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[461] In das Innere von Großgermanien sind römische Heere nur auf wenigen Marschlinien und während eines kurzen Zeitraums gekommen, und auch da nur bis zur Elbe; Kaufleute und sonstige Reisende kamen ebenfalls bis auf Tacitus' Zeit nur selten und nicht weit hinein. Kein Wunder, daß die Nachrichten über dies Land und seine Bewohner so ungenügend und widersprechend sind; es ist eher überraschend, daß wir überhaupt noch so viel Sichres erfahren.
Unter den Quellen selbst sind die beiden griechischen Geographen nur da unbedingt brauchbar, wo sie unabhängige Bestätigung finden. Beide waren Buchgelehrte, Sammler, in ihrer Art und nach ihren Mitteln auch kritische Siebter eines uns jetzt großenteils verlernen Materials. Persönliche Kenntnis des Landes fehlte ihnen. Strabo läßt die den Römern so wohlbekannte Lippe, statt in den Rhein, parallel mit Ems und Weser in die Nordsee fließen und ist ehrlich genug einzugestehn, daß die Gegend jenseits der Elbe gänzlich unbekannt sei. Während er sich der Widersprüche seiner Quellen und eigner Zweifel entledigt vermittelst eines naiven Rationalismus, der oft an den Anfang unsres Jahrhunderts erinnert, versucht der wissenschaftliche Geograph Ptolemäus, den einzelnen in seinen Quellen genannten deutschen Stämmen im unerbittlichen Gradnetz seiner Karte mathematisch bestimmte Plätze anzuweisen. So großartig das Gesamtwerk des Ptolemäus für seine Zeit, so irreleitend ist seine Geographie Germaniens. Erstens sind die ihm vorliegenden Nachrichten meist unbestimmt und widerspruchsvoll, oft direkt falsch. Zweitens aber ist seine Karte verzeichnet. Flußläufe und Gebirgszüge großenteils total unrichtig eingetragen. Es ist, als wenn ein ungereister Berliner Geograph, etwa um 1820, sich verpflichtet fühlte, den leeren Raum auf der Karte von Afrika auszufüllen. Indem er die Nachrichten aller Quellen seit Leo Africanus[461] in Harmonie bringt und jedem Fluß und jedem Gebirge einen bestimmten Lauf, jedem Volk einen genauen Sitz anweist. Bei solchen Versuchen, Unmögliches zu leisten, müssen die Irrtümer der benutzten Quellen noch verschärft werden. So setzt Ptolemäus viele Völker doppelt an; Lakkobarden an der Niederelbe, Langobarden vom Mittelrhein bis zur Mittelelbe; er kennt ein doppeltes Böhmen, das eine bewohnt von Markomannen, das andre von Bainochaimen usw. Wenn Tacitus ausdrücklich sagt, es gäbe keine Städte in Germanien, so weiß Ptolemäus, kaum 50 Jahre später, schon 96 Orte mit Namen anzuführen. Manche dieser Namen mögen richtige Ortsnamen sein; Ptolemäus scheint viele Nachrichten von Kaufleuten gesammelt zu haben, die um diese Zeit schon in größerer Zahl den Osten Deutschlands besuchten und die sich allmählich fixierenden Namen der von ihnen besuchten Orte kennenlernten. Woher andre rühren, zeigt das eine Beispiel der angeblichen Stadt Siatutanda, die unser Geograph aus den Worten: ad sua tutanda des Tacitus, wohl aus einer schlechten Handschrift, herausliest. Daneben finden sich Nachrichten von überraschender Genauigkeit und vom höchsten historischen Wert. So ist Ptolemäus der einzige unter den Alten, der die Langobarden, zwar unter dem entstellten Namen Lakkobarden, genau an die Stelle setzt, wo noch heute Bardengau und Bardenwic von ihnen zeugen; ebenso Ingrionen in dem Engersgau, wo noch heute Engers am Rhein bei Neuwied. So führt er, ebenfalls allein, die Namen von den litauischen Galinden und Suditen auf, die noch heute in den ostpreußischen Landschaften Gelünden und Sudauen fortbestehn. Solche Fälle aber beweisen nur seine große Gelehrsamkeit, nicht die Richtigkeit seiner übrigen Angaben. Zum Überfluß ist der Text, besonders was die Hauptsache, die Namen, angeht, entsetzlich verderbt.
