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[425] Die Deutschen sind keineswegs die ersten Bewohner des jetzt von ihnen eingenommenen Landes.1 Wenigstens drei Racen sind ihnen vorhergegangen.
Die ältesten Spuren des Menschen in Europa finden sich in einigen Schichten Südenglands, deren Alter bis jetzt nicht genau festzustellen ist, die aber wahrscheinlich zwischen die beiden Vergletscherungsperioden der sog. Eiszeit fallen.
Nach der zweiten Gletscherperiode, mit dem allmählich wärmer werdenden Klima, tritt der Mensch über ganz Europa, Nordafrika und Vorderasien bis nach Indien hinein auf, in Gemeinschaft mit den ausgestorbenen großen Dickhäutern (Mammut, gradzahniger Elefant, wolliges Rhinozeros) und Raubtieren (Höhlenlöwe, Höhlenbär) wie mit noch lebenden Tieren (Renntier, Pferd, Hyäne, Löwe, Bison, Auerochs). Die dieser Zeit angehörigen Werkzeuge weisen auf eine sehr niedrige Kulturstufe hin: ganz rohe Steinmesser, birnförmige, steinerne Hacken oder Äxte, die ohne Stiel gebraucht wurden. Schabmesser zum Reinigen von Tierhäuten, Bohrer, alles von Feuerstein, etwa die Entwicklungsstufe der jetzigen Eingebornen Australiens andeutend. Die bis jetzt gefundenen Knochenreste erlauben keinen Schluß auf den Körperbau dieser Menschen, deren weite Verbreitung und überall gleichförmige Kultur auf eine sehr lange Dauer dieser Periode schließen läßt.
Was aus diesen frühpaläolithischen Menschen geworden, wissen wir nicht. In keinem der Länder, wo sie aufgetreten, auch in Indien nicht, sind Menschenracen erhalten, die als ihre Vertreter in der heutigen Menschheit gelten können.
In den Höhlen Englands, Frankreichs, der Schweiz, Belgiens und Süddeutschlands[425] finden sich die Werkzeuge dieser untergegangenen Menschen meist nur in den untersten Schichten des abgelagerten Bodens. Über dieser untersten Kulturschicht, und häufig von ihr getrennt durch eine dickere oder dünnere Lage Tropfstein, findet sich eine zweite, Werkzeuge führende Ablagerung. Diese, einem späteren Zeitabschnitt angehörigen Werkzeuge sind bereits weit geschickter gearbeitet und auch in ihrem Material mannigfacher. Die Steininstrumente sind zwar noch nicht poliert, aber doch schon zweckmäßiger in Anlage und Ausführung; daneben finden sich Pfeil- und Speerspitzen von Stein, Renntierhorn, Knochen; Dolche und Nähnadeln von Bein oder Geweih, Halsgeschmeide von durchbohrten Tierzähnen etc. Auf einzelnen Stücken finden wir teilweise sehr lebendige Zeichnungen von Tieren, Renntieren, Mammut, Auerochse, Seehund, Walfisch, auch Jagdszenen mit nackten Menschen, selbst Anfänge von Skulptur in Horn.
Treten die frühpaläolithischen Menschen in Begleitung von Tieren auf, die vorwiegend südlicher Herkunft waren, so erscheinen neben den spät-paläolithischen Tiere nordischen Ursprungs: zwei noch lebende nordische Bärenarten, der Polarfuchs, Vielfraß, die Schnee-Eule. Mit diesen Tieren sind auch diese Menschen wahrscheinlich von Nordosten her eingewandert, und ihre letzten Reste in der heutigen Welt scheinen die Eskimos zu sein. Die Werkzeuge beider stimmen nicht nur im einzelnen, sondern auch in der Gesamtgruppe vollständig zusammen; die Zeichnungen ebenfalls; die Nahrung beider wird von fast genau denselben Tieren geliefert; die Lebensweise, soweit wir sie für die untergegangene Race feststellen können, stimmt genau zusammen.
