Die Aufgabe der theoretischen Darstellung der äußeren Organisation der Gesellschaft

[75] Die bisherige Erörterung hat die fundamentalen psychischen Tatsachen bestimmt, welche dem ganzen Gewebe der äußeren Organisation der Gesellschaft überall gleichförmig, überall irgendwie miteinander verbunden zugrunde liegen. Sie hat das auf sie gebaute Verbandsieben der Menschheit, unter Verwerfung einer begrifflichen Abgrenzung und Einteilung desselben, in einer geschichtlichen Anschauung umschrieben. Von hier aus kann nun wenigstens das Problem sichtbar gemacht werden, welches in diesem geschichtlichen Ganzen für die Theorie liegt. Zwei Fragen sind für die Stellung und den Aufbau der einzelnen Wissenschaften, in welche diese Theorie der äußeren Organisation der Gesellschaft sich zerlegt, besonders wichtig. Die eine von ihnen betrifft die Stellung der äußeren Organisation, insbesondere des Staats zum Recht; die andere das Verhältnis des Staats zur Gesellschaft.

Indem zunächst die Frage nach der Stellung des Rechts zu der äußeren Organisation der Gesellschaft behandelt wird, gilt es den Ertrag der bisherigen Erörterungen über das Recht19 mit dem nunmehr entwickelten Begriff der äußeren Organisation der Gesellschaft zu verbinden.

Nicht jeder Zweck, so sahen wir20, bringt einen Verband hervor; viele unserer Lebensäußerungen greifen in die anderer Personen überhaupt nicht zu einem Zweckzusammenhang ein; wo dann ein solcher auftritt, kann er durch die bloße Koordination von Einzeltätigkeiten, ohne die Unterstützung eines Verbandes, in vielen Fällen erreicht werden; es gibt aber Zwecke, welche besser von einem Verbande erreicht oder welche nur von einem solchen erreicht werden können. Hieraus ergibt sich das Verhältnis, welches zwischen der Lebenstätigkeit der Individuen, den Systemen der Kultur und der äußeren Organisation der Gesellschaft besteht. Die einen dieser Lebensäußerungen stellen keinen dauernden Zusammenhang zwischen den psycho-physischen Lebenseinheiten her; die anderen haben einen solchen Zweckzusammenhang zur Folge und stellen sich dementsprechend in einem System dar, und zwar wird die Aufgabe, welche in ihnen wirksam ist, in einigen Fällen durch eine bloße Koordination der Personen im Zweckzusammenhang vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Aufgabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen ist.

In den Wurzeln der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenhangs sind Systeme und äußere Organisation so ineinandergewachsen,[76] daß nur die Verschiedenheit der Betrachtungsweise sie sondert. Die am meisten vitalen Interessen des Menschen sind die Unterwerfung der zur Befriedigung seiner Bedürfnisse dienenden Mittel oder Güter unter seinen Willen und ihre Umänderung gemäß diesen Bedürfnissen, zugleich aber die Sicherung seiner Person und des so entstandenen Eigentums. Hier ist die Beziehung zwischen dem Recht und dem Staat angelegt. Den Unbilden der Natur mag der Körper des Menschen lange widerstehen: aber sein Leben und was er bedarf, um zu leben, ist stündlich von seinesgleichen bedroht. Daher war die Betrachtung der Verknüpfung psychischer Elemente in mehreren Personen unter einem Zweckzusammenhang zu einem System eine Abstraktion. Die regellose Gewalt der Leidenschaften gestattet den Menschen nicht, sich in die Ordnung eines solchen Zweckzusammenhangs in klarer Selbstbeschränkung einzufügen: eine starke Hand hält jeden in seinen Grenzen: der Verband, der diese Aufgabe vollbringt, der also jeder Macht auf dem Gebiet, über das seine starke Hand sich erstreckt, überlegen sein und daher mit dem Attribut der Souveränität ausgestattet sein muß, ist Staat, gleichviel, ob er noch in Familieneinheit oder Geschlechterverein oder Gemeinde beschlossen ist, oder ob seine Funktionen sich schon von denen dieser Verbände gesondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch seine Willenseinheit eine Aufgabe, die sonst weniger gut durch Koordination von Einzeltätigkeiten besorgt würde: er ist die Bedingung jeder solchen Koordination. Diese Funktion des Schutzes wendet sich nach außen in der Verteidigung der Untertanen; nach innen in der Aufstellung und zwangsweisen Aufrechterhaltung von Regeln des Rechts.

