Erstes Kapitel
Christentum, Erkenntnistheorie und Metaphysik

[250] Man denkt sich wohl den Menschen der ältesten Zeiten unseres Geschlechtes, wie er, von der Höhle beschützt, von Nacht und Gefahr umgeben, den Morgen erwartet; brach dann der Tag an, und suchten ihn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne: wie fühlte er das Herannahen einer erlösenden Macht! So haben die Bevölkerungen der alten Welt empfunden, als die Strahlen des aufsteigenden Lichtes aus einer reinen Welt im Christentum sie trafen. Wenn sie so fühlten, so war dies doch nicht allein die Folge davon, daß der Christenglaube die feste Überzeugung von einer seligen Unsterblichkeit mitteilte, sowie daß er eine neue Gemeinschaft, ja eine neue bürgerliche Gesellschaft inmitten der Zerrüttung der antiken Staaten darbot.222 Das eine wie das andere war ein wichtiger Bestandteil der Stärke der neuen Religion. Jedoch war beides nur Folge einer tieferen Veränderung im Seelenleben.

Diese Veränderung allein und auch sie nur nach der Seite, welche sie der Entwicklung des Zweckzusammenhangs der Erkenntnis zukehrt, kann in diesem Zusammenhang berührt werden. Eine herbe Kritik des christlichen Bewußtseins zieht sich durch Spinozas Ethik; ihr liegt zugrunde, daß für Spinoza selber Vollkommenheit nur Macht ist, Lebensfreude der Ausdruck dieser wachsenden Vollkommenheit, aller Schmerz dagegen nichts als Ausdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht. Das tiefe christliche Seelenleben hat die Verbindung der Vorstellungen von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht und Glück des Lebens zerrissen. Ja die Verbindung des Gottesbewußtseins mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls tritt zurück hinter den Zusammenhang dieses erhabensten menschlichen Gefühls,[250] das sich von keinem Raume einschränken läßt, mit den Erfahrungen des ärmsten unruhevoll in engem Kreise durch die Natur seines Daseins bewegten Menschenherzens. Auf jener Verbindung beruhte vordem die Anschauung, welche die griechische Wissenschaft vom Kosmos hatte, und der künstlerische Aufbau eines Gegenbildes dieses Kosmos in der sittlich-gesellschaftlichen Welt, wie ihn die Staatswissenschaft der Alten entwarf. Nun soll die Vollkommenheit der Gottheit selber mit Knechtsgestalt und Leiden zusammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: sie sind im religiösen Erlebnis eins. Das Vollkommene hat nicht nötig, im Glanz der Gestirnwelt zu strahlen und in Glück und Macht sich zu sonnen. Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. So hat der Wille nun nicht mehr sein Genüge in der Herstellung eines objektiven Tatbestandes, in dem sichtbaren sittlichen Kunstwerk der Politik oder des vollendeten Staatsmannes und Redners. Vielmehr geht er hinter dieses alles als bloße Gestalt der Welt, in sich selber zurück. Der Wille, welcher objektive Tatbestände in der Welt gestaltet, verbleibt in der Region des Weltbewußtseins, der seine Ziele angehören. Im Christentum erfährt der Wille seinen eigenen metaphysischen Charakter. Damit berühren wir die Grenze unserer hier dem Menschlichen, Geschichtlichen allein zugewandten Betrachtungsweise.

Diese tiefe Veränderung im menschlichen Seelenleben schließt die Bedingungen in sich, unter welchen die Schranken der antiken Wissenschaft durchbrochen werden konnten und allmählich durchbrochen worden sind.

Wissen war für den griechischen Geist Abbilden eines Objektiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebnis zum Mittelpunkt aller Interessen der neuen Gemeinden; dieses ist aber ein einfaches Innewerden dessen, was in der Person, im Selbstbewußtsein gegeben ist; dieses Innewerden ist von einer Sicherheit erfüllt, welche jeden Zweifel ausschließt; die Erfahrungen des Willens und des Herzens verschlingen mit ihrem ungeheuren Interesse jeden anderen Gegenstand des Wissens, sie erweisen sich in ihrer Selbstgewißheit allmächtig gegenüber jedem Ergebnis der Betrachtung des Kosmos sowie gegenüber jedem Zweifel, der aus Erwägungen über das Verhältnis der Intelligenz zu den von ihr abzubildenden Gegenständen stammte. Hätte gleich damals dieser Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entsprechende Wissenschaft entwickelt: so hätte diese in einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung bestehen müssen.