Auch diese Eskimos, die bis jetzt nur nördlich von den Pyrenäen und Alpen nachgewiesen, sind vom europäischen Boden verschwunden. Wie die amerikanischen Rothäute noch im vorigen Jahrhundert die Eskimos durch einen unerbittlichen Vernichtungskrieg nach dem äußersten Norden zurückdrängten, so scheint auch in Europa die nun auftretende neue Race sie allmählich zurückgetrieben und endlich ausgerottet zu haben, ohne sich mit ihnen zu vermischen.
Diese neue Race kam, wenigstens im westlichen Europa, von Süden; sie drang wahrscheinlich von Afrika nach Europa zur Zeit, wo beide Weltteile sowohl bei Gibraltar wie bei Sizilien noch durch Land verbunden waren. Sie stand auf einer bedeutend höheren Kulturstufe als ihre Vorgänger. Sie kannte den Ackerbau; sie hatte Haustiere (Hund, Pferd, Schaf, Ziege, Schwein, Rindvieh). Sie kannte die Handtöpferei, das Spinnen und Weben. Ihre Werkzeuge waren zwar noch von Stein, aber schon mit großer Sorgfalt gearbeitet und meistenteils glatt geschliffen (sie werden als neolithische[426] von denen der früheren Perioden unterschieden). Die Äxte haben Stiele und werden damit zum ersten Mal zum Holzfällen brauchbar; damit wird es möglich, Baumstämme zu Booten auszuhöhlen, auf denen man zu den jetzt durch allmähliche Bodensenkung vom Festland getrennten britischen Inseln überfahren konnte.
Im Gegensatz zu ihren Vorgängern bestatteten sie ihre Toten sorgfältig; es sind uns daher Skelette und Schädel genug erhalten, um über ihren Körperbau urteilen zu können. Die langen Schädel, die kleine Statur (Durchschnitt der Weiber etwa 1,46, der Männer 1,65 Meter), die niedrige Stirn, die Adlernase, die starken Brauen und schwachen Backenknochen und mäßig entwickelten Kinnbacken weisen auf eine Race hin, als deren letzte heutige Vertreter die Basken erscheinen. Die neolithischen Einwohner nicht nur Spaniens, sondern auch Frankreichs, Britanniens und des ganzen Gebiets mindestens bis an den Rhein, sind nach aller Wahrscheinlichkeit iberischer Race gewesen. Auch Italien wurde vor Ankunft der Arier von einer ähnlichen kleinen, schwarzhaarigen Race bewohnt, über deren nähere oder entferntere Verwandtschaft zu den Basken heute schwer zu entscheiden ist.
Virchow verfolgt diese langen Baskenschädel bis tief nach Norddeutschland und Dänemark hinein; und die ältesten neolithischen Pfahlbauten des nördlichen Alpenabhangs gehören ihnen ebenfalls an.
Andrerseits erklärt Schaaffhausen eine Reihe nächst des Rheins gefundener Schädel für entschieden finnisch, speziell lappisch, und kennt die älteste Geschichte als nördliche Grenznachbarn der Deutschen in Skandinavien, der Litauer und Slawen in Rußland nur Finnen. Diese beiden kleinen, dunkelhaarigen Racen, die eine von jenseits des Mittelmeers, die andre direkt aus Asien nördlich vom Kaspischen Meer her eingewandert, scheinen hiernach in Deutschland zusammengestoßen zu sein. Unter welchen Umständen, bleibt vollständig im dunkeln.