Sonach ist das Recht eine Funktion der äußeren Organisation der Gesellschaft. Es hat in dem Gesamtwillen innerhalb dieser Organisation seinen Sitz. Es mißt die Machtsphären der Individuell im Zusammenhang mit der Aufgabe ab, welche sie innerhalb dieser äußeren Organisation gemäß ihrer Stellung in ihr haben. Es ist die Bedingung alles folgerichtigen Tuns der einzelnen in den Systemen der Kultur.21

Dennoch hat das Recht eine andere Seite, durch welche es den Systemen der Kultur verwandt ist.22 Es ist ein Zweckzusammenhang. Einen solchen bringt jeder Wille hervor, sonach auch der Staatswille, in jeder seiner Äußerungen, mag er Wege bauen, Heere organisieren oder Recht schaffen. Auch ist dieser Staatswille auf die Mitwirkung der ihm Unterworfenen in jeder seiner Äußerungen so gut als im Recht angewiesen. Aber der Zweckzusammenhang des Rechts hat[77] besondere Eigenschaften, die aus dem Verhältnis des Rechtsbewußtseins zur Rechtsordnung fließen.

Der Staat schafft nicht durch seinen nackten Willen diesen Zusammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsordnungen gleichförmig wiederkehrt, noch den konkreten Zusammenhang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in dieser Rücksicht nicht gemacht, sondern gefunden. So paradox es lautet: Dies ist der tiefe Gedanke des Naturrechts. Der älteste Glaube, welchem gemäß die Rechtsordnung des einzelnen Staats von Göttern stammte, setzte sich in dem Fortgang des griechischen Denkens in den Satz um, daß ein göttliches Weltgesetz der hervorbringende Grund aller Staats- und Rechtsordnung sei.23 Dies war die älteste Form der Annahme eines natürlichen Rechtes in Europa. Sie faßte dasselbe noch als die Grundlage jeder einzelnen positiven Gesetzgebung auf. Als die ersten Theoretiker, welche die Gesetzgebung der Natur zu den positiven Gesetzen des einzelnen Staats in Gegensatz stellten und so das Naturrecht verselbständigten, treten in den Trümmern des älteren griechischen Naturrechts Archelaos und Hippias hervor; es war die geschichtliche Bedeutung des letzteren, daß er, offenbar im Zusammenhang mit seinen archäologischen Studien, die ungeschriebenen Gesetze, welche sich gleichmäßig bei den verschiedensten, durch ihre Sprachen getrennten Völkern finden und die daher nicht durch Rezeption von einem zum anderen gebracht sein können, als Naturrecht von dem positiven Rechte schied und dem letzteren die Verbindlichkeit absprach.24 Ein bedeutsames Denkmal dieses Stadiums des Naturrechts bilden die Tragödien des Sophokles, welche diesen Gegensatz der ungeschriebenen Normen des Rechtes und der positiven Gesetzgebung zweifellos aus den Debatten jener Zeit aufnahmen, ihm aber einen klassischen Ausdruck gaben. Bildete so das Naturrecht den Gedanken eines Zweckzusammenhangs im Rechte aus, welchem gemäß dasselbe ein System ist –[78] mochte es nun diesen als einen göttlichen oder einen natürlichen Zusammenhang fassen - , so unterschied es von ihm naturgemäß das, was der Wille des Verbandes hinzugefügt hat. So stellen die mittelalterlichen Naturrechtslehrer dem natürlichen System das aus der Gewalt des Verbands entsprungene positive Recht gegenüber.25

