Die nacharistotelische Metaphysik und ihr subjektiver Charakter

[241] Die Philosophie war die organisatorische Macht gewesen, welche noch zuletzt in der aristotelischen Schule den ganzen Inbegriff der wissenschaftlichen Forschungen geleitet hatte, wie in der platonischen Schule die mathematische und astronomische. Die Geschichte des[241] Skeptischen Geistes, wie wir ihn geschildert haben, zeigt aber, daß auch die Vollendung der Metaphysik in Aristoteles nicht vermocht hatte, den negativen erkenntnistheoretischen Standpunkt, welcher in den Sophisten zunächst einer unvollkommeneren Metaphysik gegenübergetreten war, zu überwinden. Andererseits war nunmehr eine Änderung dadurch vorbereitet, daß unter dem organisatorischen Einfluß der metaphysischen Philosophie Natur– und Geisteswissenschaften herangewachsen waren. So vollzog sich in dem großen Differenzierungsprozeß des europäischen Geistes eine weitere Sonderung. Von der Metaphysik, der Naturphilosophie und der praktischen Philosophie lösten sich nunmehr die Einzelwissenschaften bis zu einem gewissen Grade los. Jedoch geschah diese Abtrennung noch nicht so folgerichtig als in der neueren Zeit. Viele der bedeutendsten positiven Forscher blieben in einem Schulverband oder doch in innerer Beziehung zu einer der metaphysischen Schulen. Diesem Gange der Entwicklung entsprach, daß zugleich neue metaphysische Sekten entstanden, welche sich in den Dienst der persönlichen Befriedigung des Gemüts begaben.

So sondern sich eine Metaphysik, welche die Leitung der wissenschaftlichen Bewegung aufgibt, und Einzelwissenschaften, die sich positiv, von Empirie und Vergleichung aus, entwickeln. Stoische, epikureische, eklektische Metaphysik waren Mächte der Kultur, der großen gebildeten Gesellschaft; die Einzelwissenschaft dagegen stützte sich ausschließlich auf Erfahrung und trat in den Dienst jener Zivilisation, welche der Herrschaft über die Erde zustrebt.

Die bezeichneten metaphysischen Systeme haben auf einfachere Weise Ergebnisse zusammengefaßt und erlernbar gemacht; sie haben dieselben möglichst den Angriffen der Skeptiker durch geringere Anforderungen an Strenge des Beweisverfahrens entzogen und dem anwachsenden empirischen Geiste angenähert. So liegt ihr Ziel in einer Gemütsverfassung, ihr Zusammenhang in der allgemeinen Kultur, ihre Darstellungsform in der Vereinfachung. Der Atomismusm durch die Epikureer nicht fruchtbarer für die Erklärung der komplexen Tatsachen der Natur geworden, als er in dem System des Demokrit gewesen war. Denn die Annahme der Epikureer, daß die Atome im leeren Raume von oben nach unten kraft ihrer Schwere fallen, und zwar mit gleicher Geschwindigkeit und einer Abweichung von der senkrechten Linie, war so augenscheinlich ungeeignet zur Erklärung des Kosmos, daß nur der Leichtsinn der Schule und ihre rückständigen astronomischen Ansichten diesen Teil des Systems erklärlich machen. Der Monotheismus hat, wenn auch die Stoa ihn nun dem Empirismus nähert oder pantheistisch färbt, den Gegensatz[242] einer bewegenden, die Formen in sich fassenden Kraft und des Stoffes nicht überwunden.

Die Geschichte hat nur zu verzeichnen, daß von dem Auftreten des Leukipp ab der Gegensatz einer mechanischen, atomistischen Erklärung der Natur und einer theistischen, teleologischen fortbestanden hat, solange die alten Völker lebten. Die atomistische Gedankenarbeit war keinen Tag unterbrochen. Ihr ist der Kosmos ein bloßes Aggregat; die Teile stehen in ihm ein jeder für sich, als gäbe es keine anderen. Der Anfangszustand der Welt, von dem sie ausgeht, ist dem ersten Zustand der Gesellschaft, den die naturrechtlichen Theoretiker ersannen, zu vergleichen, nach welchem Individuen in die Welt geworfen sind, die nur an sich denken und nun in der Enge derselben aneinanderprallen. Und zwar bildet sich mit immer klarerer Einseitigkeit diese Richtung aus, welche das ganze Problem eliminiert: wie können Einzeldinge unter gemeinsamen Gesetzen stehen und aufeinander wirken? So pflanzt sich von Geschlecht zu Geschlecht der Kampf fort zwischen der Klarheit, welche nur das sinnlich Vorstellbare anerkennt, und der Tiefe, welche das Unfaßbare und doch Tatsächliche eines Zusammenhangs ausdrücken möchte, der in keinem einzelnen sinnlichen Element wohnen kann. Goethe nennt das einmal den Kampf des Unglaubens und des Glaubens und erklärt diesen Gegensatz für den tiefsten in aller Geschichte. Die mechanische Philosophie sowie andererseits die skeptische haben innerhalb der alten Welt sich der Zurückführung der besonders an der Gestirnwelt angeschauten Naturordnung auf eine intellektuelle Ursache entzogen. Der Skeptizismus leugnete infolge seiner unfruchtbaren, rein negativen Stellung zu den Phänomenen die Erkennbarkeit des Seienden überhaupt. Die Philosophie der Atomisten erhielt wenigstens dasjenige Problem rege, dessen wissenschaftliche Behandlung bei den neueren Völkern dann die Metaphysik der intellektuellen Ursache in Frage gestellt hat: das Problem einer mechanischen Erklärung des Kosmos.