Auf diese verschiednen Einwanderungen folgt endlich, auch noch in vorgeschichtlicher Zeit, die des letzten großen Hauptstamms, der Arier, der Völker, deren Sprachen sich um die altertümlichste unter ihnen, um das Sanskrit, gruppieren. Die frühesten Einwanderer waren die Griechen und Lateiner, die die beiden südöstlichen Halbinseln Europas in Besitz nahmen; daneben wohl die jetzt verschollenen Skythen, Bewohner der Steppen nördlich des Schwarzen Meers, dem medisch-persischen Stamm wohl zunächst verwandt. Dann folgten die Kelten. Von ihrem Wanderzug wissen wir nur, daß er nördlich des Schwarzen Meers erfolgte und durch Deutschland ging. Ihre vordersten Massen drangen nach Frankreich, eroberten das Land[427] bis an die Garonne und unterwarfen selbst einen Teil des westlichen und mittleren Spaniens. Das Meer hier, der Widerstand der Iberer dort brachte sie zum Stehen, während hinter ihnen von beiden Seiten der Donau her andre keltische Stämme noch nachdrängten. Hier, am äußersten Ozean und an den Donauquellen, kennt sie Herodot. Sie müssen aber schon bedeutend früher eingewandert sein. Die Gräber und sonstigen Funde aus Frankreich und Belgien beweisen, daß die Kelten, als sie das Land in Besitz nahmen, noch keine metallnen Werkzeuge kannten; dagegen treten sie in Britannien von Anfang an mit Bronzewerkzeugen auf. Zwischen der Eroberung Galliens und dem Zug nach Britannien muß also eine gewisse Zeit verflossen sein, während deren die Kelten durch Handelsverbindungen mit Italien und Marseille die Bronze kennenlernten und bei sich einführten.
Inzwischen drängten die hinteren Keltenvölker, selbst von den Deutschen gedrängt, immer stärker nach; vorn waren die Auswege versperrt, und so entstand ein Rückstrom in südöstlicher Richtung, wie wir ihn später bei den germanischen und slawischen Völkerzügen wiederfinden. Keltenstämme überstiegen die Alpen, überzogen Italien, die thrakische Halbinsel und Griechenland, und fanden teils ihren Untergang, teils faste Sitze in der Po-Niederung und in Kleinasien. Die Masse des Stammes finden wir um jene Zeit (-400 bis -3002) in Gallien bis zur Garonne, in Britannien und Irland und nördlich der Alpen, zu beiden Seiten der Donau, bis an den Main und das Riesengebirge, wo nicht darüber hinaus. Denn, wenn auch die keltischen Berg- und Flußnamen in Norddeutschland weniger häufig und unbestritten sind als im Süden, so ist doch nicht anzunehmen, daß die Kelten den schwierigeren Weg durch das gebirgige Süddeutschland allein gewählt haben sollen, ohne zugleich den bequemeren durch die offene norddeutsche Ebene zu benutzen.
Die keltische Einwanderung verdrängte die vorgefundnen Einwohner nur zum Teil; namentlich im Süden und Westen Galliens machten diese auch jetzt noch die Mehrzahl der Bevölkerung aus, wenn auch als unterdrückte Race, und haben der jetzigen Bevölkerung ihren Körperbau vererbt. Daß sowohl Kelten wie auch Germanen in ihren neuen Sitzen über eine vorgefundne dunkelhaarige Bevölkerung herrschten, geht aus der bei beiden bestehenden Sitte des Gelbfärbens der Haare mit Seife hervor. Helles Haar war Zeichen der herrschenden Race, und wo dies infolge von Racenmischung verlorenging, da mußte eben die Seife nachhelfen.[428]
Den Kelten folgten die Deutschen; und hier können wir den Zeitpunkt der Einwanderung wenigstens annähernd mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmen. Sie begann schwerlich lange vor dem Jahre -400 und war zur Zeit Cäsars noch nicht ganz vollendet.