Auf dem Tatbestand, den das Naturrecht so auszudrücken versuchte, beruht die eine Seite des Verhältnisses zwischen Rechts- und Staatswissenschaften: die relative Selbständigkeit der ersteren. Das Recht ist Selbstzweck. Das Rechtsbewußtsein wirkt im Vorgang der Entstehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung mit den organisierten Gesamtwillen zusammen. Denn es ist Willensinhalt, dessen Macht in die Tiefe der Persönlichkeit und des religiösen Erlebnisses zurückreicht.

Die Konzeption des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft, daß dieser Zweckzusammenhang im Recht losgelöst von seinen Beziehungen, insbesondere denen zum Wirtschaftsleben sowie zur äußeren Organisation der Gesellschaft, betrachtet und in eine Region jenseit der geschichtlichen Entwicklung versetzt wurde. So nahmen Abstraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der Gestaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich.

Der Kern dieser abstrakten Theorien kann nur durch die Methode, welche allen Wissenschaften der Gesellschaft gemeinsam ist, nämlich Verbindung geschichtlicher mit psychologischer Analysis, eine wissenschaftliche Bearbeitung empfangen. An diesem Punkte ist ein weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in die Stellung der Einzelwissenschaften des Geistes zu ihrer Grundlegung zurückführen. Dies Problem, welches sich das Naturrecht stellte, ist nur lösbar im Zusammenhang der positiven Wissenschaften des Rechts. Diese ihrerseits können ein klares Bewußtsein der Stellung der Abstraktionen, durch welche sie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittels einer grundlegenden erkenntnistheoretischen Wissenschaft, vermittels der Feststellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren sie sich bedienen, zu den psychologischen und psychophysischen erhalten. Hieraus folgt, daß es eine besondere Philosophie des Rechts nicht gibt, daß vielmehr ihre Aufgabe dem philosophisch begründeten Zusammenhang der positiven Wissenschaften des Geistes wird anheimfallen müssen. Dies schließt nicht aus, daß Arbeitsteilung und Schulbetrieb es nützlich erscheinen lassen, daß[79] die Aufgabe der allgemeinen Rechtswissenschaft auch in der Form des Naturrechts immer wieder einmal gelöst werde; aber es bestimmt den methodischen Zusammenhang, in dem schlechterdings die Lösung einer solchen Aufgabe stehen muß.

Und wie könnte nun diese allgemeine Rechtswissenschaft das Recht anders als in seinem lebendigen Zusammenhang mit den Gesamtwillen innerhalb der Organisation der Gesellschaft erkennen? Die Tragweite der Tatsachen der Rechtsüberzeugungen und der mit ihnen verbundenen elementaren psychischen Regungen, des Gewohnheitsrechts, des Völkerrechts kann nur so weit reichen, die Existenz eines Bestandteils in der menschlichen Natur zu erweisen, auf welchem der Charakter des Rechts als eines Selbstzwecks beruht. Diese Beweisführung wird eine wichtige Ergänzung durch die historische Erörterung der Beziehungen von Rechtsbegriffen und Rechtsinstituten zu religiösen Ideen erhalten, welche wir an den auffaßbaren Anfängen unserer Kultur gewahren. Aber – das ist die andere Seite dieses Verhältnisses von Recht und Staat – keine Argumentation kann die Tragweite haben, die Existenz eines von der äußeren Organisation der Gesellschaft unabhängigen tatsächlichen Rechts zu erweisen. Die Rechtsordnung ist die Ordnung der Zwecke der Gesellschaft, welche von der äußeren Organisation derselben durch Zwang aufrechterhalten wird. Und zwar (S. 77- 78) bildet der Zwang des Staats (das Wort in dem S. 77 entwickelten allgemeinen Verstande genommen) den entscheidenden Rückhalt der Rechtsordnung; aber äußere Bindung der Willen sahen wir durch die ganze organisierte Gesellschaft verbreitet (S. 67 ff.), und so erklärt sich, daß in dieser auch andere Gesamtwillen neben dem Staat Recht bilden und aufrechterhalten. Jeder Rechtsbegriff enthält also das Moment der äußeren Organisation der Gesellschaft in sich. Andererseits kann jeder Verband nur in Rechtsbegriffen konstruiert werden. Dies ist ebenso wahr, als daß das Verbandsieben der Menschheit nicht aus dem Bedürfnis der Rechtsordnung erwachsen ist und daß der Staatswille nicht erst mit seinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtsein geschaffen hat.

