Führer diente. Anhangsweise bearbeitete ich, immer unter Menzels treuer Mithilfe, die Philosophie der Chinesen und Japaner, und so konnte im Sommer 1908 mein dritter Band als Abschluß meiner fünfunddreißig Jahre hindurch der indischen Philosophie gewidmeten Bemühungen erscheinen, gerade zur rechten Zeit, um auf den vier Kongressen dieses Jahres überreicht zu werden.
Neben dieser intensiven Arbeit der Jahre 1907 und 1908 mögen die zur Erholung eingelegten Reisen, zu Ostern 1907 eine Fußwanderung mit den Herzfelds und Freund Gotthelf durch das Aartal, zu Pfingsten eine Radfahrt mit Menzel nach Flensburg, Düppel und durch die Insel Alsen und zum Herbst eine Reise nach England, kurze Erwähnung finden. Auf der letzteren hatte ich meine Frau und die dreizehnjährige Erika nach London mitgenommen, hatte mit Erika jenen Abstecher nach Burton-Breadstock zu dem schon obenerwähnten Besuche Sturdys auf seinem Landgute gemacht, hatte dann Frau und Tochter zum Schulanfang nach Deutschland zurückgeschickt und war selbst der Einladung von Diotima und Frau Dr. Mond zu einem[335] neuntägigen Besuche in Harrogate, einem Badeorte im nördlichen England, gefolgt. Trotz der fürstlichen Unterkunft im Hotel Prince of Wales und dem angenehmen Verkehr mit Diotima und der ziemlich vollzählig versammelten Familie Mond konnte es doch zu keiner recht freudigen Stimmung kommen, da der hochverdiente alte Freund Mond schwer leidend war und über die Art der richtigen Behandlung zwischen den beiden edlen Frauen, die sich in seiner Pflege überboten, eine volle Verständigung nicht erreicht werden konnte. Frau Dr. Mond konnte nicht genug Medikamente und Ärzte, deren zwei täglich zweimal den leidenden reichen Mann nur zu gern besuchten, an ihren Gatten heranbringen, Diotima aber rief: »Fort mit den Ärzten, fort mit der Medizin, die Natur wird auch hier Linderung und Heilung bringen.« Tatsache ist, daß der treffliche alte Freund sich im nächsten Jahre noch einmal erholte, um im übernächsten ziemlich schnell und unerwartet am 11. Dezember 1909 seinem Leiden, einer Verkalkung der Adern, wie man hinterher sagte, zu erliegen.
Das Jahr 1908 verlief in gewohnter Arbeit, in welche nicht nur der übliche Gesellschaftsverkehr in Kiel, sondern auch einige größere Feste eine angenehme Abwechslung brachten. In den Osterferien besuchte ich meine verwitwete Schwägerin in Marburg, dann meinen Bruder in Hüsten, wo ich zum Besten des Kindervereins einen sehr besuchten Vortrag hielt, und schließlich Frankfurt, um am 21. April die Hochzeit meines Neffen Willy Deussen im Englischen Hofe mit allem Glanze zu feiern. Eine zweite Hochzeit meiner Nichte Toni Volkmar führte mich am 11. Juni nach Berlin und von dort zur Goethefeier nach Weimar, wo ich in vier Vorstellungen zu je drei Stunden beide Teile des Faust genoß, aber, trotz alles Schönen und Neuen, welches sie boten, doch der früher einmal besuchten Aufführung des zweiten Teiles im Deutschen Theater zu Berlin den Vorzug geben möchte. Es ist ja ein Löbliches, den Faust auch für die Bühne zurechtzustutzen, aber den vollen Genuß der Dichtung kann man bei ihrer Eigenart niemals im Theater, sondern stets nur bei einer von den nötigen Erklärungen begleiteten Rezitation des Werkes haben, wie ich sie jedes zweite Jahr an der Universität zu Kiel darzubieten pflege.[336]
Der am meisten hervortretende Charakterzug des Jahres 1908 waren die vier schon erwähnten im Herbst aufeinanderfolgenden Kongresse, der Historische zu Berlin, der Orientalische zu Kopenhagen, der Philosophische zu Heidelberg und der Religionskongreß zu Oxford. Da meine eben mit der dritten Abteilung zum Abschluß gebrachte »Philosophie der Inder« zu allen vier Kongressen in nächster Beziehung stand, so beschloß ich, sie alle vier zu besuchen und auf jedem mein Werk in schön gebundenen, vom Verleger liberal zur Verfügung gestellten Exemplaren mit einer Ansprache zu überreichen. In Berlin hob ich die Bedeutung der Philosophie als des Generalbasses der allgemeinen Weltgeschichte, wie Schopenhauer sagt, hervor; in Kopenhagen gab ich in der großen Hauptversammlung in Gegenwart des Königs der Freude darüber Ausdruck, das in seinen Teilen und ergänzenden Zutaten Hand in Hand mit den Kongressen zu London 1892, Genf 1894, Paris 1897 und Rom 1899 emporgewachsene Werk nunmehr vollständig in einem germanischen, stammverwandten Lande überreichen zu können. Verschönt wurde der Aufenthalt in Dänemark durch die Gegenwart Diotimas, welche auf meinen Wunsch von London herbeigeeilt war. Hier machte ich auch zuerst die persönliche Bekanntschaft von Dr. Paul Carus, Herausgeber des Openkoort und des Monist zu Chikago, eine Bekanntschaft, welche sich auf dem dritten Kongreß zu Heidelberg zur Freundschaft entwickelte. Den vierten Kongreß feierte ich mit Frau und Tochter als Gast von Mrs. Max Müller in Oxford, von wo wir uns nach London begaben und, in stetem Zusammenhang mit Diotima, zweimal eine Woche mit dem wiederhergestellten Dr. Ludwig Mond auf dem herrlichen Combe Bank, dem Landsitz seines Sohnes Robert, verlebten.