Um das Jahr -325 gibt uns Pytheas' Reisebericht die erste authentische Kunde von Deutschen. Er fuhr von Marseille nach der Bernsteinküste und erwähnt dort Guttonen und Teutonen, unzweifelhaft deutsche Völker. Wo aber lag die Bernsteinküste? Die gewöhnliche Vorstellung kennt freilich nur die ostpreußische, und wenn als Nachbarn jener Küste Guttonen genannt werden, so stimmt das allerdings. Aber die von Pytheas gegebnen Abmessungen stimmen nicht zu dieser Gegend, während sie ziemlich gut passen für die große Bucht der Nordsee zwischen der norddeutschen Küste und der cimbrischen Halbinsel. Dorthin passen auch die ebenfalls als Nachbarn genannten Teutonen. Dort – an der Westseite Schleswigs und Jütlands – ist auch eine Bernsteinküste; Ringkjöbing treibt heute noch einen ziemlichen Handel mit dort gefundenem Bernstein. Auch erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß Pytheas so früh schon so weit in ganz unbekannte Gewässer vorgedrungen sei, und noch mehr, daß in seinen so sorgfältigen Angaben die verwickelte Fahrt vom Kattegat bis Ostpreußen nicht nur ganz unerwähnt geblieben ist, sondern überhaupt nicht in sie hineinpaßt. Man müßte sich also ganz entschieden für die zuerst von Lelewel ausgesprochne Ansicht erklären, daß die Bernsteinküste des Pytheas an der Nordsee zu suchen sei, wäre es nicht wegen des Namens der Guttonen, die nur an die Ostsee gehören können. Dieses letzte Hindernis wegzuräumen, hat Müllenhoff einen Schritt getan; er hält die Lesart: Guttonen für verfälscht aus: Teutonen.
Um 180 vor unsrer Zeitrechnung treten Bastarner, unzweifelhafte Deutsche, an der Unterdonau auf und erscheinen wenige Jahre später als Söldner Im Heere des makedonischen Königs Perseus gegen die Römer – die ersten Landsknechte. Es sind wilde Krieger:
»Männer, nicht zum Ackerbau geschickt oder zur Schiffahrt, oder die von Herden ihren Unterhalt suchen, die im Gegenteil nur ein Werk und eine Kunst pflegen: stets zu kämpfen und zu überwinden, was sich ihnen entgegenstellt.«
Es ist Plutarch, der uns diese erste Nachricht von der Lebensweise eines deutschen Volks gibt. Auch diese Bastarner finden wir noch Jahrhunderte später nördlich von der Donau, wenn auch in westlicherer Gegend. Fünfzig Jahre später brechen Cimbern und Teutonen in das keltische Donaugebiet, werden von den in Böhmen wohnenden keltischen Bojern abgewiesen, ziehen in mehreren Häufen nach Gallien, bis in Spanien hinein, schlagen[429] ein römisches Heer nach dem ändern, bis endlich Marius ihren fast zwan-zigjährigen Wanderzügen ein Ende macht, indem er ihre sicher schon sehr geschwächten Scharen vernichtet: die Teutonen bei Aix in der Provence (-102) und die Cimbern bei Vercelli in Oberitalien (-101).
Ein halbes Jahrhundert später traf Cäsar in Gallien auf zwei neue germanische Heerzüge; zuerst am Oberrhein den des Ariovist, in dem sieben verschiedne Völkerschaften, darunter Markomannen und Sueven, vertreten waren; bald darauf, am Niederrhein, den der Usipeter und Tenkterer, die, von den Sueven in ihren früheren Sitzen bedrängt, diese verlassen und nach dreijährigem Herumziehen den Rhein erreicht hatten. Beide Heerzüge erlagen der geordneten römischen Kriegsführung, die Usipeter und Tenkterer aber auch römischem Vertragsbruch. In den ersten Jahren des Augustus kennt Dio Cassius einen Einfall der Bastarner nach Thrakien; Marcus Crassus schlug sie am Hebrus (der heutigen Maritza). Derselbe Geschichtschreiber erwähnt noch eines Zuges von Hermunduren, die um den Beginn unsrer Zeitrechnung ihre Heimat aus unbekannten Ursachen verlassen und vom römischen Feldherrn Domitius Ahenobarbus »in einem Teile des Landes der Markomannen« angesiedelt worden seien. Das sind die letzten Wanderzüge aus jener Epoche. Die Befestigung der römischen Herrschaft an Rhein und Donau schob ihnen auf längere Zeit einen Riegel vor; daß aber im Nordosten, jenseits der Elbe und des Riesengebirgs, die Völker noch lange nicht zu festen Sitzen gekommen waren, darauf deuten nur zu viele Zeichen.