Direkteste Quelle bleiben die Römer, namentlich die, welche das Land selbst besucht haben. Vellejus war in Deutschland als Soldat und schreibt als Soldat, etwa in der Art, wie ein Offizier der grande armée von den Feldzügen von 1812 und 1813 schreibt. Nicht einmal für die militärischen Ereignisse erlaubt seine Erzählung die Lokalitäten festzustellen; kein Wunder in einem Lande ohne Städte. Plinius hatte ebenfalls in Deutschland als Reiteroffizier gedient und u. a. die chaukische Küste besucht; auch hatte er in zwanzig Büchern alle mit den Germanen geführten Kriege beschrieben; hieraus schöpfte Tacitus. Dazu war Plinius der erste Römer, der an den Dingen im Barbarenlande ein mehr als politisch-militärisches, ein theoretisches Interesse nahmA2. Seine Nachricht von den deutschen[462] Stämmen muß daher, als auf eigener Erkundigung des wissenschaftlichen Enzyklopädisten Roms beruhend, von besonderm Gewicht sein. Daß Tacitus in Deutschland gewesen, wird traditionell behauptet, einen Beweis finde ich nicht. Jedenfalls konnte er zu seiner Zeit direkte Nachrichten nur dicht an Rhein und Donau sammeln.
Die Völkertafeln der »Germania« [des Tacitus] und des Ptolemäus unter sich und mit dem Gewirr der übrigen alten Nachrichten in Einklang zu bringen, haben zwei klassische Bücher vergebens versucht: Kaspar Zeuß' »[Die] Deutsche[n und die Nachbarstämme]« und Jakob Grimms »Geschichte der deutschen Sprache«. Was diesen beiden genialen Gelehrten und was auch seitdem nicht gelungen, wird man wohl als mit unsern gegenwärtigen Mitteln unlösbar ansehn dürfen. Die Unzulänglichkeit dieser Mittel geht grade daraus hervor, daß jene beide genötigt waren, sich falsche Hülfstheorien zu konstruieren; Zeuß, daß das letzte Wort aller streitigen Fragen in Ptolemäus zu suchen sei, obwohl niemand die Grundirrtümer des Ptolemäus schärfer kennzeichnet als grade er; Grimm, daß die Macht, die das römische Weltreich umstürzte, auf einem breiteren Boden erwachsen sein müsse als das Gebiet zwischen Rhein, Donau und Weichsel, und daß deshalb mit Goten und Daken noch der größte Teil des Landes im Norden und Nordosten der Unterdonau als deutsch anzusetzen sei. Sowohl Zeuß' wie Grimms Annahmen sind heute veraltet.
Versuchen wir wenigstens einige Klarheit in die Sache zu bringen, indem wir die Aufgabe beschränken. Gelingt es uns, eine allgemeinere Gruppierung der Völkerschaften nach einigen wenigen Hauptstämmen fertigzubringen, so wird der späteren Detailforschung ein sicherer Boden gewonnen. Und hier bietet uns die Stelle des Plinius einen Anhaltspunkt, dessen Festigkeit sich im Verfolg der Untersuchung mehr und mehr bewährt und der jedenfalls auf weniger Schwierigkeiten führt, uns in weniger Widersprüche verwickelt als Irgendein andrer.
Allerdings, wenn wir von Plinius ausgehn, müssen wir die unbedingte Anwendbarkeit der taciteischen Trias und der alten Sage von des Mannus drei Söhnen Ing, Isk und Ermin fallenlassen. Aber erstens weiß Tacitus selbst mit seinen Ingävonen, Iskävonen und Herminonen nichts anzufangen. Er macht nicht den geringsten Versuch, die von ihm einzeln aufgezählten Völker unter jene drei Hauptstämme zu gruppieren. Und zweitens ist dies auch später niemandem gelungen. Zeuß strengt sich gewaltig an, die gotischen Völker, die er als »Istävonen« faßt, in die Trias einzuzwängen, und bringt dadurch nur eine noch größere Verwirrung zustande. Die Skandinavier hineinzubringen, versucht er nicht einmal und konstituiert sie als[463] vierten Hauptstamm. Damit ist aber die Trias ebensosehr durchbrochen wie mit den fünf Hauptstämmen des Plinius.