So wird die andere Seite des Verhältnisses zwischen Rechts- und Staatswissenschaften sichtbar: jeder Begriff in jenen kann nur vermittels der Begriffe in diesen entwickelt werden und umgekehrt.

Die Untersuchung der beiden Seiten des Rechts in der allgemeinen Rechtswissenschaft führt zu einem noch allgemeineren Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweckzusammenhang, welchen das Recht enthält, hat sich vermittels der einzelnen Gesamtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker, sonach geschichtlich entwickelt. Der Gegensatz des 18. Jahrhunderts, welches die geschichtlich-gesellschaftliche[80] Wirklichkeit in einen Inbegriff von natürlichen Systemen auflöste, die den Einwirkungen des geschichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der historischen Schule des 19. Jahrhunderts, welche sich dieser Abstraktion entgegensetzte, aber, trotz ihres höheren Standpunktes, infolge des Mangels einer wahrhaft empirischen Philosophie eine in Begriffen und Sätzen klare und so verwertbare Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grundlegung der Geisteswissenschaften aufgehoben werden, welche den Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegenüber dem Empirismus durchführt. Von einer solchen Grundlegung aus können die Probleme, die am Recht hervortreten, sich einer Auflösung nähern: Fragen, die mit der Menschheit selber herangewachsen sind, welche schon im 5. Jahrhundert vor Christo die Geister beschäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz in verschiedene Heerlager teilen, andere Fragen, welche heute zwischen dem Geiste des 18. und dem des 19. Jahrhunderts schweben.

Jenseit dieser Wurzeln der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenlebens treten dann Systeme und Verbände deutlicher auseinander. Die Religion, als ein System des Glaubens, ist in solchem Grade von dem Verbande ablösbar, in welchem sie wohnt, daß ein hervorragender und gläubiger Theologe der letzten Generation die Angemessenheit von kirchlichen Verbänden an unser gegenwärtiges christliches Leben in Abrede stellen konnte. In Wissenschaft und Kunst erreicht aber die Koordination von selbständigen Einzeltätigkeiten einen solchen Grad von Ausbildung, daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche sich zur Verwirklichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Zwecke gebildet haben, ganz zurücktritt; dementsprechend entwickeln die Wissenschaften, welche diese Systeme zum Gegenstand haben, Ästhetik und Wissenschaftslehre, ihr Objekt, ohne je solcher Verbände zu gedenken.

Solchergestalt hat eine ihrer selbst unbewußte Kunst der Abstraktion mit zunehmender Klarheit diese beiden Klassen von Wissenschaften voneinander gesondert. Dies tat sie, obwohl naturgemäß die Vorbildung des einzelnen, seine Tätigkeit an den Verbänden das Studium des Systems mit dem des Verbandes verknüpfte.

Aus diesen Darlegungen über das Verhältnis des Verbandes zum System entspringt schließlich eine methodisch wichtige Folgerung in bezug auf die Natur der Wissenschaften, welche die äußere Organisation der Menschheit zu ihrem Objekt haben.