Diese Auszüge der Germanen bilden den ersten Akt jener Völkerwanderung, die, dreihundert Jahre lang durch römischen Widerstand aufgehalten, gegen Ende des dritten Jahrhunderts unwiderstehlich über die beiden Grenzströme brach. Südeuropa und Nordafrika überflutete und erst mit der Eroberung Italiens durch die Langobarden 568 ihr Ende erreichte – ihr Ende, soweit die Germanen dabei beteiligt waren, nicht aber die hinter ihnen noch längere Zeit in Bewegung bleibenden Slawen. Es waren buchstäblich Wanderungen von Völkern. Ganze Volksstämme oder doch starke Bruchteile derselben machten sich auf die Reise, mit Weib und Kind, mit Hab und Gut. Mit Tierfellen eingedeckte Wagen dienten zur Wohnung und zum Transport der Weiber und Kinder wie des dürftigen Hausrats; das Vieh wurde mitgetrieben. Die Männer gerüstet und geordnet zur Niederwerfung alles Widerstands, zur Abwehr von Überfällen; ein Kriegsmarsch am Tag, ein Kriegslager in der Wagenburg bei Nacht. Der Menschenverbrauch auf diesen Zügen, durch fortwährende Kämpfe, durch Mühsal, Hunger und Krankheiten muß ungeheuer gewesen sein. Es war[430] ein Abenteuer auf Tod und Leben. Gelang der Zug, so siedelte sich der übriggebliebne Teil auf fremdem Boden an; mißlang er, so verschwand der ausgezogne Stamm von der Erde. Was nicht im Gemetzel der Schlacht fiel, verkam in der Sklaverei. Die Helvetier und ihre Bundesgenossen, deren Wanderzug Cäsar hemmte, zogen aus mit 368000 Köpfen, darunter 92000 Waffenfähige; nach der Niederlage durch die Römer waren nur noch 110000 übrig, die Cäsar ausnahmsweise, aus politischen Gründen, in die Heimat zurücksandte. Die Usipeter und Tenkterer waren mit 180000 Köpfen über den Rhein gegangen; sie kamen fast alle in der Schlacht und auf der Flucht um. Kein Wunder, daß da, während dieser langen Wanderzeit, ganze Volksstämme oft spurlos verschwinden.
Dieser unsteten Lebensweise der Germanen entsprechen ganz die Zustände, die Cäsar am Rhein vorfand. Der Rhein war keineswegs scharfe Grenze zwischen Galliern und Deutschen. Belgisch-gallische Menapier hatten in der Gegend von Wesel Dörfer und Acker auf dem rechten Rheinufer; dagegen war das linksrheinische Maasdelta von den germanischen Batavern besetzt, und um Worms bis gegen Straßburg wohnten germanische Vangionen, Triboker und Nemeter – ob seit Ariovist oder früher schon, ist unsicher. Die Belgier führten fortwährende Kriege mit den Deutschen, überall war noch strittiges Gebiet. Südlich vom Main und Erzgebirge wohnten damals noch keine Deutschen; die Helvetier waren erst kurz vorher von den Sueven aus dem Gebiet zwischen Main, Rhein, Donau und Böhmerwald vertrieben worden wie die Bojer aus Böhmen (Boihemum), das ihren Namen bis heute trägt. Die Sueven hatten aber das Land nicht besetzt, sondern in jene 600 römische (150 deutsche) Meilen lange Waldwüste verwandelt, die sie nach Süden hin decken sollte. Weiter östlich kennt Cäsar noch Kelten (Volker-Tektosagen) im Norden der Donau, da, wo Tacitus später deutsche Quaden nennt. Erst zu Augustus' Zeit führte Maroboduus seine suevischen Markomannen nach Böhmen, während die Römer den Winkel zwischen Rhein und Donau durch Verschanzung abschlössen und mit Galliern bevölkerten. Das Gebiet jenseits dieses Grenzwalls scheint dann von den Hermunduren besetzt. Es geht hieraus unzweifelhaft hervor, daß die Germanen durch die Ebene auf der Nordseite der Karpaten und der böhmischen Grenzgebirge nach Deutschland gezogen sind; erst nachdem das nördliche Flachland besetzt, trieben sie die südlicher im Gebirg wohnenden Kelten über die Donau.