Nach Abschluß meiner dritten Abteilung nahm ich mit einer gewissen Wehmut Abschied von der langjährigen Beschäftigung mit der Philosophie der Inder, fand aber Ersatz in der Rückkehr zu einer alten Jugendliebe, indem ich mich, von den vier Kongressen heimgekehrt, mit Feuereifer und immer durch Menzel aufs glücklichste unterstützt, auf die Ausarbeitung der als vierte Abteilung meiner allgemeinen Philosophiegeschichte vorausbestimmten »Philosophie der Griechen« warf. Ich nahm meine[337] alten Aufzeichnungen wieder vor, und indem ich sie mit der größten Freude an dieser Arbeit redigierte, ergänzte und fortführte, entstand von Oktober 1908 bis März 1911 ein Werk, welches mit ungeteiltem Beifall aufgenommen wurde und mir viele neue Freunde erworben hat. Im April 1911 konnte ich zum Philosophenkongreß zu Bologna die ersten fertigen Exemplare mitbringen.
Gegen die Bedeutung des inneren Lebens dieser Jahre traten die äußeren Ereignisse zurück, und ich will nur das Wesentlichste davon kurz erwähnen.
Ostern 1909 fand mich mit Erika in Düsseldorf, während Wolfgang durch Regierungsrat Tackmann nachgebracht wurde. Ich ließ ihn in Düsseldorf bei seinen Halbkusinen oder richtiger Halbnichten, fuhr mit Albert, Karl, dem trefflichen Bruder Alberts, und Erika nach Niederlahnstein und von dort weiter nach Wetzlar, um dann das im Fluge durchfahrene Lahntal zurück zu Fuß zu durchwandern, wobei mein mitgenommenes Rad mir und stellenweise auch den andern eine angenehme Abwechslung bereitete. Schloß Braunfels wurde besichtigt und Weilburg erreicht, von wo ich für mich allein nach Biskirchen radelte, um den Karlsprudel kennenzulernen, den ich schon manches Jahr vorher und nachher bis auf den heutigen Tag als Getränk bevorzugt habe. Ich wurde sehr freundlich empfangen und in den tiefliegenden Raum geführt, wo einige Mädchen beschäftigt waren, die an einer Kette ohne Ende herunterkommenden Flaschen unmittelbar aus der sprudelnden Quelle zu füllen und auf demselben Wege gefüllt wieder heraufbefördern zu lassen. Indem ich noch den sinnreichen Mechanismus bewunderte, fühlte ich eine ungewohnte Beklemmung auf der Brust und fürchtete schon, mich beim Radfahren übernommen zu haben. Aber sobald ich die Treppe hinaufstieg, war die Beklemmung verschwunden, und ich merkte nun, daß es nur die im unteren Raume reichlich vorhandene Kohlensäure war, welche mir diese Beschwerden verursacht hatte. Wundern muß ich mich, wie die füllenden Mädchen den stundenlangen Aufenthalt in dieser Atmosphäre ertragen.
Von Weilburg ging es über Limburg und Diez vorbei an Fachingen, welches wegen des Karfreitags geschlossen war, nach dem schönen Nassau und von dort am folgenden Tage[338] über Ems nach Niederlahnstein und mit der Bahn nach Düsseldorf zurück. Am ersten Ostertage wurden natürlich die Ostereier gesucht, am zweiten aber nahm ich meine beiden Kinder mit mir, um ihnen Oberdreis, den Geburtsort ihres Vaters, zu zeigen. Die Fahrt ging zunächst nach Kelzenberg, wo die Kinder in den Häusern meines Cousins Heinrich Deussen und seines Sohnes mehrere Tage hindurch an einem wilden Bullen und einem jungen Füllen, am Pumpen des Wassers und Melken der Kühe großes Interesse nahmen. Dann fuhren wir von Jüchen, wo wir einen Blick in das nunmehr in andere Hände übergegangene Haus des Ohm Wilhelm Heinrich mit seinen reichen Jugenderinnerungen warfen, nach Köln, Au, Altenkirchen und von da zu Fuß durch Feld und Wald, bis wir von der Höhe in Abendbeleuchtung Oberdreis vor uns sahen. Da dort kein Unterkommen zu haben ist, wanderten wir, auf der Höhe bleibend, über Steimel nach Puderbach und von dort am nächsten Morgen zurück nach Oberdreis, um den größeren Teil des Tages hier zu verbringen. Wir fanden im Pfarrhause freundliche Aufnahme, besuchten die Kirche, wo gerade eine Trauung war, die Schule, das Haus des längst verstorbenen Juden Anschel, die Ölmühle, die Töpferwerkstatt, und ich konnte mehreren meiner Jugendgespielen, die inzwischen alte Leute geworden waren, mit freudigem Stolz meine beiden Kinder vorstellen. Nach Puderbach zurückgekehrt, konnten wir, jetzt bequemer als vordem, mit der Bahn über Dierdorf und Engers Neuwied erreichen, wo ich aus alter Anhänglichkeit im Nassauer Hof abstieg, einmal und nicht wieder, denn ich mußte bemerken, daß die Welt nicht nur durch Eisenbahnen und ähnliche Verkehrsmittel fortschreitet, sondern auch zurückschreitet, denn das zu meines Vaters Zeiten ganz respektable Hotel war zu einer Fuhrmannskneipe herabgesunken.