Sehen wir uns nun diese fünf Stämme im einzelnen an.
I. Vindili, quorum pars Burgundiones, Varini, Carini, Guttones.
Wir haben hier drei Völker: die Vandalen, die Burgunder und die Goten selbst, von denen es feststeht, erstens, daß sie gotische Dialekte sprachen, und zweitens, daß sie um jene Zeit tief im Osten Germaniens wohnten: Goten an und jenseits der Weichselmündung, Burgunder von Ptolemäus in die Wartagegend bis zur Weichsel gesetzt, Vandalen von Dio Cassius (der das Riesengebirge nach ihnen benennt) nach Schlesien. Zu diesem gotischen Hauptstamm, wie wir ihn nach der Sprache bezeichnen wollen, dürfen wir wohl unbedingt alle jene Völker rechnen, deren Dialekt Grimm auf den gotischen zurückgeführt hat, also zunächst die Gegenden, denen Prokop gradezu, wie auch den Vandalen, gotische Sprache zuschreibt. Von ihrem früheren Wohnsitz wissen wir nichts, ebensowenig von dem der Heruler, die Grimm neben Skiren und Rugiern auch zu den Goten stellt. Die Skiren nennt Plinius an der Weichsel, die Rugier Tacitus gleich neben den Goten an der Küste. Die gotische Mundart hält hiernach ein ziemlich kompaktes Gebiet zwischen den vandalischen Bergen (Riesengebirge), der Oder und der Ostsee bis an und über die Weichsel hinaus besetzt.
Wer die Cariner waren, wissen wir nicht. Einige Schwierigkeit verursachen die Warner. Tacitus führt sie neben Angeln unter den sieben der Nerthus opfernden Völkern an, von denen schon Zeuß mit Recht bemerkt, daß sie ein eigentümlich ingävonisches Aussehn haben. Die Angeln aber rechnet Ptolemäus zu den Sueven, was offenbar falsch. Zeuß sieht in einem oder zwei entstellten Namen bei demselben Geographen die Warner und stellt sie demgemäß ins Havelland und zu den Sueven. Die Überschrift des alten Volksrechts identifiziert ohne weiteres Warner und Thüringer; aber das Recht selbst ist den Warnern und Angeln gemeinsam. Nach allem diesem muß es zweifelhaft bleiben, ob die Warner gotischem oder ingävo nischem Stamm zuzurechnen sind; da sie gänzlich verschollen, ist die Frage auch nicht von besondrer Bedeutung.
II. Altera pars Ingaevones, quorum pars Cimbri, Teutoni ac Chaucorum gentes.
Plinius weist hier den Ingävonen also zunächst die cimbrische Halbinsel und das Küstenland zwischen Elbe und Ems als Wohnsitz an. Von den drei genannten Völkern waren die Chauken wohl unzweifelhaft nächste[464] Verwandte der Friesen. Friesische Sprache herrscht noch heute an der Nordsee, im holländischen Westfriesland, im oldenburgischen Saterland, im schleswigschen Nordfriesland. Zur Karolingerzeit wurde an der ganzen Küste vom Sinkfal (der Bucht, die noch heute die Grenze zwischen dem belgischen Flandern und dem holländischen Seeland bildet) bis nach Sylt und dem schleswigschen Widau und wahrscheinlich noch ein gut Stück weiter nach Norden fast nur friesisch gesprochen; nur zu beiden Seiten der Elbmündung trat sächsische Sprache bis ans Meer.
Unter Cimbern und Teutonen versteht Plinius offenbar die damaligen Bewohner des cimbrischen Chersones, die also zum chaukisch-friesischen Sprachstamm gehörten. Wir dürfen also mit Zeuß und Grimm in den Nordfriesen direkte Nachkommen jener ältesten Halbinsel-Deutschen sehn.
Dahlmann (»Gesch[ichte] von Dänemark«) behauptet zwar, die Nordfriesen seien erst im fünften Jahrhundert von Südwesten her nach der Halbinsel eingewandert. Aber er gibt nicht den geringsten Beleg dafür, und seine Angabe ist auch bei allen späteren Untersuchungen mit Recht ganz unberücksichtigt geblichen.
