VII

[393] Wir haben nun unsre benachbarten friedlichen Feinde hinreichend kritisiert. Wie sieht es aber bei uns zu Hause aus?

Und da müssen wir geradezu sagen: Eine stufenweise Herabsetzung der Dienstzeit kann für die Armee nur dann von Vorteil sein, wenn ein für allemal total unmöglich gemacht wird die Soldatenschinderei, die in den letzten Jahren eingerissen und in der Armee viel mehr zur Regel geworden ist, als man zugeben will.

Diese Soldatenschinderei ist das Gegenstück des Kamaschendienstes und Paradedrills; beide breiten sich von jeher in der preußischen Armee aus, sobald diese eine Zeitlang Friedensarmee wird, und von den Preußen geht sie über auch zu den Sachsen, Bayern, etc. Sie ist ein Erbstück aus der echten »altpreußischen« Zeit, wo der Soldat entweder angeworbner Lumpazius oder leibeigner Bauernsohn war und daher jede Mißhandlung und Entehrung von seinem junkerlichen Offizier ohne Murren hinnehmen mußte. Und namentlich der heruntergekommene Hungerleider- und Schmarotzeradel, der östlich der Elbe gar nicht schwach vertreten, stellt noch heute sein Kontingent der schlimmsten Soldatenschinder und wird in dieser Beziehung nur erreicht von den protzigen Bourgeoissöhnchen, die den Junker spielen möchten.

Ganz ausgestorben ist die Schurigelei des Soldaten nie in der preußischen Armee. Aber sie war früher seltner, gelinder und stellenweis humoristischer. Seitdem aber einerseits dem Soldaten immer mehr und mehr Dinge beigebracht werden mußten, während man andrerseits nicht daran dachte, den unnützen Plunder überlebter und sinnlos gewordener taktischer Übungen abzuschaffen, seitdem erhielt der Unteroffizier mehr und mehr stillschweigende Vollmacht zu jeder ihm passend erscheinenden Ausbildungsmethode und wurde andrerseits zur Anwendung gewaltsamer Mittel indirekt gezwungen durch das Gebot, in beschränkter Zeit seiner Korporalschaft dies[393] oder jenes genügend einzupauken. Dazu dann das Beschwerderecht des Soldaten, das der reine Hohn ist – kein Wunder, daß die beliebte altpreußische Methode wieder in lustigen Schwang kam, da wo die Soldaten es sich gefallen ließen. Denn ich bin sicher, daß Regimenter des Westens oder mit starkem Beisatz großstädtischer Leute weit weniger Soldatenschinderei aufweisen, als die, [die] vorzugsweise aus ostelbischen Landleuten zusammengesetzt sind.

Dazu gab es früher ein – wenigstens tatsächliches – Gegengewicht. Mit dem glattläufigen Vorderlader war es ein leichtes, beim Manöver einen Kiesel auf die Platzpatrone in den Laufrollen zu lassen, und da kam es oft genug vor, daß verhaßte Vorgesetzte beim Manöver aus Versehen erschossen wurden. Manchmal ging's auch fehl; ich kannte einen jungen Kölner, der 1849 auf diese Weise durch ein Geschoß seinen Tod fand, das seinem Hauptmann zugedacht war. Jetzt, mit dem kleinkalibrigen Hinterlader, geht das nicht mehr so leicht und so unbemerkt; dafür gibt uns die Statistik der Selbstmorde in der Armee den Barometerstand der Soldatenschinderei ziemlich genau an. Kommt aber im »Ernstfall« die scharfe Patrone in Verwendung, dann fragt es sich allerdings, ob da die alte Praxis nicht wieder Anhänger findet, wie das in den letzten Kriegen hie und da der Fall gewesen sein soll; zum Sieg würde das allerdings nichtA1 sehr beitragen.

Die Berichte englischer Offiziere stimmen ein im Lob des ausnehmend guten Verhältnisses zwischen Vorgesetzten und Soldaten der 1891 in der Champagne manövrierenden französischen Armee. In dieser Armee wären Dinge, wie sie bei uns so oft aus den Kasernen in die Presse dringen, geradezu unmöglich. Schon vor der großen Revolution scheiterte der Versuch, die preußischen Stockprügel einzuführen. Zur schlimmsten Zeit der algierischen Feldzüge und des zweiten Kaisertums hätte kein Vorgesetzter gewagt, dem französischen Soldaten den zehnten Teil dessen zu bieten, was vor unser aller Augen dem deutschen geboten worden ist. Und heute, nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, möchte ich den französischen Unteroffizier sehn, der sich unterfinge, den Soldaten zu befehlen, einander zu ohrfeigen oder ins Gesicht zu spucken. Welche Verachtung müssen aber nicht die französischen Soldaten für ihre künftigen Gegner empfinden, wenn sie hören und lesen, was diese sich bieten lassen, ohne zu zucken. Und daß die Leute in jeder französischen Kaserne das lesen und hören, dafür wird gesorgt.[394]

Bei den Franzosen herrscht in der Armee der Geist und das Verhältnis zwischen Offizier, Unteroffizier und Soldat, das in Preußen 1813 bis 1815 herrschte und unsere Soldaten zweimal nach Paris führte. Bei uns dagegen nähert das alles sich mehr und mehr dem Stand von 1806, wo der Soldat auch als kaum ein Mensch angesehn, geprügelt und geschunden wurde und wo zwischem ihm und dem Offizier eine unüberschreitbare Kluft lag – und dieser Zustand führte die Armee nach Jena und in die französische Gefangenschaft.

Es wird so viel geredet vom entscheidenden Wert der moralischen Faktoren im Krieg. Und was anders tut man im Frieden, als sie fast systematisch vernichten?[395]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22, S. 393-396.
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