Die Sonderung der Logik von der Metaphysik und ihre Beziehung auf dieselbe

[196] Unter diesen Voraussetzungen entstand als abgesonderte Wissenschaft Metaphysik, die Königin der Wissenschaften. Die Leistung des[196] Aristoteles, welche dies zunächst ermöglichte, war die abgesonderte Behandlung der Logik. Aristoteles hat den denknotwendigen Zusammenhang, welchem die Erkenntnis bildet, einer theoretischen Betrachtung unterworfen. Er stellte eine erste Theorie der Formen und Gesetze der wissenschaftlichen Beweisführung auf.

Wir knüpfen an die Darlegung über die beiden Klassen der unmittelbaren Wahrheiten: Wahrnehmungen und Prinzipien an. Zwischen beiden bewegt sich alle andere Erkenntnis, als vermitteltes Wissen. Denn jeder wissenschaftliche Schluß führt vermittels seiner Prämissen schließlich auf ein unmittelbar Gewisses, und ein solches ist entweder die Wahrnehmung als das für uns erste oder die unmittelbare Vernunftanschauung als das an sich erste. Mit dem Hinweis auf die letztere als den tiefsten Grund des vermittelnden Denkens oder des Räsonnements schließt die Aristotelische Analytik.151

Die weltgeschichtliche Bedeutung der Aristotelischen Logik liegt nun darin, daß in ihr die Formen dieses vermittelnden Denkens zuerst in folgerechter Vollständigkeit abgelöst betrachtet wurden, und zwar mit einem logischen Verstande ersten Ranges. So entstand die Schlußlehre.152 Für jene Zeit bot diese Logik zunächst einen Schlüssel zur Auflösung der Streitsätze der Sophisten und beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die Periode der Sophisten, des Sokrates, Antisthenes, sowie der Megariker erfüllt hatte. Alsdann enthielt dieselbe die Hilfsmittel für die formale Durchbildung der Einzelwissenschaften. Wie die Mathematik dem Aristoteles das bedeutendste Beispiel logischer Entwicklungen in jener Zeit darbieten mußte, so hat sein logisches Gesetzbuch auch wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wissenschaft die einfach strenge, mustergültige Form zu geben, welche das Elementarwerk des Euklid zeigt, und diese Form ist dann das Vorbild mathematischer Entwicklungen für alle Folgezeit geworden.153

Die Grenzen der Aristotelischen Logik waren durch die zu enge Beziehung derselben zu der Metaphysik bedingt. In bezug auf das Einfache ist Wahrheit ein Erfassen in Gedanken, eine Art von Berührung (thinganein), wie dieselbe die letzte Voraussetzung dieses griechischen Objektivismus bildet; in bezug auf das Zusammengesetzte ist[197] Wahrheit diejenige Zusammenfügung im Denken, welche der im Seienden entsprechend ist, Irrtum aber ist die andere, welche ihr widerspricht.154 Sonach haben wir das Verhältnis der Korrespondenz auch auf das Gebiet des vermittelnden Denkens auszudehnen; die Formen dieses Denkens und die Beziehungen im Seienden entsprechen einander. So ist der Begriff der Ausdruck des Wesens; so verknüpft das wahre bejahende Urteil, was in den Dingen verknüpft ist, und das entsprechend verneinende trennt, was in ihnen getrennt ist; so entspricht der Mittelbegriff in dem vollkommenen Zusammenhang des syllogistischen Schlusses der Ursache in dem Zusammenhang der Wirklichkeit. Und wie man endlich die Stellung der Arten der Aussage über das Seiende (genê tôn katêgoriôn), der Kategorien, zu dem Denkzusammenhang bei Aristoteles auffasse: diese Kategorien entsprechen ebenfalls Formen des Seins.155

Und zwar behält diese Fassung des Verhältnisses, wie wir sie bei Aristoteles finden, so lange ihre Berechtigung und ihre Macht, als die logischen Formen, welche das diskursive Denken bietet, nicht aufgelöst und die Beziehungen zwischen dem Denken und seinem Gegenstand nicht hinter das fertige Objekt zurückverfolgt werden. Auch in diesem Punkte erweist sich Aristoteles als ein Metaphysiker, welcher bei den Formen der Wirklichkeit stehen bleibt. Seine Zergliederung der Wissenschaft verbleibt innerhalb der Zerlegung von Formen in Formen und zeigt so dieselbe Grenze wie die astronomische Zergliederung des Weltgebäudes durch die Alten. Was die Rede, das diskursive Denken als Zusammenhang darbietet, wird in eine Beziehung von Formen zueinander aufgelöst, und diese werden zu den Formen der Wirklichkeit in das Verhältnis des Abbildens gesetzt. Schleiermacher mit seiner Theorie der Korrespondenz, Trendelenburg, Überweg haben, welches auch im einzelnen die Verschiedenheiten von Aristoteles sind, diesen objektivistischen Standpunkt festgehalten.