Ingävonisch wäre hiernach zunächst gleichbedeutend mit Friesisch, in dem Sinne, daß wir den ganzen Sprachstamm nach der Mundart benennen, von der allein uns ältere Denkmäler und fortlebende Dialekte geblieben sind. Aber ist damit der Umfang des ingävonischen Stammes erschöpft? Oder hat Grimm recht, wenn er die Gesamtheit dessen, was er, nicht ganz genau, als niederdeutsch bezeichnet, darunter zusammenfaßt, also neben den Friesen noch die Sachsen?
Geben wir von vornherein zu, daß bei Plinius den Sachsen ein ganz unrichtiger Platz angewiesen wird, indem die Cherusker zu den Herminonen gestellt werden. Wir werden später finden, daß in der Tat nichts übrigbleibt, als die Sachsen ebenfalls den Ingävonen zuzurechnen und so diesen Hauptstamm als den friesisch-sächsischen zu fassen.
Es ist hier der Ort, von den Angeln zu sprechen, die Tacitus möglicherweise, Ptolemäus mit Bestimmtheit zu den Sueven rechnet. Dieser setzt sie aufs rechte Elbufer, den Langobarden gegenüber, womit, wenn die Angabe überhaupt etwas Richtiges enthalten soll, nur die wirklichen Langobarden an der Niederelbe gemeint sein können; die Angeln kämen also von Lauenburg etwa bis in die Prignitz. Später finden wir sie in der Halbinsel selbst, wo ihr Name sich erhalten hat und von wo sie mit den Sachsen nach Britannien zogen. Ihre Sprache erscheint jetzt als Element des Angelsächsischen, und zwar als das entschieden friesische Element dieser neugebildeten Mundart. Was auch aus den im Innern Deutschlands zurückgebliebenen[465] oder verschlagenen Angeln geworden sein mag, diese Tatsache allein zwingt uns, die Angeln zu den Ingävonen zu schlagen, und zwar zum friesischen Zweig derselben. Ihnen ist der ganze, weit mehr friesische als sächsische Vokalismus des Angelsächsischen zu danken. Ihnen der Umstand, daß die Weiterentwicklung dieser Sprache in vielen Fällen auffallend der der friesischen Dialekte parallel geht. Von allen kontinentalen Dialekten stehn die friesischen dem englischen heute am nächsten. So ist auch die Umwandlung der Kehllaute in Zischlaute im Englischen nichtfranzösischen, sondern friesischen Ursprungs. Das englische ch = Č statt k, das englische dž für g vor weichen Vokalen konnte wohl aus friesischem tz, tj für k, dz für g entstehn, nie aber aus französischem ch und g.
Mit den Angeln müssen wir auch die Jüten zum friesisch-ingävonischen Stamm schlagen, ob sie nun schon zu Plinius' oder Tacitus' Zeit auf der Halbinsel saßen oder erst später dahin eingewandert sind. Grimm findet ihren Namen in dem der Eudoses, einem der Nerthus dienenden Völker des Tacitus; sind die Angeln ingävonisch, so wird es schwer, die übrigen Völker dieser Gruppe einem andern Stamm zuzuweisen. Dann reichten die Ingävonen bis in die Gegend der Odermündung, und die Lücke zwischen ihnen und den gotischen Völkern wäre ausgefüllt.
III. Proximi autem Rheno Iscaevones (alias Istaevones), quorum pars Sicambri.
Schon Grimm und nach ihm andre, z.B. Waitz, identifizierten mehr oder weniger Iskävonen und Franken. Was Grimm aber irremacht, ist die Sprache. Seit der Mitte des neunten Jahrhunderts sind alle deutschen Dokumente des Frankenreichs in einer von der althochdeutschen nicht zu trennenden Mundart abgefaßt; Grimm nimmt also an, daß das Altfränkische in der Fremde untergegangen und in der Heimat durch Hochdeutsch ersetzt worden sei, und so schlägt er denn die Franken schließlich zu den Hochdeutschen.
Daß das Altfränkische den Wert eines selbständigen, zwischen Sächsisch und Hochdeutsch die Mitte haltenden Dialekts hat, gibt Grimm selbst als das Resultat seiner Untersuchung der erhaltenen Sprachreste an. Dies genügt hier vorderhand; eine nähere Untersuchung der fränkischen Sprachverhältnisse, über wel che noch viel Unklarheit herrscht, muß einer besondern Anmerkung vorbehalten bleiben.
