IV. Die Übersichten über die Geisteswissenschaften

[21] Es muß versucht werden, dem, welcher in das vorliegende Werk über die Geisteswissenschaften eintritt, einen vorläufigen Überblick über den Umfang dieser anderen Hälfte des globus intellectualis zu geben, und vermittels desselben die Aufgabe des Werkes zu bestimmen.

Die Wissenschaften des Geistes sind noch nicht als ein Ganzes konstituiert; noch vermögen sie nicht einen Zusammenhang aufzustellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängigkeitsverhältnissen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung geordnet wären.

Diese Wissenschaften sind in der Praxis des Lebens selber erwachsen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Systematik der dieser Berufsbildung dienenden Fakultäten ist daher die naturgewachsene Form des Zusammenhangs derselben. Wurden doch ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Ausübung der gesellschaftlichen Funktionen selber gefunden. Ihering hat nachgewiesen, wie juristisches Denken durch eine im Rechtsleben selber sich vollbringende bewußte geistige Arbeit die Grundbegriffe des römischen Rechts geschaffen hat. So zeigt auch die Analyse der älteren griechischen Verfassungen in ihnen die Niederschläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politischen Denkens auf Grund klarer Begriffe und Sätze. Der Grundgedanke, welchem gemäß die Freiheit des Individuums in seinem Anteil an der politischen Gewalt gelegen ist, dieser Anteil aber gemäß der Leistung des Individuums für das Ganze durch die staatliche Ordnung geregelt wird, ist zuerst für die politische Kunst selber leitend gewesen, danach von den großen Theoretikern[21] der sokratischen Schule nur in wissenschaftlichem Zusammenhang entwickelt worden. Der Fortgang zu umfassenden wissenschaftlichen Theorien lehnte sich dann vorwiegend an das Bedürfnis einer Berufsbildung der leitenden Stände an. So entsprangen schon in Griechenland aus den Aufgaben eines höheren politischen Unterrichts in dem Zeitalter der Sophisten Rhetorik und Politik, und die Geschichte der meisten Geisteswissenschaften bei den neueren Völkern zeigt den herrschenden Einfluß desselben Grundverhältnisses. Die Literatur der Römer über ihr Gemeinwesen empfing ihre älteste Gliederung dadurch, daß sie in Instruktionen für die Priestertümer und die einzelnen Magistrate sich entwickelte.10 Daher ist schließlich die Systematik derjenigen Wissenschaften des Geistes, welche die Grundlage der Berufsbildung der leitenden Organe der Gesellschaft enthalten, sowie die Darstellung dieser Systematik in Enzyklopädien aus dem Bedürfnis der Übersicht über das für solche Vorbildung Erforderliche hervorgegangen, und die natürlichste Form dieser Enzyklopädien wird, wie Schleiermacher meisterhaft an der Theologie gezeigt hat, immer die sein, welche mit Bewußtsein von diesem Zwecke aus den Zusammenhang gliedert. Unter diesen einschränkenden Bedingungen wird der in die Geisteswissenschaften Eintretende in solchen enzyklopädischen Werken einen Überblick über einzelne hervorragende Gruppen dieser Wissenschaften finden.11

Versuche, solche Leistungen überschreitend, die Gesamtgliederung der Wissenschaften zu entdecken, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstande haben, sind von der Philosophie ausgegangen. Sofern sie von metaphysischen Prinzipien her diesen Zusammenhang abzuleiten versuchten, sind sie dem Schicksal aller Metaphysik anheimgefallen. Einer besseren Methode bediente sich schon Bacon, indem er mit dem Problem einer Erkenntnis der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wissenschaften des Geistes in Beziehung setzte und ihre Leistungen wie ihre Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabsichtigte in seiner Pansophia aus dem Verhältnis der inneren Abhängigkeit der Wahrheiten voneinander die Stufenfolge, in welcher sie im Unterricht auftreten müssen, abzuleiten,[22] und wie er so im Gegensatz gegen den falschen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken eines künftigen Unterrichtswesens (das leider auch heute noch Zukunft ist) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der Wahrheiten von einander eine angemessene Gliederung der Wissenschaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwischen diesem logischen Verhältnis von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu einander stehen, und dem geschichtlichen Verhältnis der Abfolge, in welchem sie auftreten, der Untersuchung unterwarf: schuf er die Grundlage für eine wahre Philosophie der Wissenschaften. Die Konstitution der Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeiten betrachtete er als das Ziel seiner großen Arbeit, und in der Tat brachte sein Werk eine starke Bewegung in dieser Richtung hervor; Mill, Littré, Herbert Spencer haben das Problem des Zusammenhangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften aufgenommen.12 Diese Arbeiten gewähren dem in die Geisteswissenschaften Eintretenden eine ganz andere Art von Überblick als die Systematik der Berufsstudien. Sie stellen die Geisteswissenschaften in den Zusammenhang der Erkenntnis, sie fassen das Problem derselben in seinem ganzen Umfang, und nehmen die Lösung in einer die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit umfassenden wissenschaftlichen Konstruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von der unter den Engländern und Franzosen heute herrschenden verwegenen wissenschaftlichen Baulust, ohne das intime Gefühl der geschichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Beschäftigung mit derselben in Einzelforschung sich bildet, haben diese Positivisten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzelwissenschaften entsprochen[23] hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit beginnen müssen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung beständig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch Jahrtausende allmählich entstandenen Gebäudes der positiven Geisteswissenschaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan sich verständlich zu machen, und so der Vielseitigkeit, in welcher diese Wissenschaften sich tatsächlich entwickelt haben, mit gesundem Blick für die Vernunft der Geschichte gerecht zu werden. Sie haben einen Notbau errichtet, der nicht haltbarer ist, als die verwegenen Spekulationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und so ist es gekommen, daß die aus einem metaphysischen Prinzip entwickelten Geistesphilosophien Deutschlands, von Hegel, Schleiermacher und dem späteren Schelling, den Erwerb der positiven Geisteswissenschaften mit tieferem Blick verwerten, als die Arbeiten dieser positiven Philosophen es tun.