In den Pfingstferien 1909 fuhr ich mit Menzel und Wolfgang zu Schiff nach Korsör und von da zu Rad nach Kopenhagen, welches dann mit allen Merkwürdigkeiten, Tivoli nicht zu vergessen, besichtigt wurde. Daß wir durch die schöne Gegend immer am Sund entlang auch nach Helsingör radelten und von dort die Hamletterrasse mit ihren Erinnerungen besuchten, bedarf als selbstverständlich wohl kaum der Erwähnung.[339]
Seid dem Tode Ludwig Monds schloß sich Diotima, ihres edlen Beschützers und Beraters entbehrend, noch enger an mich an, und es sind seitdem bis zu ihrem Tod am 9. April 1913 keine Osterferien oder Herbstferien verstrichen, in denen ich nicht kürzer oder länger die Freude ihrer anregenden Gesellschaft genossen hätte.
So folgte ich zunächst Ostern 1910 ihrer Einladung nach Rom, fuhr am 17. März von Kiel ab und gelangte, fast immer bei Freunden absteigend, über Marburg, Boppard und Mannheim nach Sestri Levante, nach Pisa und schließlich nach Rom, wo ich die beiden edeln Frauen noch im frischen Schmerze über den Tod des Freundes fand und in Diotimas herrlichem Palazzo für einige schöne und inhaltreiche Wochen Wohnung nahm, um Ende April rechtzeitig zu den Vorlesungen nach Kiel zurückzukehren.
Jm Laufe des Sommers stellte sich ein junger Inder, Prabhu Datta Shastri, in Kiel ein, um mit mir zu studieren und den Doktorgrad zu erwerben, welches denn auch nach Jahr und Tag, trotz seiner mangelhaften Kenntnis des Deutschen, unter vielen Schwierigkeiten glücklich gelungen ist. Ich nahm mich seiner treulich an, machte mit ihm Ende August eine Tour durch Seeland per Rad nach Kopenhagen, schickte ihn am 6. September nach Berlin voraus, wo ich kurz darauf mit ihm zusammentraf und nach München fuhr. Hier hatte sich eine Sache vorbereitet, welche auch für mich weitreichende Folgen haben sollte. Der Verlag von Piper & Co. hatte den Plan gefaßt, eine neue, absolut korrekte Schopenhauer-Ausgabe zu veranstalten, welche alles enthalten sollte, was außer den schon bei Brockhaus durch Frauenstädt und bei Reclam durch Grisebach gedruckten Werken an handschriftlichem Nachlasse irgend erreichbar war. Ich zögerte mit Rücksicht auf Brockhaus, die Herausgabe zu übernehmen, und unterschrieb den Kontrakt erst, nachdem ich meinem langjährigen Hauptverleger Gelegenheit gegeben hatte, sich zur Sache zu äußern; er begrüßte dieses Konkurrenzunternehmen freundlich und wünschte mir Glück dazu. Es war eine Hauptfreude dieser Reise, sein Antwortschreiben mit Diotima durchzusprechen. Ich hatte sie nach meiner Abreise von München in Wiesbaden besucht, sofort war sie bereit, mit mir eine Wallfahrt nach Frankfurt zu Schopenhauers Grab zu unternehmen, und so fuhren wir denn auch am[340] 5. Oktober in genußreichster Fahrt zusammen nach Boppard, auf einem Rheindampfer nach Honnef in ihre dortige, der Familie der Schwester seit Jahren zur Benutzung überlassene Villa, wo wir denn beide begreiflicherweise mit höchsten Ehren aufgenommen wurden. Doch nicht lange hielt es mich dort, denn eilig mußte ich über Düsseldorf und Kiel, von wo ich Wolfgang mitnahm, nach Berlin zur Feier des hundertjährigen Jubiläums der Universität vom 10. bis 12. Oktober reisen, wozu ich als ehemaliger Privatdozent und Professor der Friedericia-Guilhelma eine Einladung erhalten hatte. Mit großem Interesse nahm ich an dem vorzüglich organisierten Feste mit seinen Sitzungen nebst Domfeier, Fackelzug, Festmahl, Volksbelustigung, Theatervorstellungen und Riesenkommers teil, schickte dann Wolfgang nach Kiel zurück und machte selbst noch einen Besuch in Königsberg, in der Neumark, um sodann über Stettin nach Kiel zur Arbeit zurückzukehren.