Die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft haben sowenig als die von den Systemen der Kultur die konkrete Wirklichkeit selber zu ihrem Gegenstande. Alle Theorie erfaßt nur[81] Teilinhalte der komplexen Wirklichkeit; die Theorien des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens scheiden die unermeßlich verwickelte Tatsächlichkeit, der sie sich nähern, um in sie einzudringen. So hebt die Wissenschaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den Verband als Gegenstand heraus. Eine Gruppe von Individuen, die in einem Verbande verknüpft ist, geht niemals in diesem gänzlich auf. In dem modernen Leben ist in der Regel ein Mensch Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach untergeordnet sind. Aber auch wenn ein Mensch nur einem Verbande angehörte: sein ganzes Wesen geht doch in denselben nicht ein. Denkt man sich den ältesten Familienverband, so hat man den elementaren sozialen Körper vor sich, die konzentrierteste Form von Willenseinheit, die unter Menschen denkbar ist. Und doch ist auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Individuen, aus denen sie sich zusammenfügt, gehen nicht gänzlich in sie als in ihre Einheit auf. Das, was die Anschauung als Land, Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt und so als eine volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutschland oder Frankreich vorstellt, ist nicht der Staat, ist nicht der Gegenstand der Staatswissenschaften. So tief auch die starke Hand des Staats in die Lebenseinheit des Individuums, dieses an sich reißend, greift: der Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur teilweise, nur relativ: Etwas in ihnen ist, das nur in der Hand Gottes ist. So vieles auch die Staatswissenschaften von den Bedingungen dieser Willenseinheit einbegreifen: direkt haben sie es nur mit einer in der Abstraktion allein darstellbaren Teiltatsache zu tun, und von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden Menschen bilden, lassen sie einen Rückstand von sehr großer Erheblichkeit zurück. Die Staatsgewalt selber umfaßt nur ein bestimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der gesamten Volkskraft, das freilich größer sein muß als irgendeine andere Kraft auf seinem Territorium, welches aber das ihm notwendige Machtübergewicht nur durch seine Organisation und durch die Mitwirkung von psychologischen Motiven empfängt.26

Innerhalb der äußeren Organisation ist neuerdings vom Staat[82] die Gesellschaft (das Wort in einem engeren Verstände gefaßt) unterschieden worden.

Das Studium der äußeren Organisation der Gesellschaft hat, seitdem es in Europa auftrat, seinen Mittelpunkt in der Staatswissenschaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechischen Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche das Fundament dieser Wissenschaft gelegt haben. Wohlbestanden damals noch die Phylen und Phratrien einerseits, die Demen andererseits, als die Reste der alten Geschlechter- und Gemeindeordnungen, besaßen Rechtspersönlichkeit und Vermögen, neben ihnen bestanden auch freie Genossenschaften. Aber im positiven Rechte Athens scheint27 zwischen dem Beschluß einer Korporation und der Abrede für eine gemeinsame Handelsunternehmung kein Unterschied bestanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von koinônia wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterscheidung wie die römische zwischen universitas und societas hatte sich nicht herausgebildet. Aristoteles formuliert daher nur das Ergebnis der griechischen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff der koinônia in seiner Politik ausgeht, das genetische Verhältnis entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband (kômê), von diesem zum Stadtstaat (polis) führt, alsdann aber den Dorfverband, als ein Stadium von nur geschichtlichem Interesse in seiner politischen Theorie selber verschwinden läßt und den freien Genossenschaften keine Stelle in seinem Staate zuteilt. War doch im griechischen Leben in der Herrschaftsordnung des Stadtstaates alles Verbandsieben untergegangen. – Es entwickelten sich dann weitere Bestandteile einer Theorie der äußeren Organisation der Gesellschaft in der Rechtswissenschaft, in der kirchlichen Wissenschaft: am hellen Tage der Geschichte sehen wir den größten Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholische Kirche, heranwachsen und in theoretischen Formeln seine Natur aussprechen, aus ihr heraus seine Rechtsordnung sich schaffen.