Aber dieser innere Zusammenhang, welcher in bezug auf die Begründung der Wissenschaft zwischen dem Christentum und einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntnis besteht, hat im Mittelalter eine entsprechende Grundlegung der Wissenschaft nicht[251] hervorgebracht. Dies war in, der Übermacht der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Christentum nun langsam sich geltend zu machen begann. Alsdann wirkte von innen in derselben Richtung das Verhältnis der religiösen Erfahrung zu dem Vorstellen. Findet doch auch das innigste religiöse Seelenleben nur in einem Vorstellungszusammenhang seinen Ausdruck. Schleiermacher sagt einmal: »Die Entwicklung des Christentums im Abendlande hat eine große Masse des objektiven Bewußtseins zum Rückhalt; genauer genommen können wir aber diese Masse des objektiven. Bewußtseins nur als ein Verständigungsmittel ansehen.«223

Die Selbstgewißheit der inneren Erfahrungen des Willens und des Herzens, alsdann der Inhalt dieser Erfahrungen, sonach die Veränderung des tiefsten Seelenlebens: dies alles enthielt nun aber nicht nur die Anforderung einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung in sich, sondern es wirkte auch in anderer Beziehung auf die fernere intellektuelle Entwicklung, und zwar sowohl in bezug auf die Naturerkenntnis als auf die Geisteswissenschaften.

Einerseits trat eine Abwendung von der bloßen Gedankenmäßigkeit des Kosmos ein. Nicht in dieser in Allgemeinbegriffen darstellbaren ebenmäßigen Schönheit lag dem Christen der Zweck des Weltganzen; nicht in ihrer Betrachtung bestand ihm das, worin die menschliche Vernunft ihre Verwandtschaft mit der göttlichen genießt: die Stellung des Menschen zur Natur hat sich ihm umgeändert, und die Vorstellung der Schöpfung aus nichts, der Gegensatz von Geist und Fleisch lassen den Umfang dieser Veränderung ermessen. Andererseits bewirkte der veränderte Stand des Seelenlebens eine ganz neue Stellung des metaphysischen Bewußtseins zu der geistigen Welt. In dem erhabensten Gedanken, der über den Zusammenhang dieser geistigen Welt je gedacht worden ist, verknüpften sich die einfach großen Vorstellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der Menschen und ihrer Independenz in ihrem höchsten Verhältnisse von allen natürlichen Bedingungen ihres Daseins; derselbe begann jetzt seinen Siegeslauf. Ihn verwirklichte die gesellschaftliche Ordnung der Christengemeinde, die auf Aufopferung gegründet war und in welcher sich der einzelne Christ wie in einem schützenden Boote auf der wilden See des Lebens wohl behütet fühlte. Zwar war das Bewußtsein der inneren Freiheit des Menschen, die Aufhebung der Ungleichheiten und nationalen Schranken zwischen diesen Freien auch in dem weiteren Verlauf der antiken Philosophie, insbesondere bei den[252] Stoikern, vorhanden, aber diese innere Freiheit war nur für den Weisen erreichbar, hier dagegen war sie jedem durch den Glauben zugänglich. Dem allen entsprachen die Vorstellungen von einem genealogischen Zusammenhang in der Geschichte des Menschengeschlechts und einem metaphysischen Bande, das die menschliche Gesellschaft zusammenhält.

Das alles lag in dem Erlebnis des Christentums. Die ersten wissenschaftlichen Darstellungen desselben entstanden in einer Epoche des Ringens zwischen den alten Religionen und den christlichen Gemeinden, in den ersten Jahrhunderten nach Christus. Offenbarung, Religion und der Kampf der Religionen: das war in diesen Jahrhunderten die große Angelegenheit der Menschheit. Die Philosophie des hellenistischen Judentums, wie sie Philo ausgebildet hat, die Gnosis, der Neuplatonismus als die philosophische Restauration des Götterglaubens und die Philosophie der Kirchenväter haben die Grundzüge einer Weltformel gemeinsam, welcher noch Spinozas und Schopenhauers System die einfache Geschlossenheit ihres Aufbaus verdanken. In dieser Formel verschlingen sich bereits Natur und Geschichte. Aus der Gottheit leitet dieselbe die Entstehung des Endlichen als eines Unvollkommenen und der Veränderlichkeit Anheimgegebenen ab und zeigt alsdann die Rückkehr dieses Endlichen in Gott. So ist der Ausgangspunkt dieser Metaphysik die im religiösen Erlebnis ergriffene Gottheit, ihr Problem ist der Hervorgang des Endlichen in seinem angegebenen Charakter; dieser Hervorgang erscheint als ein lebendiger psychischer Prozeß, in welchem dann auch die arme Gebrechlichkeit des Menschenlebens entspringt: bis in einem gleichsam inversen Verlauf die Rückkehr in die Gottheit sich vollzieht.

Die Philosophie des Judentums entwickelte sich zuerst, die des Heidentums folgte: über beide erhob sich siegreich die Philosophie des Christentums. Denn sie trug eine machtvolle geschichtliche Realität in sich; eine Realität, die sich mit dem innersten Kerne jeder Wirklichkeit, die geschichtlich vorher da war, im Seelenleben berührte und sie in ihrem inneren Rapport zu sich empfand. Vor dieser verwehten die Ekstasen und Schauungen wie Sommerfäden im Winde. Indem das Christentum um den Sieg rang, ward in dem Kampfe der Religionen das Dogma zu der abschließenden Fassung gebracht, daß Gott, im Gegensatz zu allen partialen Offenbarungen, welche Juden und Heiden in Anspruch nahmen, ganz und ohne Rest in die Offenbarung durch Christus mit seinem Wesen eingegangen sei. Sonach wurden alle früheren Offenbarungen dieser als Vorstufen untergeordnet. Damit ward nun Gottes Wesen, im Gegensatz gegen seine Fassung in dem in sich geschlossenen Substanzbegriff des Altertums,[253] in geschichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und so entstand, das Wort im höchsten Verstande genommen, nun erst das geschichtliche Bewußtsein.