Ungesäumt nahm ich, unterstützt von einer Reihe jüngerer Kräfte für die neue Ausgabe, die Redaktion der »Welt als Wille und Vorstellung« vor, so daß der erste Band schon Ostern, der zweite im Spätherbste 1911, beide mit textkritischen Anhängen und Zitatenübersetzung in prachtvoller, fast luxuriöser Ausstattung erscheinen konnten. Die neunundzwanzig Manuskriptbücher, welche auf der Königl. Bibliothek in Berlin jedem zugänglich sind, wurden unter Mockrauers Mithilfe, dem ich die Leitung der Berliner Filiale übertrug, fleißig benutzt und eine Abschrift aller dort liegenden Materialien in Angriff genommen. Schwieriger war es, die wegen der handschriftlichen Zusätze Schopenhauers unentbehrlichen, von Frauenstädt nur unzulänglich, von Grisebach, da sie ihm vorenthalten wurden, gar nicht benutzten Handexemplare zu erlangen. Sie waren, im ganzen sechzehn Bände, von Hand zu Hand weiterverkauft worden, und ihr gegenwärtiger Besitzer, ein Referendar G. in Leipzig, war unbekannt, da er der den Kauf vermittelnden Buchhandlung Schweigen auferlegt hatte. Durch zahlreiche Briefe, zuerst anonym und durch Vermittlung des Buchhändlers, dann, als sein Name von Bonn und Berlin aus mir zugeflüstert war, auf direktem Wege, beschwor ich den glücklichen Besitzer, uns seinen Schatz für unsere Ausgabe anzuvertrauen, lange Zeit ohne Erfolg, bis es mir[341] Ostern 1912 gelang, ihn persönlich in Leipzig zu treffen und die sechzehn Bände der Handexemplare leihweise nach Kiel zu erhalten. Über ein Jahr habe ich sie in meinem Hause gehabt und von Anfang bis zu Ende abschreiben lassen, hätte sie auch behufs der Drucklegung gern noch länger behalten, wäre nicht der immer ungeduldiger sich gebärdende Besitzer am 22. Juli 1912. zum allgemeinen Schreck persönlich in meinem Hause erschienen, um mit Ungestüm die letzten, noch in meinen Händen befindlichen Bände zurückzufordern. Ich müßte mir wohl Vorwürfe machen, ihm sein Eigentum durch allerlei Vertröstungen, Listen und Künste so lange vorenthalten zu haben, läge nicht hier ein Fall vor, wo wirklich einmal der Zweck die Mittel heiligte.
Mit dem 16. Februar 1911, wo wir, abgesehen von der silbernen Hochzeit, unsere letzte Gesellschaft gaben, geriet der bis dahin mit den Familien der Kollegen und andern nach Möglichkeit unterhaltene gesellige Verkehr ins Stocken. Schon seit einiger Zeit hatte meine Frau, wenn sie, wie gewöhnlich, meine Vorlesung mit mir besuchte, einige Beschwerden beim Atmen, und diese steigerten sich nach einer Gesellschaft bei Lüthje am 28. Februar so sehr, daß sie nicht imstande war, die kleine Steigung von dort zu meiner Wohnung zu überwinden, und ich sie mit einigen Bekannten unterwegs stehenlassen mußte, um einen Wagen zu holen. Ich fand es geraten, sie für zwölf Tage nach dem Krankenhaus Quickborn zur Beobachtung und gründlichen Untersuchung durch Lüthje zu schicken, welcher einen Herzklappenfehler konstatierte und für den Sommer möglichste Ruhe verordnete.
Meine Frau blieb denn auch den ganzen Sommer durch oben in ihrem schönen großen Zimmer, war im übrigen in heiterer Stimmung, empfing Besuche und schrieb Briefe, da die bei ihr so häufigen melancholischen Anwandlungen in den Hintergrund getreten waren. Erst mit der silbernen Hochzeit trat eine Wendung zum Schlimmeren ein, von der noch zu berichten sein wird.
Inzwischen war ich am 21. März mit Erika von Kiel nach Berlin und von dort am 27. März weiter nach Leipzig gefahren, wo wir mit der Familie Brockhaus einen angenehmen Tag verlebten, die ersten fertigen Exemplare der »Philosophie der Griechen« zur Überreichung auf dem Kongreß zu Bologna mit uns nahmen.[342]
In Bologna freuten wir uns des Philosophischen Kongresses und des Wiedersehens mit so vielen Bekannten; ich hielt meinen Vortrag, leitete teilweise die Sitzungen meiner Sektion und wurde denn auch zu dem zu Ehren der Delegierten veranstalteten Festmahl eingeladen. Ich saß zwischen einem Bologneser Ratsherrn und dem mir befreundeten Geheimrat Kohler aus Berlin. Mit letzterem besprach ich eine Angelegenheit, die mich auf Grund von Anregungen von verschiedenen Seiten her schon länger beschäftigt hatte, nämlich die Gründung einer Schopenhauer-Gesellschaft, und er erbot sich, nicht nur mit mir in das Kuratorium einzutreten, sondern auch als Schatzmeister unserer Gesellschaft den ihm bekannten Direktor der Deutschen Bank und Mitglied des Herrenhauses, Arthur v. Gwinner, bei den nahen Beziehungen zwischen dessen Vater und Schopenhauer zu gewinnen. Wir haben denn auch diese Gesellschaft am 30. Oktober 1911 mit dem Sitz in Kiel gegründet; sie ist in kurzer Zeit mächtig emporgeblüht, hat für 1912, 1913 und 1914 drei an Umfang immer wachsende Jahrbücher veröffentlicht und hat auf den drei zu Pfingsten 1912 zu Kiel, 1913 zu Frankfurt und 1914 zu München bisher stattgefundenen Generalversammlungen, nicht zu reden von dem überaus glänzenden Verlaufe derselben, zu einem näheren Zusammenschluß der gegenwärtig 430 Mitglieder geführt und mir in der Nähe und Ferne viele warme Freunde erworben, freilich auch viele Mühe und Arbeit gemacht, da die Last der ganzen Leitung fast ausschließlich auf meinen Schultern ruht.