Die europäische Gesellschaft zeigte nach der Französischen Revolution ein ganz neues Phänomen, als sozusagen die Hemmungsapparate, welche in ihrer früheren äußeren Organisation zwischen den starken Leidenschaften der arbeitenden Klassen und der die Eigentums- und Rechtsordnung aufrechterhaltenden Staatsmacht bestanden hatten, nunmehr größtenteils weggefallen waren und das rapide Wachstum der Industrie und der Verkehrsverbindungen eine täglich anwachsende Masse von Arbeitern, durch Interessengemeinschaft über die Grenzen der Einzelstaaten hinaus verbunden, durch den Fortschritt der Aufklärung[83] ihrer Interessen immer deutlicher bewußt, der Staatsmacht gegenüberstellte. Aus der Auffassung dieser neuen Tatsache entsprang der Versuch einer neuen Theorie, der Gesellschaftswissenschaft. In Frankreich bedeutete Soziologie die Ausführung der gigantischen Traumidee, aus der Verknüpfung aller von der Wissenschaft gefundenen Wahrheiten die Erkenntnis der wahren Natur der Gesellschaft abzuleiten, auf Grund dieser Erkenntnis eine neue, den herrschenden Tatsachen der Wissenschaft und Industrie entsprechende äußere Organisation der Gesellschaft zu entwerfen sowie vermittels dieser Erkenntnis die neue Gesellschaft zu leiten. In diesem Verstände hat während der gewalttätigen Krisen in der Wende des Jahrhunderts der Graf Saint-Simon den Begriff der Soziologie entwickelt. Sein Schüler Comte hat die angestrengte Arbeit eines ganzen Lebens mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem systematischen Aufbau dieser Wissenschaft gewidmet.

In der Rückwirkung auf diese Arbeiten, unter dem Einfluß derselben Lage der Gesellschaft entstand in Deutschland der Begriff und Versuch einer Gesellschaftslehre.28 In gesundem, wissenschaftlich positivem Sinn, unternahm sie nicht, die Staatswissenschaften durch ein Ganzes von ungeheueren Dimensionen zu ersetzen: sie wollte sie ergänzen. Das Unzureichende des abstrakten Staatsbegriffs war, seit den ersten Blicken von Schlözer, durch die historische Schule immer deutlicher zum Bewußtsein gekommen, diese hatte die Tatsache des Volkes durch ihre Arbeiten in einer ganz neuen Tiefe gesehen. Hegel, Herbart, Krause wirkten in derselben Richtung. Es kann nicht bestritten werden, daß man, von dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortschreitend, zwischen beiden ein weites Reich von Tatsachen antrifft, welche dauernde Beziehungen dieser Individuen aufeinander und die Welt der Güter enthalten. Der Staatsmacht stehen die Individuen nicht als isolierte Atome gegenüber, sondern als ein Zusammenhang. Im Sinne unserer bisherigen Darlegungen wird man weiter anerkennen müssen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familiengliederung und der Niederlassung, im Ineinandergreifen der Tätigkeiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine Organisation entsteht, welche der Staat von Anfang an trägt und ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie sie ist, in den Zusammenhang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk und Gesellschaft haben zu dieser Tatsache eine augenscheinliche Beziehung.[84]