Wir verstehen, indem wir aus unserem eigenen tiefen Leben dem Staube des Vergangenen Leben und Atem wiedergeben. Es bedarf gleichsam der Versetzung unseres Selbst von einem Standort auf den andern, wenn wir den Fortgang der geschichtlichen Entwicklung von innen und in seinem zentralen Zusammenhang verstehen sollen. Die allgemeine psychologische Bedingung hierfür ist immer in der Phantasie vorhanden; aber erst wenn der geschichtliche Fortgang an den tiefsten Punkten, an welchen ein Fortrücken stattfindet, von der Phantasie nacherlebt wird, entsteht ein gründliches Verständnis der geschichtlichen Entwicklung. Als in einem Paulus in den Kämpfen des Gewissens das jüdische Gesetz, das heidnische Weltbewußtsein und der Christenglaube aneinanderstießen, als in seinem Erlebnis Gesetzesglaube und Christenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerstem Verstehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Erfahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in diesem Bewußtsein eine große geschichtliche Vergangenheit und eine große geschichtliche Gegenwart zusammen gegenwärtig, beide in ihrer tiefsten, der religiösen Grundlage erfaßt, ein innerer Übergang wurde erlebt, und so ging das volle Bewußtsein von einer geschichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf. Denn nur was in dem Reichtum des Gemütes nacherlebt wird von den Tatsächlichkeiten der Geschichte, wird verstanden. Und in dem Maße, als das Erleben in die tiefe und zentrale Grundlage der Kultur hinabreicht, vermittelt es: dies Verständnis; wenn wir auch alle nur teilweise verstehen, was vergangen ist. Die höchste Lebendigkeit der Phantasie, der größte vitale Reichtum des Inneren, reichen nicht aus, wo nicht das Seelenleben selber in diesem Sinne geschichtlich ist. So geht von hier zu dem Gedanken der Erziehung des Menschengeschlechtes in Clemens, von diesem zu dem Gottesstaat des Augustinus und von diesem Buch zu jedem neueren Versuch, den inneren Zusammenhang der Menschheitsgeschichte zu erfassen, eine Linie. Das Ringen der Religionen untereinander in dem von geschichtlicher Realität erfüllten christlichen Seelenleben hat das historische Bewußtsein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens hervorgebracht. Denn das vollkommene sittliche Leben war der Christengemeinde nicht in der Formel eines Sittengesetzes oder höchsten Gutes gedankenmäßig darstellbar: als ein unergründlich Lebendiges wurde es von ihr in dem Leben Christi und in dem Ringen des eigenen Willens erfahren; so trat es nicht zu anderen Sätzen in Beziehung, sondern zu anderen Gestalten des sittlich-religiösen Lebens, die vor ihm bestanden und unter denen es nun[254] erschien. Und dies historische Bewußtsein fand ein festes äußeres Gerüst in dem genealogischen Zusammenhang der Geschichte der Menschheit, welcher innerhalb des Judentums geschaffen worden war.

So waren für die intellektuelle Entwicklung der europäischen Menschheit ganz veränderte Bedingungen erwachsen. Die Züge des Willens waren aus der Stille des Einzellebens in den Vordergrund der Weltgeschichte getreten, welche ihn von dem ganzen Naturzusammenhang abscheiden: Aufopferung des Selbst, Anerkennung des Göttlichen im Schmerz und in der Niedrigkeit, aufrichtige Verneinung dessen, was er an sich verwerfen muß. Die Beziehung der Personen aufeinander in diesem ihren wesenhaften Kern, der über ihren ganzen Wert entscheidet, konstituierte ein Reich Gottes, innerhalb dessen jeder Unterschied der Völker, der Kulte und der Bildung aufgehoben war, das sonach von jeder Art politischen Verbandes sich loslöste. Und sollte die Metaphysik, welche das griechische Altertum geschaffen hatte, fortbestehen, so mußte sie zu dieser neuen Welt des Willens und der Geschichte ein Verhältnis gewinnen. Auch lagen in der geistigen Bildung der sinkenden alten Völker wie in dem Schicksal des religiösen Vorgangs Bedingungen, welche über die Richtung entschieden, in der das geschah.224

222

So Jakob Burckhardt, welcher in seinem Werk über die Zeit Konstantins des Großen die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt am tiefsten dargestellt hat, ebds. S. 140 ff.

223

Schleiermacher, Psychologie S. 195.

224

Vgl. S. 179.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 250-255.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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