Auch die Lebensweise der Germanen, wie Cäsar sie schildert, beweist, daß sie noch keineswegs seßhaft in ihrem Lande waren. Sie leben hauptsächlich von der Viehzucht, von Käse, Milch und Fleisch, weniger von[431] Korn; Hauptbeschäftigung der Männer ist Jagd und Waffenübung. Sie treiben etwas Ackerbau, aber nur nebenbei und in waldursprünglichster Weise. Cäsar berichtet, sie hätten die Acker nur ein Jahr lang bebaut und im folgenden stets neues Land unter den Pflug genommen. Es scheint Brandwirtschaft gewesen zu sein, wie noch jetzt im nördlichen Skandinavien und Finnland; der Wald – und außer dem Wald hatte man nur die damals für den Ackerbau nutzlosen Sümpfe und Torfmoore – wurde niedergebrannt, die Wurzeln notdürftig entfernt und mit dem vernarbten oberen Boden ebenfalls verbrannt; in den durch die Asche gedüngten Boden säte man das Korn. Aber selbst in diesem Fall wird Cäsars Angabe alljährlicher Erneuerung des Ackerlands nicht wörtlich zu nehmen und in der Regel auf einem gewohnheitsmäßigen Übergang zu Neuland, nach mindestens zwei oder drei Ernten, zu beschränken sein. Die ganze Stelle, die undeutsche Landteilung durch Fürsten und Beamte und besonders die den Germanen untergeschobnen Beweggründe für diesen raschen Wechsel atmen römische Vorstellungen. Dem Römer war dieser Landwechsel unerklärlich. Den rheinischen Deutschen, die schon im Übergang zur festen Ansiedlung begriffen, mochte er schon als überkommene Gewohnheit erscheinen, die mehr und mehr Zweck und Sinn verlor. Den inneren Deutschen, den eben erst am Rhein ankommenden Sueven, für die er auch hauptsächlich galt, war er dagegen noch wesentliche Bedingung einer Lebensweise, bei der das ganze Volk sich langsam voranschob, in der Richtung und mit der Geschwindigkeit, die der vorgefundne Widerstand zuließ. Auf diese Lebensweise ist auch ihre Verfassung zugeschnitten: Die Sueven teilen sich in hundert Gaue, deren jeder jährlich tausend Mann zum Heere stellt, während der Rest der Mannschaft daheim bleibt, Vieh und Acker besorgt und im zweiten Jahr die Ausgezognen ablöst. Die Volksmasse mit Weib und Kind folgt dem Heer erst, sobald dies neues Gebiet erobert hat. Es ist schon ein Fortschritt zur Seßhaftigkeit, verglichen mit den Heerzügen der Cimbernzeit.