Allerdings erscheint das dem iskävonischen Stamm zufallende Gebiet verhältnismäßig klein für einen ganzen deutschen Hauptstamm, und noch[466] dazu für einen, der eine so gewaltige Rolle in der Geschichte gespielt hat. Vom Rheingau an begleitet es den Rhein, bis an die Quellen der Dill, Sieg, Ruhr, Lippe und Ems ins innere Land reichend, nach Norden durch Friesen und Chauken von der See abgeschnitten, dazu an der Rheinmündung durchsetzt von Völkertrümmern andern, meist chattischen Stamms: Batavern, Chattuariern etc. Zu den Franken gehören dann noch die links vom Niederrhein angesiedelten Deutschen; ob auch Triboker, Vangionen, Nemeter? Der geringe Umfang dieses Gebiets erklärt sich indes durch den Widerstand, den am Rhein die Kelten und seit Cäsar die Römer der Ausbreitung der Iskävonen entgegensetzten, während im Rücken schon Cherusker sich niedergelassen hatten und von der Seite Sueven, namentlich Chatten, wie von Cäsar bezeugt, sie mehr und mehr einengten. Daß hier eine für deutsche Verhältnisse dichte Bevölkerung auf kleinem Raum zusammengedrängt war, beweist das fortwährende Andringen über den Rhein: anfangs durch erobernde Scharen, später durch freiwilligen Übertritt auf römisches Gebiet, wie bei den Ubiern. Aus demselben Grunde gelang es hier und nur hier den Römern mit Leichtigkeit, schon früh bedeutende Teile iskävonischer Volksstämme auf römisches Gebiet überzuführen.
Die in der Anmerkung über den fränkischen Dialekt zu führende Untersuchung wird den Beweis liefern, daß die Franken eine gesonderte, in sich in verschiedne Volksstämme gegliederte Gruppe der Deutschen ausmachen, einen besondern, in mannigfaltige Mundarten zerfallenden Dialekt sprechen, kurz, alle Kennzeichen eines germanischen Hauptstamms besitzen, wie dies erforderlich ist, um sie mit den Iskävonen für identisch zu erklären. Über die einzelnen, diesem Hauptstamm angehörigen Völkerschaften hat bereits J. Grimm das Nötige gesagt. Er rechnet hierher außer den Sigambern Ubier, Chamaver, Brukterer, Tenkterer und Usipeter, also die Völker, die das früher von uns als iskävonisch bezeichnete rechtsrheinische Gebiet bewohnten.
IV. Mediterranei Hermiones, quorum Suevi, Hermunduri, Chatti, Cherusci.
Schon J. Grimm identifiziert die Herminonen, um des Tacitus' genauere Schreibweise zu gebrauchen, mit den Hochdeutschen. Der Name Sueven, der nach Cäsar alle Hochdeutschen umfaßte, soweit sie ihm bekannt, fängt an, sich zu differenzieren. Thüringer (Hermunduren) und Hessen (Chatten) treten als gesonderte Völker auf. Noch ungeschieden bleiben die übrigen[467] Sueven. Wenn wir die vielen mysteriösen, schon in den nächsten Jahrhunderten verschollenen Namen zunächst als unergründlich beiseite lassen, so müssen diese Sueven doch drei große, später in die Geschichte eingreifende Stämme hochdeutscher Zunge umfassen: die Alamannen-Schwaben, die Bayern und die Langobarden. Die Langobarden, das wissen wir bestimmt, wohnten am linken Ufer der Niederelbe, um den Bardengau, vereinzelt von ihren übrigen Stammesgenossen, vorgeschoben mitten zwischen ingävonischen Völkern; diese ihre isolierte Stellung, die durch lange Kämpfe behauptet werden mußte, schildert Tacitus vortrefflich, ohne ihre Ursache zu kennen. Die Bayern, wie wir seit Zeuß und Grimm ebenfalls wissen, wohnten unter dem Namen Markomannen in Böhmen; Hessen und Thüringer in ihren jetzigen Wohnsitzen und in den südlich anstoßenden Gebieten. Da nun südlich von Franken, Hessen und Thüringern römisches Gebiet begann, bleibt für die Schwaben-Alamannen kein andrer Platz übrig als zwischen Elbe und Oder, in der heutigen Mark Brandenburg und dem Königreich Sachsen; und hier finden wir ein suevisches Volk, die Semnonen. Mit diesen also wären sie wohl identisch und grenzten im Nordwesten an Ingävonen, im Nordosten und Osten an gotische Stämme.