Der Begriff des Entsprechens, der Korrespondenz zwischen Wahrnehmung und Denken einerseits, Wirklichkeit und Sein andererseits, auf welchen hiernach die ganze Grundlegung dieses natürlichen Systems zurückgeht, ist vollständig dunkel. Wie ein Gedachtes einem draußen wirklich Existierenden entsprechen könne, davon kann sich niemand eine Vorstellung machen. Was Ähnlichkeit in mathematischem Verstande sei, kann definiert werden; hier wird aber eine Ähnlichkeit behauptet, die ganz unbestimmt ist. Ja man kann sagten, beständen nicht die Phänomene von Abspiegelung in der Natur sowie[198] von Nachbildung in der Kunst des Menschen: eine solche Vorstellung hätte kaum entstehen können.

Der nähere Zusammenhang des logischen Denkens, wie ihn die Lehre des Aristoteles von Schluß und Beweis entwickelt, ist ein Gegenbild des von ihm angenommenen metaphysischen Zusammenhangs. Dies ergibt sich aus der angegebenen Vorstellung von Entsprechen. Sigwart sagt zutreffend: »Indem Aristoteles ein objektives Begriffssystem voraussetzt, das sich in der realen Welt verwirklicht, so daß der Begriff überall als das das Wesen der Dinge Konstituierende und als die Ursache ihrer einzelnen Bestimmungen erscheint, stellen sich ihm alle Urteile, die ein wahres Wissen enthalten, als Ausdruck der notwendigen Begriffsverhältnisse dar, und der Syllogismus ist dazu da, die ganze Macht und Tragweite jedes einzelnen Begriffs der Erkenntnis zu offenbaren, indem er die einzelnen Urteile verknüpft und durch die begriffliche Einheit voneinander abhängig macht; und der sprachliche Ausdruck dieser Begriffsverhältnisse ergibt sich daraus, daß sie immer zugleich als das Wesen des einzelnen Seienden erscheinen, dieses also in seiner begrifflichen Bestimmtheit das eigentliche Subjekt des Urteilens ist, das Verhältnis der Begriffe also in dem allgemeinen oder partikularen, bejahenden oder verneinenden Urteil zutage tritt.«156 Hieraus ergeben sich die Stellung des kategorischen Urteils, die Bedeutung der ersten Figur und die Zurückführung der anderen Figuren auf dieselbe, die Stellung des Mittelbegriffs, welcher der Ursache entsprechen soll: kurz die Haupteigentümlichkeiten der Aristotelischen Analytik.

Sonach stand die Syllogistik des Aristoteles so lange fest, als die Voraussetzung eines objektiven, im Kosmos realisierten Begriffssystems festgehalten wurde. Seitdem die Logik diese Voraussetzung aufgab, bedurfte sie einer neuen Grundlegung. Und wenn sie trotzdem die logische Formenlehre des Aristoteles festzuhalten bemüht war, suchte sie den Schatten von etwas zu schützen, dessen Wesen dahin war.157

151

Analyt. post. II, 19 p. 100 b 14 ei oun mêden allo par' epistêmên genos echomen alêthes, nous an eiê epistêmês archê. kai hê men archê tês archês eiê an, hê de pasa homoiôs echei pros to hapan pragma.

152

Dies erklärt er selber mit berechtigtem Selbstgefühl Elench. soph. 33 p. 183 b 34 p. 184 b 1.

153

Proklus in seinem Kommentar zu Euklid (p. 70 Friedl.) berichtet, daß Euklid eine besondere Schrift über die Trugschlüsse verfaßte, was seine eingehende Beschäftigung mit der logischen Theorie beweist.

154

Arist. Metaph. IX, 10 p. 1051 a 34 vgl. IV, 7 p. 1011 b 23.

155

Arist. Metaph. V, 7 p. 1017 a 23 hosachôs gar legetai, tosautachôs to einai sêmainei.

156

Sigwart, Logik I, 394.

157

Die Beziehung der Logik des Aristoteles zu seiner Metaphysik und folgerecht den rechten Sinn der Aristotelischen Logik zuerst in ausführlicher Gründlichkeit dargelegt zu haben, ist ein großes Verdienst von Prantl. Sigwart hat dann von hier aus die Grenzen des Wertes der Aristotelischen Syllogistik kritisch gezeigt.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 196-199.
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