III. Allgemeine Sätze über den Zusammenhang der Geisteswissenschaften

[144] Drei verschiedene Aufgaben hat die Grundlegung der Geisteswissenschaften zu lösen. Sie bestimmt den allgemeinen Charakter des Zusammenhanges, in dem auf diesem Gebiet auf Grund des Gegebenen ein allgemeingültiges Wissen entsteht. Es handelt sich hier um die allgemeine logische Struktur der Geisteswissenschaften.12 Es gilt dann, den Aufbau der geistigen Welt durch die einzelnen Gebiete hindurch aufzuklären, wie er sich in den Geisteswissenschaften durch das Ineinandergreifen ihrer Leistungen vollzieht. Das ist die zweite Aufgabe, und in ihrer Auflösung wird sich dann schrittweise die Methodenlehre der Geisteswissenschaften durch Abstraktion aus ihrem Verfahren selbst ergeben. Endlich fragt sich, welches der Erkenntniswert dieser Leistungen der Geisteswissenschaften sei und in welchem Umfang durch ihr Zusammenwirken ein objektives geisteswissenschaftliches Wissen möglich wird.

Zwischen den beiden letzten Aufgaben besteht ein näherer innerer Zusammenhang. Die Sonderung der Leistungen macht die Prüfung ihres Erkenntniswertes möglich, und diese zeigt, in welchem Umfang durch sie die geisteswissenschaftliche Wirklichkeit und der in ihr bestehende reale Zusammenhang ins Wissen erhoben wird: hierdurch wird dann eine selbständige Grundlage der Erkenntnistheorie auf unserem Gebiete gewonnen, und die Aussicht auf einen allgemeinen Zusammenhang der Erkenntnistheorie eröffnet sich, dessen Ausgangspunkt in den Geisteswissenschaften gelegen wäre.

Der allgemeine Charakter des Zusammenhanges in den Geisteswissenschaften ist also unser nächstes Problem. Der Ausgangspunkt ist die Strukturlehre des gegenständlichen Auffassens im[144] allgemeinen. Sie zeigt in allem Auffassen eine fortschreitende Linie vom Gegebenen zu den Grundverhältnissen der Wirklichkeit, die hinter jenem dem begrifflichen Denken aufgehen. Dieselben Denkformen und dieselben ihnen untergeordneten Klassen von Denkleistungen ermöglichen in den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften den wissenschaftlichen Zusammenhang. Von dieser Grundlage aus entstehen dann in der Anwendung jener Denkformen und Denkleistungen aus den besonderen Aufgaben und unter den besonderen Bedingungen der Geisteswissenschaften deren spezifische Methoden. Und da die Aufgaben der Wissenschaften die Methoden für die Lösung hervorrufen, so bilden die einzelnen Verfahrungsweisen einen inneren, vom Zweck des Wissens bedingten Zusammenhang.

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Vgl. m. Abhandl.: Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Sitzungsberichte der Berl. Akad. d. Wiss. 1905, S. 331 ff. [Ges. Schriften VII, S. II ff.].

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 144-145.
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