Soweit geht alles ziemlich glatt ab. Nun aber rechnet Plinius auch die Cherusker zu den Herminonen, und hierin macht er entschieden ein Versehn. Schon Cäsar trennt sie bestimmt von den Sueven, zu denen er noch die Chatten rechnet. Auch Tacitus weiß nichts von einer Zusammengehörigkeit der Cherusker mit irgendwelchem hochdeutschen Stamm. Ebensowenig Ptolemäus, der doch die Suevennamen bis über die Angeln ausdehnt. Die bloße Tatsache, daß die Cherusker den Raum zwischen Chatten und Hermunduren im Süden und Langobarden im Nordosten ausfüllen, reicht noch lange nicht hin, um daraus auf nähere Stammesverwandtschaft zu schließen; wenn auch vielleicht gerade sie den Plinius hier irregeführt hat.
Zu den Hochdeutschen hat meines Wissens kein Forscher, dessen Meinung in Betracht kommt, die Cherusker gerechnet. Bleibt also nur die Frage, ob sie zu den Ingävonen oder Iskävonen zu schlagen sind. Die wenigen Namen, die uns überliefert, zeigen fränkisches Gepräge: ch statt des späteren h in Cherusci, Chariomerus; e statt i in Segestes, Segimerus, Segimundus. Aber fast alle deutschen Namen, die den Römern von der Rheinseite her kommen, scheinen in fränkischer Form durch Franken ihnen überliefert. Und ferner wissen wir nicht, ob die Gutturalaspirata der ersten Lautverschiebung, noch im 7ten Jahrhundert bei den Franken ch. Im ersten Jahrhundert nicht bei allen Westdeutschen ch lautete und sich erst später[468] in das allen gemeinsame h abschwächte. Auch sonst finden wir keine Stammesverwandtschaft der Cherusker mit Iskävonen, wie sie sich z.B. in der Aufnahme der dem Cäsar entronnenen Reste der Usipeter und Tenkterer durch die Sigamber zeigt. Ebenso deckt sich das von den Römern zu Varus' Zeit besetzte und als Provinz behandelte rechtsrheinische Gebiet mit dem iskävonisch-fränkischen. Hier lagen Aliso und die übrigen römischen Festen; vom Cheruskerland scheint höchstens der Strich zwischen Osning und Weser wirklich besetzt gewesen zu sein; jenseits waren Chatten, Cherusker, Chauken, Friesen mehr oder weniger unsichre, durch Furcht im Zaum gehaltene, aber in ihren innern Angelegenheiten autonome und von ständiger römischer Besetzung befreite Bundesgenossen. Die Römer machten in dieser Gegend bei stärkerem Widerstand stets die Stammesgrenze zum zeitweiligen Abschnitt der Eroberung. So hatte es auch Cäsar in Gallien gemacht; an der Grenze der Belgier machte er halt und überschritt sie erst, als er des eigentlich sog. keltischen Galliens sicher zu sein glaubte.
Es bleibt also nichts übrig, als die Cherusker und die ihnen nächstverwandten kleineren Nachbarvölker mit J. Grimm und der gewöhnlichen Ansicht zum sächsischen Stamm und damit zu den Ingävonen zu schlagen. Hierfür spricht auch, daß grade im altcheruskischen Gebiet das alte sächsische a gegenüber dem in Westfalen herrschenden o des genitivus pluralis und schwachen Masculinums sich am reinsten erhalten hat. Hiermit fallen alle Schwierigkeiten; der ingävonische Stamm erhält wie die andren ein ziemlich abgerundetes Gebiet, in das nur die herminonischen Langobarden etwas vorspringen. Von den beiden großen Abteilungen des Stammes hält die friesisch-anglisch-jütische die Küste und wenigstens den nördlichen und westlichen Teil der Halbinsel besetzt, die sächsische das innere Land und vielleicht auch jetzt schon einen Teil von Nordalbingien, wo bald darauf Ptolemäus die Saxones zuerst nennt.