An einem Punkte findet eine Veränderung statt, welche sich von der Metaphysik zu den großen Fragen der Einzelwissenschaften erstreckt und für die weitere intellektuelle Entwicklung von außerordentlich bedeutenden Folgen ist. Die Bedingungen, unter denen die national-griechische Staatswissenschaft gestanden hatte, sind nun vorüber. In der Zeit ihrer Herrschaft galt es, den Einzelstaat zu einem Athleten zu bilden; die Freiheit, welche in diesen Staaten bestand, war ein Anteil an der Herrschaft gewesen, und ein moderner Mensch würde den Zustand eines athenischen Bürgers in der Zeit von Kleon in vieler Rücksicht als Sklaverei empfunden haben. Wohl hatte sich schon mitten in der Zeit nationaler Entwicklung hiergegen ein[243] Widerspruch geregt. Die politischen Schriften des immer noch nicht genug gewürdigten Antisthenes sowie des Diogenes, von denen der eine nicht Vollbürger, der andere ein Verbannter war, haben die innere Freiheit des Weisen gegenüber dem Drucke des Staates, ja ein Gefühl von Fremdheit des inneren Lebens gegenüber dem ganzen Lärme des äußeren politischen Apparats geltend gemacht. Wie die national-griechische Entwicklung zu Ende gegangen ist, wie die Züge Alexanders den Osten erschließen und alsdann später das römische Imperium seine weltgeschichtliche Mission einer Vereinigung aller kultivierten Nationen unter einem Rechte und einem Haupte zu vollbringen sich anschickt: verändert sich allmählich das Lebensgefühl des Menschen, der den Griechen und Italiker mit dem dunkel gefärbten Bewohner der östlichen Länder tagtäglich vergleicht und das gemeinsam Menschliche fühlt, das Band, das den Orientalen, der in Griechenland lebt und lehrt, den Nationalgriechen, der unter einem makedonischen Fürsten oder später unter römischen Optimaten steht, mit dem Staate verbindet, ist von gänzlich anderer Art als das, welches einen Sokrates mit dem Rechte seiner Heimatstadt verbunden hatte. So entsteht eine gänzlich veränderte politische Philosophie.

Die Literatur über den Staat ist in beständigem Wachstum begriffen. Cicero spricht mit Bewunderung von der großen Zahl und der geistigen Bedeutung der politischen Werke aus der Schule von Plato und Aristoteles; wir kennen die Titel der politischen Schriften von Speusipp aus Athen, von Xenokrates aus Chalcedo, von Heraklides aus dem pontischen Heraklea, dann die von Theophrast aus Eresus (eine große Zahl), von Demetrius aus Phalerum, von Dikäarch aus Messana. Neben die augenscheinlich geringe Zahl von politischen oder vielmehr gegen das politische Leben gerichteten Schriften der Epikureer tritt eine reiche stoische politische Literatur, Schriften des Zeno aus Citium, des Kleanthes aus Assus, des Herill aus Karthago, Persäus aus Citium, Chrysipp aus Soli, Sphärus vom Bosporus, Diogenes aus Seleucia, Panätius aus Rhodus. Man bemerkt, daß in der stoischen Schule die Herkunft aus Barbarenländern bedeutend überwiegt. Zeno wird als ein Phönizier bezeichnet; Persäus soll zunächst Sklave Zenos gewesen sein. Indem die Stoa die Barbarenvölker zu sich heranzieht, indem alsdann die Übertragung der griechischen Spekulationen über Staat und Recht auf die Römer stattfindet, vollzieht sich eine Verbindung der politischen Wissenschaft, insbesondere der stoischen, mit den Monarchien, die auf Alexander folgen, und ihren Lebensbedürfnissen, alsdann mit dem römischen Staatsleben. Die stoische Schule verknüpft nun eine vereinfachte teleologische Metaphysik mit dem Gedanken des Rechtes der Natur, und in dieser dem[244] praktischen Bedürfnis angepaßten Zusammenfassung lag ein Hauptmoment ihrer Wirkung. Durch die Römer voll zieht sich dann die epochemachende Verbindung der Spekulationen über das Naturrecht mit der positiven Jurisprudenz.

Und in dieser Literatur arbeitet sich nun ein verändertes gesellschaftliches Gefühl des Menschen der letzten Jahrhunderte vor Christus durch. Dies ist schon in der Art bemerkbar, in welcher der selbstsüchtige Quietismus der Epikureer das Naturrecht der älteren nationalen Zeit umformt. Der Staat ist nach dieser Schule auf einen Sicherheitsvertrag gegründet, der von dem Interesse diktiert wird; so ist der Privatmensch und dessen Interesse der Maßstab seines Wertes. Das veränderte gesellschaftliche Gefühl findet aber einen würdigeren Ausdruck in der politischen Wissenschaft der stoischen Schule. Die monotheistische Metaphysik entwickelt hier Folgerungen, welche durch den national-griechischen Geist und seine Institutionen vorher gehemmt waren. Nun wird die Gesamtheit aller vernünftigen Wesen als ein Staat betrachtet, in welchem die Einzelstaaten enthalten sind, wie Häuser in einer Stadt. Dieser Staat lebt unter einem Gesetz, das als allgemeines Naturgesetz über allen einzelnen politischen Rechtsordnungen steht. Die einzelnen Bürger dieses Staates sind mit gewissen Rechten ausgestattet, die auf jenem allgemeinen Gesetz beruhen. Der Wirkungsbereich des Weisen ist dieser Weltstaat.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 241-245.
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