Die Frage nach der Existenzberechtigung einer besonderen Gesellschaftswissenschaft ist nicht die über die Existenz dieser Tatsache, sondern über die Zweckmäßigkeit, sie zum Gegenstand einer besonderen Wissenschaft zu machen. – Im ganzen gleicht die Frage, ob irgendein Teilinhalt der Wirklichkeit geeignet sei, von ihm aus bewiesene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob ein Messer, das vor mir liegt, scharf sei. Man muß schneiden. Eine neue Wissenschaft wird konstituiert durch die Entdeckung wichtiger Wahrheiten, aber nicht durch die Absteckung eines noch nicht okkupierten Terrains in der weiten Welt von Tatsachen. Das muß gegen den Entwurf Robert von Mohls Bedenken erregen. Dieser geht davon aus, daß zwischen Einzelperson, Familie, Stamm und Gemeinde29 einerseits, dem Staat andererseits, gleichförmige Beziehungen und infolgedessen bleibende Gestaltungen einzelner Bestandteile der Bevölkerung sich befinden: solche werden durch die Gemeinschaft der Abstammung von bevorzugten Familien, die Gemeinschaft der persönlichen Bedeutung, der Verhältnisse des Besitzes und Erwerbs sowie der Religion gebildet. Ob auf Grund dieser Abgrenzung eines Tatbestandes eine »allgemeine Gesellschaftslehre, d.h. Begründung des Begriffs und der allgemeinen Gesetze«30der Gesellschaft notwendig sei, würde nur durch die Auffindung dieser Gesetze bewiesen werden können. Jede andere Art von Erörterung scheint kein Ergebnis zu versprechen. – In vieljähriger Arbeit hat Lorenz von Stein versucht, einen solchen Zusammenhang von Wahrheiten zu entwickeln; was er anstrebt, ist eine wirkliche erklärende Theorie, welche zwischen die Güterlehre31, in der letzten Fassung: zwischen die Erkenntnis der wirtschaftlichen Tätigkeit, der Arbeit des Gottesbewußtseins und der Arbeit des Wissens32 einerseits und die Staatswissenschaft andererseits treten soll. Übertragen wir das in den hier entwickelten Zusammenhang, so wäre diese Wissenschaft das Bindeglied zwischen den Wissenschaften von den Systemen der Kultur und der Staatswissenschaft. Die Gesellschaft ist ihm, dementsprechend, eine dauernde und allgemeine Seite in allen Zuständen der menschlichen Gemeinschaft, ein wesentliches und machtvolles Element33der ganzen Weltgeschichte. Erst wenn wir an einer späteren Stelle seine tiefgedachte Theorie einer logischen Prüfung unterwerfen, kann die Frage entschieden werden, ob die von ihm entwickelten[85] Wahrheiten zur Absonderung einer Gesellschaftslehre berechtigen.

Auch an diesem Punkte tritt die Notwendigkeit einer erkenntnis-theoretischen und logischen Grundlegung hervor, welche das Verhältnis der abstrahierten Begriffe zu der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, deren Teilinhalte sie sind, aufklärt. Denn bei den Staatsgelehrten macht sich die Neigung bemerkbar, die Gesellschaft als eine für sich bestehende Wirklichkeit zu betrachten. Will doch Mohl die Gesellschaft geradezu als »ein wirkliches Leben, einen außer dem Staate stehenden Organismus«34 verstanden wissen, als ob irgendeiner ihrer Lebenskreise außerhalb der alleserhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat geschaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm selber zu ihren Merkmalen gehört. Stein konstruiert gesellschaftliche Ordnungen und Verbände und läßt dann über sie im Staat sich die Einheit in absoluter Selbstbestimmung zur höchsten Form allgemeiner Persönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Gesellschaft und Staat einander als Mächte gegenübertreten, so kann der Empiriker dem doch nur die Unterscheidung der zu einer gegebenen Zeit bestehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrschaftssphäre befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, sondern in einem eigenen System von Beziehungen stehenden freien Kräfte unterlegen. In einer theoretischen Betrachtung über die Kräfteverhältnisse im politischen Leben kann man so gut als das Kräfteverhältnis zwischen Staatseinheiten auch das zwischen der Staatsmacht und den freien Kräften ins Auge fassen. Aber Gesellschaft in diesem Verstande faßt auch Reste älterer staatlicher Ordnungen in sich, sie setzt sich nicht wie die Gesellschaft Steins aus Beziehungen von einer bestimmten Provenienz zusammen.

