Aufstellung einer selbständigen Wissenschaft der Metaphysik

[199] So hat Aristoteles zuerst den logischen Zusammenhang in dem Denkenden für sich betrachtet, abgesondert von dem realen Zusammenhang in der Wirklichkeit, aber in Beziehung auf ihn; dementsprechend[199] hat er klarer den Begriff des Grundes von dem der Ursache158 geschieden: er hat von der Logik die Metaphysik abgetrennt. Diese Sonderung war ein wichtiger Fortschritt innerhalb des natürlichen Systems, sonach in den Schranken des Objektivismus, verglichen mit der früheren Einheit von Metaphysik und Logik. Auch wird die Bedeutung dieser Sonderung für das Stadium, welches wir darstellen, dadurch nicht gemindert, daß diese Selbständigkeit der Metaphysik auf dem kritischen Standpunkt in Frage gestellt werden wird, weil der reale Zusammenhang ja nur in dem Bewußtsein, für und durch dasselbe vorhanden und jeder Bestandteil dieses Zusammenhangs, welchen die Metaphysik analysiert, wie die Substanz, das Quantum, die Zeit nur Tatsache des Bewußtseins ist.

Und wie Aristoteles seine Erste Philosophie von der Logik schied, so trennte er dieselbe andererseits von der Mathematik und Physik. Die Einzelwissenschaften, wie die Mathematik, haben besondere Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenstande, die Erste Philosophie aber die gemeinsamen Bestimmungen des Seienden. Die Einzelwissenschaften gehen in der Feststellung der Gründe nur bis zu einem gewissen Punkte zurück, die Metaphysik aber bis zu den im Erkenntnisvorgang nicht weiter bedingten Gründen. Sie ist die Wissenschaft der allgemeinen und unveränderlichen Prinzipien.159 Und zwar geht Aristoteles von dem im Kosmos Gegebenen rückwärts zu den Prinzipien. Wenn auch die Rückverweisungen auf die physischen Schriften nichts beweisen, so wird dieser Zusammenhang doch daraus deutlich, daß die Metaphysik die Aufzeigung der ersten Ursachen von der Physik empfängt und selber zunächst nur durch eine historisch-kritische Musterung die Vollständigkeit der in der Physik gefundenen Prinzipien bestätigt.160 – in erster Linie folgert dieser Zusammenhang aus der Anerkennung und Betrachtung der Bewegung. »Uns aber stehe der Grundsatz fest, daß das von Natur Existierende, alles oder doch einiges in Bewegung ist; und zwar ist dies durch Schluß aus der Erfahrung klar.«161 Die eleatische Leugnung der Bewegung ist dementsprechend für Aristoteles, welcher in der Aufgabe der Erklärung der Natur lebt, nur die unfruchtbare Negation aller Wissenschaft des Kosmos. Von den stetigen und vollkommenen Bewegungen der Gestirne, von dem Spiele der Veränderungen unter dem Monde geht die Erkenntnis[200] zu den ersten Ursachen zurück, welche zugleich die ersten Erklärungsgründe enthalten. So wird der reale Zusammenhang des Kosmos, welcher Gegenstand der strengen Wissenschaft ist, durch eine Analyse erkannt, die von ihm, als dem uns gegebenen Zusammengesetzten, auf die Prinzipien zurückschließt, als auf die wahren Subjekte des Naturzusammenhangs.162

Auf der selbständigen metaphysischen Wissenschaft beruhte, solange eine erkenntnistheoretische Grundlegung nicht bestand, zur einen Hälfte die Möglichkeit, die positiven Wissenschaften einer formalen Vollendung entgegenzuführen, wie sie zur anderen in der logischen Selbstbesinnung begründet war. So ist die Metaphysik die notwendige Grundlage der Wissenschaften des Kosmos geworden, und sie zuerst hat ihnen verstandesmäßig präparierte Grundbegriffe geliehen. In dem Inneren dieser Metaphysik bereitete sich alsdann der kritische Standpunkt vor; denn erst die verstandesmäßige Zergliederung der allgemeinen Bestandteile des Wirklichen ermöglichte, in ihnen Bewußtseinstatsachen aufzufassen. In ihrem Schoße hat sich auch vorbereitet, was die Erkenntnistheorie vielleicht über Kant hinausführen kann. Denn wenn die Unmöglichkeit sich herausstellen sollte, diesen Bestandteilen der Wirklichkeit eine logisch klare Form zu geben, dann öffnete sich unserer geschichtlichen und psychologischen Betrachtung der Blick in einen Ursprung derselben, welcher nicht in dem abstrakten Verstande liegen könnte.

158

archê der beides umfassende Ausdruck. Metaph. V, 1 p. 1013 a 17 die Einteilung: »Allem, was archê ist, ist also dies gemeinsam, das Erste zu sein, woraus etwas ist oder wird oder erkannt wird.«

159

Vgl. S. 160 ff.

160

Metaph. I, 3 und 10, womit die schrittweise Ableitung der Prinzipien in der Physik (bes. Buch I und II) zu vergleichen.

161

Arist. Phys. I, 2 p. 185 a 12.

162

Arist. Phys. I, 1 p. 184 a 21 esti d'hêmin prôton dêla kai saphê ta synkechymena mallon; hysteron d' ek toutôn ginetai gnôrina ta stoicheia.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 199-201.
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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