V. Quinta pars Peucini, Basternae contermini Dacis.
Das Wenige, das wir von diesen beiden Völkern wissen, stempelt sie, wie schon die Namensform Basternae, zu Stammverwandten der Goten. Wenn Plinius sie als besondern Stamm aufführt, so rührt dies wohl davon her, daß er seine Kunde von ihnen von der Unterdonau her, durch griechische Vermittlung erhielt, während seine Kenntnis von den gotischen Völkern an Oder und Weichsel am Rhein und der Nordsee geschöpft waren und daher der Zusammenhang von Goten und Bastarnern ihm entging.[469] Bastarner wie Peukiner sind an Karpaten und Donaumündung zurückgebliebne, noch längere Zeit herumziehende deutsche Völker, die das spätere große Gotenreich vorbereiten. In dem sie verschollen sind.
VI. Die Hillevionen, unter welchem Gesamtnamen Plinius die germanischen Skandinavier aufführt, erwähne ich nur der Ordnung wegen und um nochmals zu konstatieren, daß alle alten Schriftsteller diesem Hauptstamm nur die Inseln (wozu auch Schweden und Norwegen gerechnet) anweisen, ihn von der cimbrischen Halbinsel ausschließend.
Somit hätten wir fünf germanische Hauptstämme mit fünf Hauptdialekten.
Der gotische, im Osten und Nordosten, hat im genitivus pluralis des Masculinums und Neutrums ê, das Femininum ô und ê; das schwache Masculinum hat a. Die Flexionsformen der Präsenskonjugation (des Indikativs) schließen sich, unter Berücksichtigung der Lautverschiebung, noch eng an die der urverwandten Sprachen, besonders des Griechischen und Lateinischen.
Der ingävonische, im Nordwesten, hat im genitivus pluralis a, für das schwache Masculinum ebenfalls a; impraesens indicativus alle drei Pluralpersonen auf d oder dh mit Ausstoßung aller Nasalen. Er teilt sich in die beiden Hauptzweige des Sächsischen und Friesischen, die im Angelsächsischen wieder zu einem verschmelzen. An den friesischen Zweig schließt sich der skandinavische Stamm; genitivus pluralis auf a, schwaches Masculinum auf i, das aus a geschwächt ist, wie die ganze Deklination beweist. Im praesens indicativus ist das ursprüngliche s der II. Person singularis in r übergegangen, die I. Person pluralis bewahrt m, die II. dh, die übrigen Personen sind mehr oder weniger verstümmelt.
Diesen dreien gegenüber stehn die beiden südlichen Stämme: der iskävonische und herminonische, in späterer Ausdrucksweise der fränkische und hochdeutsche. Beiden ist gemein das schwache Masculinum auf o; höchstwahrscheinlich auch der genitivus pluralis auf ô, obwohl er im Fränkischen nicht belegt ist und in den ältesten westlichen (salischen) Denkmälern der accusativus pluralis auf as endigt. In der Präsenskonjugation stehn beide Dialekte, soweit wir dies fürs Fränkische belegen können, nahe zusammen und schließen sich, hierin dem Gotischen ähnlich, eng an die urverwandten Sprachen an. Beide Dialekte aber in einen zusammenzuwerfen verhindert uns die ganze Sprachgeschichte, von den sehr bedeutenden und altertümlichen Eigenheiten des ältesten Fränkisch an bis auf den großen Abstand der heutigen Mundarten beider; ebenso wie uns die ganzeGeschichte der Völker selbst unmöglich macht, beide zu einem Hauptstamm zu werfen.
Wenn ich in dieser ganzen Untersuchung nur auf die Flexionsformen, nicht aber auf die Lautverhältnisse Rücksicht genommen, so erklärt sich das aus den bedeutenden Veränderungen, die in diesen – wenigstens in vielen Dialekten – zwischen dem ersten Jahrhundert und der Abfassungszeit unsrer ältesten Sprachquellen stattgefunden. In Deutschland brauche ich bloß an die zweite Lautverschiebung zu erinnern; in Skandinavien zeigen die Stabreime der ältesten Lieder, wie sehr die Sprache sich zwischen der Zeit ihrer Abfassung und der ihrer Niederschrift verändert hat. Was hier noch zu leisten ist, wird wohl von deutschen Sprachforschern von Fach noch geleistet werden, hier hätte es die Untersuchung nur unnötig verwickelt gemacht.[473]
A2 | In der Handschrift gestrichen: »Dazu war er Naturforscher.« |
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