19

S. 52 ff.

20

S. 49 ff. 53. 72.

21

S. 53 ff.

22

S. 54. 57.

23

Dieses Stadium des griechischen Denkens über Recht und Staat ist noch erhalten in dem Fragment des Heraklit trephontai gar pantes hoi anthrôpinoi nomoi hypo henos tou theiou; krateei gar tosouton hokoson ethelei kai exarkeei pasi kai periginetai (Stob. flor. III, 84), sowie in den verwandten Stellen des Aschylos und Pindar. Die Stelle des letzteren: kata physin nomos ho pantôn basileus usw. (fr. XI, 48) ist für die Entwicklung des Begriffs besonders bemerkenswert. Eine Stelle des Demosthenes, in welcher der nomos in erster Linie als ein heurêma kai dôron theôn, in zweiter als poleôs synthêkê koinê aufgefaßt und in seiner Verbindlichkeit erklärt wird, ist durch Marcian in die Pandekten gelangt (1. 2 Dig. de leg. I, 3).

24

Den Einfluß seiner archäologischen Studien auf eine solche vergleichende Sammlung finde ich Clemens Strom. VI, 624. Die Relation über das Gespräch zwischen Hippias und Sokrates (Xenoph. Memorabil. 4, 4) ist zweifellos echt, aber entstellt und verworren, da die Ansicht des Hippias sicher bei dem Beginn des Gesprächs in ihm ausgebildet war, wie ja auch der Eingang uns beweist, sonach die Gesprächführung dementsprechend anders vorgestellt werden muß.

25

Um Mißverständnisse zu verhüten, merke ich an: Von dieser naturrechtlichen Theorie muß die andere ganz abgetrennt werden, welche in der negativen Schule der Theoretiker der Gewalt und der Interessen sich entwickelt hat, deren Hauptvertreter im Altertum Thrasymachos war und von der uns Plato eine systematische Darstellung hinterlassen hat.

26

Diese Auffassung, welche von der im Begriff des Staats vollzogenen Abstraktion ausgeht, findet sich in Übereinstimmung mit der aus besonnener Empirie, wie sie ihm eigen war, geschöpften Begriffsbestimmung Mohls: »Der Staat ist ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen Einrichtungen, welche, geleitet durch einen Gesamtwillen, sowie aufrechterhalten und durchgeführt durch eine Gesamtkraft, die Aufgabe haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines bestimmten und räumlich abgeschlossenen Volkes und zwar vom einzelnen bis zur Gesellschaft, zu fördern, soweit von den Betreffenden nicht dieselben mit eigenen Kräften befriedigt werden können und sie Gegenstand eines gemeinsamen Bedürfnisses sind.« Aus dieser Definition folgt, daß die Staatswissenschaft den Teilinhalt der Wirklichkeit, welchen sie zum Gegenstand hat, nur in der Beziehung auf diese, Wirklichkeit auffassen kann.

27

Vgl. das Solon zugeschriebene Gesetz Corp. jur. 1. 4 Dig. de coll. 47, 22.

28

Zu der gründlichen Übersicht der Literatur in Mohls Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften I, 1855, S. 67 ff. bemerke ich, daß der erste (und fruchtbarste) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben) hinter 1850 zurückgeht und in Steins Sozialismus Frankreichs 2. Aufl. 1848, S. 14 ff. sich findet.

29

So nachdem er auf Grund der Einwendungen Treitschkes (Gesellschaftswissenschaft 1859) die Gemeinde aus seiner Gesellschaftslehre ausgeschieden hatte. Vgl. darüber Enzyklopädie der Staatswissenschaften. 2. Aufl. 1872, S. 51 f.

30

Mohl, Staatswissenschaften, S 51.

31

Stein, Sozialismus 1848. S. 24.

32

Stein, Volkswirtschaftslehre, a. Aufl. Wien 1878, S. 465.

33

Stein, Gesellschaftslehre. Abt. I, S. 269.

34

Mohl, Lit. d. Staatswiss. I, 1855, S. 82.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 75-86.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studien Der Gesellschaft Und Der Geschichte ; Erster Band, Volume 1 (German Edition)

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon