V. Ihr Material

[24] Das Material dieser Wissenschaften bildet die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, soweit sie als geschichtliche Kunde im Bewußtsein der Menschheit sich erhalten hat, als gesellschaftliche, über den gegenwärtigen Zustand sich erstreckende Kunde der Wissenschaft zugänglich gemacht worden ist. So unermeßlich dieses Material ist, so ist doch seine Unvollkommenheit augenscheinlich. Interessen, welche dem Bedürfnis der Wissenschaft keineswegs entsprechen, Bedingungen der Überlieferung, welche in keiner Beziehung zu diesem Bedürfnis stehen, haben den Bestand unserer geschichtlichen Kunde bestimmt. Von der Zeit ab, in welcher, um das Lagerfeuer versammelt,[24] Stammes- und Kriegsgenossen von den Taten ihrer Helden und dem göttlichen Ursprung ihres Stammes erzählten, hat das starke Interesse der Mitlebenden aus dem dunklen Flusse des gewöhnlichen menschlichen Lebens Tatsachen emporgehoben und bewahrt. Das Interesse einer späteren Zeit und geschichtliche Fügung haben darüber entschieden, was von diesen Tatsachen auf uns gelangen sollte. Geschichtschreibung, als eine freie Kunst der Darstellung, faßt einen einzelnen Teil dieses unermeßlichen Ganzen zusammen, der des Interesses unter Irgendeinem Gesichtspunkt wert erscheint. Dazu kommt: die heutige Gesellschaft lebt sozusagen auf den Schichten und Trümmern der Vergangenheit, die Niederschläge der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht, wie andererseits in materiellen Veränderungen, die über Aufzeichnungen hinausgehen, enthalten eine Überlieferung, welche in unschätzbarer Weise die Aufzeichnungen unterstützt. Auch über ihre Erhaltung hat doch die Hand der geschichtlichen Fügung entschieden. Nur an zwei Punkten besteht ein den Anforderungen der Wissenschaft entsprechender Zustand des Materials. Der Verlauf der geistigen Bewegungen in dem neueren Europa ist in den Schriften, welche seine Bestandteile sind, mit einer zureichenden Vollständigkeit erhalten. Und die Arbeiten der Statistik gestatten für den engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb deren sie zur Anwendung gekommen sind, einen zahlenmäßig festgestellten Einblick in die von ihnen umfaßten Tatsachen der Gesellschaft: sie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zustandes der Gesellschaft eine exakte Grundlage zu geben.

Die Unanschaulichkeit in dem Zusammenhang dieses unermeßlichen Materials kommt zu dieser Lückenhaftigkeit, ja hat nicht wenig dazu beigetragen, die letztere zu steigern. Als der menschliche Geist die Wirklichkeit seinen Gedanken zu unterwerfen begann, wandte er sich zuerst, von Staunen angezogen, dem Himmel entgegen; diese Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizonts zu ruhen scheint, beschäftigte ihn: ein in sich verbundenes räumliches, den Menschen stets und überall umgehendes Ganzes; so war die Orientierung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung, in den östlichen Ländern wie in Europa. Der Kosmos der geistigen Tatsachen ist nicht dem Auge in seiner Unermeßlichkeit sichtbar, sondern nur dem sammelnden Geiste des Forschers; in irgendeinem einzelnen Teile tritt er hervor, wo ein Gelehrter Tatsachen verbindet, und prüft und feststellt: im Inneren des Gemütes baut er sich dann auf. Eine kritische Sichtung der Überlieferungen, Feststellung der Tatsachen, Sammlung derselben bildet daher eine erste umfassende Arbeit der Geisteswissenschaften. Nachdem die Philologie eine mustergültige[25] Technik an dem schwierigsten und schönsten Stoff der Geschichte, dem klassischen Altertum, herausgebildet hat, wird diese Arbeit teils in unzähligen Einzelforschungen geleistet, teils bildet sie einen Bestandteil von weiterreichenden Untersuchungen. Der Zusammenhang dieser reinen Deskription der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Physik der Erde, angelehnt an die Geographie, die Verteilung des Geistigen und seiner Unterschiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum zu beschreiben zum Ziel hat, kann seine Anschaulichkeit immer nur durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältnisse, Zeitbestimmungen, durch die Hilfsmittel graphischer Darstellung empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung desselben allmählich über.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 24-26.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
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