Am 12. April 1911 fuhr ich mit Erika von Bologna in überfülltem Kupee nach Rom zu Diotima; auch Prabhudatta hatte sich uns angeschlossen und fand für die Tage seines Bleibens in Diotimas Palazzo ein freundliches Unterkommen, während ich, wie gewöhnlich, einige Wochen blieb und meine Freude daran hatte, meiner sechzehnjährigen Tochter die Herrlichkeiten Roms teils selbst zu zeigen, teils durch andere zeigen zu lassen. In Eilmärschen kehrten wir dann gegen Ende April über München, Koblenz und Düsseldorf nach Kiel zurück. Hier konnte ich mich nunmehr von 1911 bis 1913 einer Arbeit widmen, welche eine Kopf und Herz seit meiner Jugendzeit wie keine andere beschäftigende und quälende Frage behandelte und in meiner am[343] 30. September 1913 erschienenen »Philosophie der Bibel« ihre für mich endgültige Lösung fand. In diesem Werke habe ich einerseits, voller vielleicht, als es je vor mir geschehen ist, der historischen und naturwissenschaftlichen Kritik ihr Recht gegeben und es doch möglich gemacht, das Christentum gerade in seinen tiefsten, von der liberalen Theologie oft genug verleugneten Erkenntnissen zu retten, welches auf keinem andern Wege geschehen kann, als durch den von Kant unerschütterlich begründeten und erst von Schopenhauer in seiner vollen Tiefe und Bedeutung für Philosophie und Religion gewürdigten Idealismus.
Am 5. August 1911, eben nach Abschluß der Vorlesungen, erschien Diotima in Kiel, um als hochwillkommener Gast am 16. August das große Fest der silbernen Hochzeit mit uns zu feiern. Es war, als wenn dieses Fest mit all seinen schönen Veranstaltungen, der Musik am frühen Morgen, den zahlreichen Besuchen Glückwünschender, den Spenden an Blumen und herrlichen Geschenken, der Aufführung einer Oper, welche von Herrn Stolze und Fräulein Kritzler, die in der Blüte der Jahre kurz darauf starb, gesungen wurde, – es war, als wenn dieser schöne Tag die Besiegelung unseres fünfundzwanzigjährigen Eheglücks und zugleich dessen Abschluß bilden sollte. Am folgenden Tage fühlte sich meine Frau sehr elend und hat sich trotz aller Sorge durch die Ärzte, trotz einem zehnmonatlichen Aufenthalt in der Nervenklinik und nachfolgender Pflege durch eine besondere Pflegerin nicht wieder erholt, und obgleich ich nicht müde wurde, ihr Mut einzusprechen und auch für mich die Hoffnung auf Genesung immer noch festhielt bis zum Neujahrstage 1914, wo ich sie zum letzten Male lebend sah und auch mich bei ihrem Anblick der Mut verließ, ist sie am 2. Januar 1914, morgens 51/2 Uhr, sanft und ohne Kampf von ihrem Leiden erlöst worden.
