Geschichtliches Wissen

[196] Die Auffassung des Wirkungszusammenhangs, den die Geschichte bildet, entsteht zunächst von einzelnen Punkten aus, an denen zusammengehörige Reste der Vergangenheit durch die Beziehung zur Lebenserfahrung im Verstehen miteinander verbunden werden; was uns in der Nähe umgibt, wird uns zum Verständnismittel des Entfernten und Vergangenen. Die Bedingung für diese Interpretation der historischen Reste ist, daß das, was wir in sie hineintragen, den Charakter der Beständigkeit in der Zeit und der allgemein-menschlichen Geltung hat.[196] So übertragen wir unsere Kenntnis von Sitten, Gewohnheiten, politischen Zusammenhängen, religiösen Prozessen, und die letzte Voraussetzung der Übertragung bilden immer die Zusammenhänge, die der Historiker in sich selbst erlebt hat. Die Urzelle der geschichtlichen Welt ist das Erlebnis, in dem das Subjekt im Wirkungszusammenhang des Lebens zu seinem Milieu sich befindet. Dies Milieu wirkt auf das Subjekt und empfängt Wirkungen von ihm. Es ist zusammengesetzt aus der physischen und der geistigen Umgebung. In jedem Teil der geschichtlichen Welt besteht daher derselbe Zusammenhang des Ablaufs eines psychischen Geschehens im Wirkungszusammenhang mit einer Umgebung. Hier entstehen die Aufgaben der Abschätzung der Natureinflüsse auf den Menschen und der Feststellung der Einwirkung der geistigen Umwelt auf ihn.

Wie Rohstoff in der Industrie mehreren Arten der Bearbeitung unterworfen wird, so werden auch die Reste der Vergangenheit durch verschiedene Prozeduren hindurch zum vollen geschichtlichen Verständnis erhoben. Kritik, Auslegung und das Verfahren, welches die Einheit in dem Verständnis eines historischen Vorgangs herbeiführt, greifen ineinander. Das Charakteristische ist aber auch hier, daß nicht eine einfache Fundierung der einen Operation auf die andere stattfindet; sondern Kritik, Interpretation und denkendes Zusammennehmen sind ihrer Aufgabe nach verschieden; aber die Lösung einer jeden dieser Aufgaben fordert stets zugleich auf den andern Wegen gewonnene Einsichten.

Eben dies Verhältnis hat nun aber zur Folge, daß die Begründung des geschichtlichen Zusammenhangs immer auf ein logisch nie vollständig darstellbares Ineinandergreifen von Leistungen angewiesen ist und daher niemals dem historischen Skeptizismus gegenüber durch unanfechtbare Beweise sich rechtfertigen kann. Man denke an Niebuhrs große Entdeckungen über die ältere römische Geschichte. Überall ist seine Kritik untrennbar von seiner Rekonstruktion des wahren Verlaufs. Er mußte feststellen, wie die vorhandene Überlieferung der älteren römischen Geschichte zustande gekommen ist und welche Schlüsse[197] aus ihrer Entstehung auf ihren historischen Wert gemacht werden können. Er mußte zugleich aus einer sachlichen Argumentation die Grundzüge der wirklichen Geschichte abzuleiten versuchen. Ohne Zweifel bewegt sich dieses methodische Verfahren in einem Zirkel, wenn man die Regeln einer strengen Beweisführung anlegt. Und wenn nun Niebuhr sich zugleich des Schlusses der Analogie aus verwandten Entwicklungen bediente, so unterlag das Wissen von diesen verwandten Entwicklungen ja demselben Zirkel, und der Analogieschluß, der dies Wissen benutzte, gab keine strenge Gewißheit.

Selbst gleichzeitige Berichte müssen erst in bezug auf die Auffassung des Berichterstatters, seine Zuverlässigkeit, sein Verhältnis zum Vorgang geprüft werden. Und je weiter Erzählungen von der Zeit des Geschehnisses abstehen, desto mehr wird, wenn nicht durch Reduktion auf ältere, den Geschehnissen selbst gleichzeitige Nachrichten der Wert der Bestandteile einer solchen Erzählung festgestellt werden kann, die Glaubwürdigkeit sich verringern. Sicheren Boden hat die politische Geschichte der alten Welt, wo Urkunden vorliegen, und die der neueren, wo die Akten, die den Verlauf eines geschichtlichen Geschehnisses bilden, erhalten sind. Mit den methodischkritischen Urkundensammlungen und dem freien Zugang der Historiker zu den Archiven begann daher erst sicheres Wissen von der politischen Geschichte. Dieses vermag dem historischen Skeptizismus rücksichtlich der Tatsachen vollkommen standzuhalten, und auf solchen sicheren Grundlagen baut sich mit Hilfe der Analyse der Berichte auf ihre Quellen und der Prüfung der Gesichtspunkte der Berichterstatter eine Rekonstruktion auf, die historische Wahrscheinlichkeit hat und der nur geistreiche, aber unwissenschaftliche Köpfe die Brauchbarkeit absprechen können. Diese Rekonstruktion gewinnt zwar nicht über die Motive der handelnden Personen ein sicheres Wissen, wohl aber über die Handlungen und Begebenheiten, und die Irrtümer, denen wir in bezug auf einzelne Tatsachen immer ausgesetzt bleiben, machen doch nicht das Ganze zweifelhaft.[198]

Weit günstiger als in der Auffassung des politischen Verlaufs ist die Geschichtsschreibung gestellt gegenüber Massenerscheinungen, vor allem aber, wo sie künstlerische oder wissenschaftliche Werke vor sich hat, die der Analyse standhalten.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 196-199.
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