1. Die Linie der Repräsentationen vom Erlebnis aus

[168] Jedes optische Bild ist von dem anderen, das sich auf denselben Gegenstand bezieht, durch den Gesichtspunkt und die Bedingungen der Auffassung verschieden. Diese Bilder werden nun durch die verschiedenen Arten des gegenständlichen Auffassens zu einem System innerer Beziehungen verbunden. Die Totalvorstellung, die so aus der Reihe der Bilder nach den im Sachverhalt enthaltenen Grundverhältnissen entsteht, ist ein Hinzuvorgestelltes, Hinzugedachtes. Dagegen sind die Erlebnisse in einer Lebenseinheit im Zeitverlauf aufeinander bezogen; jedes derselben hat so seine Stelle in einem Verlauf, dessen Glieder in der Erinnerung miteinander verbunden sind. Ich spreche hier noch nicht von dem Problem der Realität dieser Erlebnisse und ebensowenig von den Schwierigkeiten, welche die Auffassung eines Erlebnisses enthält; es genügt, daß die Art, wie das Erlebnis für mich da ist, ganz verschieden von der Art ist, in welcher Bilder vor mir dastehen. Das Bewußtsein von einem Erlebnis und seine Beschaffenheit, sein Fürmichdasein und was in ihm für mich da ist, sind eins: Das Erlebnis steht nicht als ein Objekt dem Auffassenden gegenüber, sondern sein Dasein für mich ist ununterschieden von dem, was in ihm für mich da ist. Es gibt hier keine verschiedenen Stellen im Raum, von denen aus das, was in ihm da ist, gesehen würde. Und verschiedene Gesichtspunkte, unter denen es aufgefaßt würde, können nur nachträglich durch die Reflexion entstehen und berühren es selber in seinem Erlebnischarakter nicht. Es ist der Relativität des sinnlich Gegebenen entnommen, nach welcher die Bilder nur in der Relation zu dem Auffassenden, zu seiner Stellung im Raum und dem zwischen ihm und den Gegenständen Liegenden auf das Gegenständliche sich beziehen. Vom Erlebnis geht so eine direkte Linie von Repräsentationen bis zu der Ordnung der Begriffe, in der es denkend[168] aufgefaßt wird. Es wird zunächst aufgeklärt durch die elementaren Denkleistungen. Die Erinnerungen, in denen es weiter aufgefaßt wird, haben hier eine eigene Bedeutung. Und was geschieht nun, wenn das Erlebnis Gegenstand meiner Reflexion wird? Ich liege des Nachts wachend, ich sorge um die Möglichkeit, begonnene Arbeiten in meinem Alter zu vollenden, ich überlege, was zu tun sei. In diesem Erlebnis ist ein struktureller Bewußtseinszusammenhang: ein gegenständliches Auffassen bildet seine Grundlage, auf dieser beruht eine Stellungnahme als Sorge um und als Leiden über den gegenständlich aufgefaßten Tatbestand, als Streben über ihn hinauszugelangen. Und alles das ist für mich in diesem seinem Strukturzusammenhang da. Ich bringe den Zustand zu distinguierendem Bewußtsein. Ich hebe das strukturell Bezogene heraus, isoliere es. Alles, was ich so heraushebe, ist im Erlebnis selbst enthalten und wird so nur aufgeklärt. Nun aber wird mein Auffassen vom Erlebnis selbst auf Grund der in ihm enthaltenen Momente zu Erlebnissen fortgezogen, welche im Verlauf des Lebens, wenn auch durch lange Zeiträume getrennt, strukturell mit solchen Momenten verbunden waren; ich weiß von meinen Arbeiten durch eine frühere Musterung, damit stehen in weiter Ferne der Vergangenheit die Vorgänge in Beziehung, in denen diese Arbeiten entstanden. Ein anderes Moment leitet in die Zukunft; das Daliegende wird noch unberechenbare Arbeit von mir verlangen, ich bin besorgt darüber, ich richte mich innerlich auf die Leistung ein. All dies Über, Von und Auf, all diese Beziehungen des Erlebten auf Erinnertes und ebenso auf Zukünftiges zieht mich fort – rückwärts und vorwärts. Das Fortgezogenwerden in dieser Reihe beruht auf der Forderung immer neuer Glieder, die das Durcherleben verlangt. Dabei kann auch ein aus der Gefühlsmacht des Erlebens hinzutretendes Interesse mitwirken. Es ist ein Fortgezogenwerden, keine Volition, am wenigsten das abstrakte Wissenwollen, auf das seit Schleiermachers Dialektik zurückgegangen worden ist. In der Reihe, die so entsteht, ist das Vergangene wie das Zukünftige, Mögliche dem vom Erlebnis[169] erfüllten Moment transzendent. Aber beides, Vergangenes und Zukünftiges, sind auf das Erlebnis bezogen in einer Reihe, welche durch solche Beziehungen zu einem Ganzen sich gliedert. Jedes Vergangene ist, da seine Erinnerung Wiedererkennen einschließt, strukturell als Abbildung auf ein ehemaliges Erlebnis bezogen. Das künftig Mögliche ist ebenfalls mit der Reihe durch den von ihr bestimmten Umkreis von Möglichkeiten verbunden. So entsteht in diesem Vorgang die Anschauung des psychischen Zusammenhanges in der Zeit, der den Lebensverlauf ausmacht. In diesem Lebensverlauf ist jedes einzelne Erlebnis auf ein Ganzes bezogen. Dieser Lebenszusammenhang ist nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit. Von dem Gegenwärtigen aus durchlaufen wir rückwärts eine Reihe von Erinnerungen bis dahin, wo unser kleines ungefestigtes, ungestaltetes Selbst sich in der Dämmerung verliert, und wir dringen vorwärts von dieser Gegenwart zu Möglichkeiten, die in ihr angelegt sind und vage, weite Dimensionen annehmen.

So entsteht ein wichtiges Resultat für den Zusammenhang der Geisteswissenschaften. Die Bestandteile, Regelmäßigkeiten, Beziehungen, welche die Anschauung des Lebensverlaufes konstituieren, sind allesamt im Leben selber enthalten; dem Wissen vom Lebensverlauf kommt derselbe Realitätscharakter zu wie dem vom Erlebnis.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 168-170.
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