Ruhig und unter erfreulich fortschreitender Arbeit an der »Philosophie der Bibel« verlief die Zeit bis Ostern 1912, wo ich mich rüstete, über Berlin und Leipzig, München und Innsbruck nach Rom zu fahren und mit Diotima verabredetermaßen den Orientalistenkongreß in Athen zu besuchen. Wir fuhren am 3. April nach Brindisi und von dort zwei Tage später auf einem kleinen griechischen Dampfer über Korfu und vorbei an der damals[344] noch türkischen, im herrlichen Sonnenschein vor uns liegenden Küste von Epirus durch den Golf von Korinth und den für kleinere Schiffe zugänglichen Kanal des Isthmus direkt nach Athen. Vom Kongresse selbst, der wegen des Zusammentreffens mit dem Universitätsjubiläum sehr unordentlich geleitet wurde, habe ich nur wenig gesehen, doch einige wertvolle Bekanntschaften gemacht. Die interessanteste war jedenfalls die des Königs. Er gab im Palaste des Kronprinzen einen Empfang, zu dem auch ich als Delegierter eingeladen war, und hier stand König Georgios zwanglos und von Orientalisten umschwärmt in der Mitte eines großen, doch mehr behaglich als luxuriös ausgestatteten Saales. Mein alter Bekannter, Professor Lambros, zeitiger Rektor der Universität und Präsident des Kongresses, stellte mich dem König vor, und ich hatte mit diesem eine längere, sehr angenehme Unterhaltung. Schon am 12. April, während noch der Kongreß tagte, verließen wir Athen und fuhren mit zusammengestellten Rundreisebilletten, in welchen Eisenbahnen, Dampfschiffe, Wagen, Pferde zum Ritt auf Akrokorinth und Hotels nach Tag und Stunde aufs beste vorgesehen waren, zunächst nach Mykene, wo ich auf der Höhe zwischen der Burg und dem Trümmerfeld der Stadt an passendster Stelle den hier spielenden Eingang der Electra des Sophokles mit Diotima zusammen las. Drei griechische Knaben blickten mir über die Schulter ins Buch, ich ließ sie lesen, welches sie ganz richtig ausführten, und, bei der nahen Verwandtschaft des Neugriechischen mit der alten Sprache, wie ich annehmen darf, auch dem Inhalt nach richtig verstanden haben. Von Mykene ging es nach Argos über Tiryns mit seinen kolossalen Mauern und Gewölben nach Nauplia, von wo wir in langer, ermüdender Wagenfahrt durch teilweise öde Gegenden Epidauros und sein berühmtes Theater erreichten. Wir stiegen zu den höchsten Sitzen hinauf, wo gerade auch einige Engländerinnen herumkletterten, und ich forderte Diotima auf, stehenzubleiben, um die Akustik zu prüfen, während ich zur Bühne hinuntereilte, um dort etwas vorzutragen. Jetzt werden wir wohl »Die Wacht am Rhein« zu hören bekommen, sagten die englischen Gänschen. Ich rezitierte einiges aus Äschylos und Sophokles ohne besondere Anstrengung der Lungen, und es war[345] trotz der kolossalen Entfernung auch auf den obersten Sitzen vollkommen zu hören.
Von Nauplia fuhren wir am Sonntag, den 14. April, nach Korinth, wo schon unsere Pferde bereitstanden zum Ritt nach Akrokorinth, wo ich vor so viel Jahren einen so entzückenden Tag verbrachte, daß ich der Aussicht von oben vor allen andern mir bekannten den Preis zuerkennen muß. Für den Aufenthalt in dem sehr primitiven Hotel mit dem volltönenden Namen Phoibos Apollon, in dem kein Spiegel gerade hing und keine Schublade richtig aufging, entschädigten uns die herrlichen Ausgrabungen, der Wagenlenker, die Sphinx u.a. und ein langes Sitzen auf den Marmortrümmern, währenddessen Diotima mir den größten Teil der Electra auf deutsch vorlas. Vielleicht war es das viele Herumklettern oder das lange Sitzen, welches mir einen in seinen Vorboten schon länger drohenden Gichtanfall eintrug, der von allen seit zweiundzwanzig Jahren gehabten der scheußlichste, aber, wie ich hoffe, auch der letzte gewesen ist, da ich infolge desselben auf Lüthjes Rat Fleisch und Alkohol gänzlich verschworen habe und nun schon über zwei Jahre ohne merkliche Beschwerden geblieben bin. Übrigens hatte die Sache damals das Gute, daß Diotima ihre ganze mit Energie gepaarte Engelsgüte entfalten konnte. Von Delphi über Itea nach Patras und von dort über Korfu mit mir in Brindisi angelangt, verzichtete sie auf einen projektierten Aufenthalt in Neapel, fuhr mit mir direkt nach Rom, wo die telegraphisch vorausbestellte Medizin bereitstand, worauf ich nach acht Tagen wieder auf meinen Füßen gehen und stehen konnte wie ein anderer Mensch.
Den Sommer 1912 hatte ich noch viel mit der Drucklegung der Parerga zu tun, bis mir am 22. Juli die Handexemplare von ihrem Eigentümer, wie schon oben erzählt, gleichsam mit Gewalt entrissen wurden; zugleich arbeitete ich emsig an der »Philosophie der Bibel«, wobei mir neben andern besonders Freund Talma aus Utrecht den ganzen August durch, wo die meisten Mitarbeiter nicht zu haben waren, die wertvollste Hilfe leistete. Zur Erholung unternahmen wir am 31. August die Fahrt nach Korsör und von da über Sorö zu Rad nach Roeskilde, um nach viertägigem Aufenthalt in Kopenhagen, mit gänzlich verregneter Tour nach[346] Helsingör, nach Kiel zurück und von da zusammen nach Bremen zu fahren. Hier entließ ich Freund Talma mit dem Versprechen, mich eine Woche später in Leyden wieder zu treffen, holte Freund Jahn ab und fuhr mit ihm über Amsterdam zum Religionskongreß nach Leyden. Der Kongreß brachte neben einigen Anregungen auch manche Bekanntschaft, namentlich Miß Marshall und Professor Pestalozzi, welche beide ich im nächsten Jahre in Mailand wieder getroffen habe. Der schönste Tag brachte eine gemeinsame Rundfahrt auf dem Hafen zu Rotterdam und ein ihm folgendes glänzendes Festmahl im Haag. Am 15. September fuhr Freund Jahn ab und gleichzeitig kam Talma an, um das freigewordene Zimmer unter dem meinigen einzunehmen. Ich besuchte mit ihm Rheynsburg mit dem Spinozahäuschen, Nymwegen und Rotterdam und fuhr, von ihm noch ein Stück Wegs geleitet, über Osnabrück nach Berlin, wo Diotima mich erwartete und in dem großen und schönen Hotel Adlon ein Zimmer für mich bereitgestellt hatte. Hier lernte ich in den nächsten Tagen ihren Berliner Bekanntenkreis kennen, unter welchem die vielseitige und geistvolle Frau Professor Lepsius, die vortreffliche Frau Kapitän Hildebrandt und Gretchen Bruch mir in angenehmster Erinnerung sind.
Mit größter Lust gab ich mich in den folgenden Monaten der Ausarbeitung meiner »Philosophie der Bibel« hin. Sie war mein letzter Gedanke, wenn ich zu Bett ging, und mein erster, wenn ich morgens erwachte, und oft sprang ich noch im tiefsten Negligé herunter, um einen Gedanken, für den ich gerade eine glückliche Fassung hatte, zu Papier zu bringen. Ende Januar 1913 konnte ich das letzte Manuskript an Brockhaus absenden.
Inzwischen waren aus Rom durch den wie immer regen Briefwechsel mit Diotima Nachrichten zu mir gelangt, welche, ohne mich weiter zu beunruhigen, doch nicht ganz erfreulich klangen. Die Freundin, sonst immer von fester, fast robuster Gesundheit und wenig geneigt, krankhaften Regungen bei sich oder bei andern Gewicht beizulegen, fing an zu kränkeln und ging mitten im Winter nach St. Moritz, weniger wohl um des Schneesports willen, als um den Anstrengungen der Geselligkeit in Rom aus dem Wege zu gehen. In ihren Briefen mokierte[347] sie sich über das Tun und Treiben der dort zusammengewürfelten Gesellschaft, hoffte auf ein Wiedersehen mit mir in Rom und nahm dem Arzt das Versprechen ab, sie zum Zwecke desselben schleunigst gesund zu machen. Herzlicher noch als gewöhnlich lud sie mich zum Besuche ein, und so fuhr ich am 18. März zunächst nach Düsseldorf, wo ich in Alberts Atelier ihm und einem talentvollen, das benachbarte Atelier innehabenden Maler scherzweise die Aufgabe stellte, innerhalb einer Stunde zwei Brustbilder von mir in Kreide oder Kohle herzustellen. Es entstanden zwei wohlgelungene Porträts, welche ich als meine Vorläufer an die Freundin in Rom sandte. Erst in Mannheim trafen mich Telegramme und Briefe beunruhigender Art. Ich antwortete, daß ich erst später habe ankommen wollen, aber auch bereit sei, wenn es gewünscht werde, sofort nach Rom zu fahren, und erhielt die telegraphische Mitteilung, daß die Freundin mich möglichst bald zu sehen wünsche. Am Morgen des 2. April traf ich in Rom ein, wo Frau Dr. Mond mir ihre herrlich eingerichteten Privatsalons zur Wohnung anwies, da alle übrigen Zimmer des Palazzo Zuccari von Freunden und Verwandten eingenommen wurden, welche auf die Nachricht von Diotimas Erkrankung herbeigeeilt waren. Sie selbst hatte schon am 22. März ihren Palazzo verlassen und sich in dem kahlen Zimmer einer Klinik, dessen einziger Schmuck die beiden von mir vorausgesandten Bilder waren, am 23. März einer vorläufigen Operation unterwerfen müssen, die ihr wenigstens Linderung verschaffte. Sie empfing mich anscheinend heiter, erzählte, wie viele Freude ihr in den Wochen des Leidens die Lektüre der Druckbogen meiner »Philosophie der Bibel« bereitet hätte, und forderte mich auf, sie täglich zu besuchen. Ich sah sie denn auch noch an den beiden folgenden Tagen, lernte dabei auch ihren Chirurgen, den berühmten Bastianelli, kennen und verzichtete ungern für die nächsten Tage auf einen Besuch, weil die Kranke für die auf Montag, den 7. April, angesetzte Hauptoperation ihre Kräfte sammeln sollte. Die Operation verlief, wie die jeden Augenblick eingeholten telephonischen Nachrichten uns mitteilten, soweit glücklich, in den nächsten Tagen aber stellte sich große Schwäche ein, und so ist die Freundin am Mittwoch, dem 9. April, abends kurz vor 9 Uhr ihrem Leiden[348] erlegen. Ich sah sie in den nächsten Tagen auf blumengeschmückter Bahre, und die alle andern zurückdrängende Empfindung war, daß die Freundin nun doch nicht mehr zu leiden habe. Was ich an ihr verloren hatte, das war mir vom ersten Augenblick an so klar wie es mir noch heute ist. Der Sarg wurde in dem schönen Konzertsaal ihres Palazzos vor der Orgel aufgebahrt, eine unübersehbare Menge von Blumen, Kränzen und Girlanden umgaben ihn, und am Sonnabend, dem 12., nachmittags 3 Uhr fand die Trauerfeier statt, bei welcher ich auf Wunsch der Frau Dr. Mond vor einer illustren Versammlung, in Gegenwart des Fürsten Bülow und seiner Gemahlin, des englischen Gesandten, der Gemahlin des französischen Gesandten und vieler an dern Würdenträger, nach einem Präludium der Orgel die Gedächtnisrede hielt, in der ich, anknüpfend an eine Vedastelle, ihr segensreiches Wirken nach so vielen Seiten, ihre Liebe zu Kunst und Wissenschaft, ihr stets bereites Eingreifen, wo es galt, die Not der Leidenden und Armen zu lindern, gebührend hervorhob. Nach mir sprachen noch der alte, eisgraue Senator Blaserna, Professor Cubone, Exzellenz Harnack (namens der Kaiser-Wilhelm-Stiftung), der Graf Perrone (im Namen ihrer Angestellten) und der Bürgermeister von Rom.