Andere Versuche einer umfassenden Gliederung auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften sind in Deutschland von der Vertiefung in die Aufgaben der Staatswissenschaften ausgegangen, wodurch freilich eine Einseitigkeit des Gesichtspunktes bedingt ist.13

Die Geisteswissenschaften bilden nicht ein Ganzes von einer logischen Konstitution, welche der Gliederung des Naturerkennens analog wäre; ihr Zusammenhang hat sich anders entwickelt und muß wie er geschichtlich gewachsen ist nunmehr betrachtet werden.

10

Mommsen, Röm. Staatsrecht I, 3 ff.

11

Für den Zweck einer so bedingten Übersicht über einzelne Gebiete der Geisteswissenschaften kann auf folgende Enzyklopädien verwiesen werden: Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen 1859. Zweite umgearbeitete Aufl. 1872 (dritte 1881 Titelaufl.). Vgl. dazu Übersicht und Beurteilung anderer Enzyklopädien in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Bd. 1, 111-164. Warnkönig, Juristische Enzyklopädie oder organische Darstellung der Rechtswissenschaft. 1853. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums. Zuerst Berlin 1810. Zweite umgearbeitete Ausg. 1830. Böckh, Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, herausgegeben von Bratuschek. 1877.

12

Eine Übersicht der Probleme der Geisteswissenschaften nach dem inneren Zusammenhang, in welchem sie methodisch zueinander stehen, und in welchem folgerecht ihre Auflösung herbeigeführt werden kann, findet man entworfen in: Auguste Comte, Cours de philosophie positive 1830-1842, vom vierten bis sechsten Bande. Seine späteren Werke, welche einen veränderten Standpunkt enthalten, können einem solchen Zweck nicht dienen. Der bedeutendste Gegenentwurf des Systems der Wissenschaften ist von Herbert Spencer. Dem ersten Angriff auf Comte in Spencer, Essays, first series, 1858 folgte die genauere Darlegung in: the classification of the sciences, 1864 ( vgl. die Verteidigung Comtes in Littré, Auguste Comte et la philosophie positive). Die ausgeführte Darstellung der Gliederung der Geisteswissenschaften gibt nunmehr sein System der synthetischen Philosophie, von welchem die Prinzipien der Psychologie zuerst 1855 erschienen, die der Soziologie seit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: Descriptive Sociology), der abschließende Teil, die Prinzipien der Ethik (von welchem er selber erklärt, daß er ihn »für denjenigen halte, für welchen alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden sollen«) in einem ersten Bande 1879 die »Tatsachen der Ethik« behandelt. Neben diesem Versuch einer Konstitution der Theorie der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit ist noch der von John Stuart Mill bemerkenswert; er ist enthalten im sechsten Buch der Logik, das von der Logik der Geisteswissenschaften oder der moralischen Wissenschaften handelt, und in der Schrift Mill, Auguste Comte and Positivism. 1865.

13

Den Ausgangspunkt bildeten die Diskussionen über den Begriff der Gesellschaft und die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften, in denen eine Ergänzung der Staatswissenschaften gesucht wurde. Den Anstoß gaben L. Stein, Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich, 2. Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitschr. für Staatsw. 1851. Fortgeführt in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Bd. 1, 1855, S.67 ff.: Die Staatswissenschaften und die Gesellschaftswissenschaften. Wir heben zwei Versuche der Gliederung als besonders bemerkenswert hervor: Stein, System der Staatswissenschaft, 1852, und Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers, 1875 ff.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 21-24.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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