In einem langen Zuge von Automobilen geleiteten wir den Sarg nach dem entfernten Krematorium, wo am Montag, dem 14., die Einäscherung sich vollzog, nach deren Beendigung wir uns im engsten Kreise eingefunden hatten, um der Aufnahme der Asche in einer Urne beizuwohnen, welche später auf dem Protestantischen Friedhofe neben der Pyramide des Cestius beigesetzt wurde. Am 19. April trat ich meine Heimreise an, welche mich mit Aufenthalt in Pisa, Mailand, Zürich, Frankfurt und Hamburg nach Kiel zurückführte.
Für den Herbst dieses Jahres hatte ich zugesagt, in Salzburg bei den Hochschulferialkursen nebst der mir zustehenden Rektoratsrede sechs Vorträge über Indien zu halten, eine Aufgabe, welche mir viele Freude machte und viele Freunde gewann, unter welchen ich nur Hermann Bahr, mit dem ich wiederholte lange Spaziergänge unternahm, und Regierungsrat Dr. Franz Huemer nennen möchte. Ich fuhr über Linz nach Wien zu, wo ich[349] als Gast meines Freundes Dr. Gotthelf am 3., 4. und 7. Oktober in dem großen Festsaale der Urania drei, von den Versammelten, 500 Personen, mit Begeisterung aufgenommene Vorträge über Kant, Schopenhauer und Nietzsche hielt.
In die Wintermonate 1913–14 fiel die Ausarbeitung der »Philosophie des Mittelalters«, aber auch, wie schon berichtet wurde, in der Frühe des 2. Januar das Hinscheiden meiner mir in siebenundzwanzigjähriger glücklicher Ehe verbunden gewesenen Gattin. Am Sonntag, dem 4. Januar, war die Trauerfeier für sie in meinem Hause, am Montag erfolgte in Gegenwart meiner beiden Kinder und der aus Berlin, Bremen, Kiel und Düsseldorf herbeigeeilten Freunde die Einäscherung im Krematorium zu Hamburg.
So habe ich innerhalb eines Zeitraumes von weniger als neun Monaten meine beste Freundin und die eigene Gattin durch den Tod verloren, während ihnen so viele andere, die mir im Leben so nahe gestanden hatten, im Tode vorangegangen waren. Aus dem eigenen Familienkreise waren nicht nur, nach einem langen und gesegneten Leben, beide Eltern, sondern auch zwei meiner Brüder, Immanuel und Johannes, hingeschieden. Die beiden nächsten Freunde meiner Jugend, Ernst Schnabel und Friedrich Nietzsche, starben in Jahren, wo für andere der Herbst des Lebens erst dessen beste Früchte zur Reife bringt. Durch eigene Hand fielen der nächste Lehrer und der nächste Schüler, die ich im Leben gehabt habe, mein Lehrer Kretzschmer, der in Pforta mein Tutor und Prinzipal gewesen war, und mein Zögling Georg v. Kantschin. Trotz dieser und so vieler anderer Verluste fühle ich mich im Leben nicht vereinsamt, da mir ein gütiges Geschick viele liebe Freunde in der Nähe und Ferne, in Europa und Amerika, in Indien und Japan, bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Auch die drei Generalversammlungen der von mir im Oktober 1911 gegründeten und geleiteten Schopenhauergesellschaft haben mir viele warme Freunde erworben, und so freue ich mich des stetigen Anwachsens dieser Gesellschaft sowie des rüstigen Fortschreitens meiner großen Schopenhauerausgabe, soviel Sorge und Mühe mir auch beide Unternehmungen bereitet haben und noch künftig bereiten werden. Mehr aber noch als[350] dieses alles liegt mir neben der gedeihlichen Entwicklung meiner beiden Kinder die glückliche Fortführung der alle wissenschaftlichen Bestrebungen meines Lebens zusammenfassenden und abschließenden »Allgemeinen Geschichte der Philosophie« am Herzen, deren fünfte, die biblisch-mittelalterliche Philosophie behandelnde Abteilung, bis zum Jahre 1200 gediehen ist, während die sechste Abteilung die neuere Philosophie bis zur Gegenwart hin behandeln soll. Daß mir Leben, Gesundheit und Arbeitskraft lange genug treu bleiben mögen, um diese, die Summe und das Resultat meines ganzen Lebens in sich fassende Arbeit glücklich zu Ende zu führen, das ist das Höchste, was ich in den Jahren, die mir noch diesseits des Grabes vergönnt sein mögen, ersehne und erhoffe.[351]
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