Wiederholt kommt Cäsar auf die Sitte der Deutschen zurück, sich auf der Seite nach dem Feinde, d.h. nach jedem fremden Volk hin, durch breite Waldwüsten zu sichern. Es ist dies dieselbe Sitte, die noch bis ins späte Mittelalter herrscht. Die nordelbischen Sachsen schützte der Grenzwald zwischen Eider und Schlei (altdänisch Jarnwidhr) gegen die Dänen, der Sachsenwald von der Kieler Föhrde bis zur Elbe gegen die Slawen, und der slawische Name Brandenburg, Branibor, ist wieder nur Bezeichnung eines solchen Schutzwalds (tschechisch braniti – verteidigen, bor – Kiefer und Kiefernwald).[432]
Über die Zivilisationsstufe der von Cäsar vorgefundnen Deutschen kann nach alledem kein Zweifel sein. Sie waren weit entfernt davon, Nomaden zu sein in dem Sinn, wie es die heutigen asiatischen Reitervölker sind. Dazu gehört die Steppe, und die Deutschen lebten im Urwald. Aber sie waren auch ebensowenig entfernt von der Stufe ansässiger Bauernvölker. Noch Strabo sagt von ihnen sechzig Jahre später:
»Gemein ist allen diesen« (deutschen) »Völkerschaften die Leichtigkeit, mit der sie auswandern, wegen der Einfachheit ihrer Lebensart, weil sie nicht des Ackerbaus pflegen und keine Schätze sammeln; sondern sie leben in Hütten, die sie sich jeden Tag errichten, und nähren sich größtenteils vom Vieh wie die Nomaden, denen sie auch darin gleichen, daß sie ihre Habseligkeiten auf Wagen mit sich führen und mit ihren Herden dahin ziehen, wohin es sie gelüstet.«
Kenntnis des Ackerbaus hatten sie, wie die Sprachvergleichung beweist, schon aus Asien mitgebracht; daß sie diese nicht wieder vergessen hatten, zeigt Cäsar. Aber es war der Ackerbau, der halbnomadischen, langsam durch die mitteleuropäischen Waldebenen sich fortwälzenden Kriegerstämmen als Notbehelf und untergeordnete Lebensquelle dient.
Es geht hieraus hervor, daß die Einwanderung der Deutschen in ihre neue Heimat zwischen Donau, Rhein und Nordmeer zu Cäsars Zeit noch nicht vollendet war oder sich doch eben erst vollendete. Daß zur Zeit des Pytheas Teutonen und vielleicht auch Cimbern die jütische Halbinsel, die vordersten Deutschen den Rhein erreicht haben mochten – wie die Abwesenheit aller Kunde von ihrer Ankunft schließen läßt –, steht dem durchaus nicht entgegen. Die nur mit dauernder Wanderung vereinbare Lebensweise, die wiederholten Züge nach West und Süd, endlich die Tatsache, daß Cäsar die größte ihm bekannte Masse, die Sueven, noch in voller Bewegung fand, lassen nur einen Schluß zu: Offenbar haben wir hier die letzten Momente der großen germanischen Einwanderung in ihren europäischen Hauptsitz fragmentarisch vor uns. Es ist der römische Widerstand am Rhein und später an der Donau, der dieser Wanderung ein Ziel setzt, die Deutschen auf das nunmehr besetzte Gebiet einschränkt und sie damit zwingt, feste Wohnsitze zu nehmen.
Im übrigen waren unsre Vorfahren, wie Cäsar sie sah, rechte Barbaren. Kaufleute lassen sie nur ins Land, damit sie jemand haben, der ihnen die Kriegsbeute abkauft, sie selbst kaufen ihnen fast nichts ab; was hätten sie denn auch Fremdes nötig? Sogar ihre schlechten Ponys ziehn sie den schönen und guten gallischen Pferden vor. Wein aber lassen die Sueven überhaupt nicht ins Land, weil er verweichliche. Da waren doch ihre bastarnischen Vettern zivilisierter; auf jenem Einfall nach Thrakien schickten sie[433] Gesandte an Crassus, der diese betrunken machte, ihnen die nötigen Nachrichten über Stellung und Absichten der Bastarner abfrug und diese dann in einen Hinterhalt lockte und vernichtete. Noch vor der Schlacht auf dem Idisiavisus (16 unsrer Zeitrechnung) schildert Germanicus seinen Soldaten die Deutschen als Leute ohne Panzer oder Helm, nur mit Schilden von Weidengeflecht oder schwachen Brettern bewehrt, und nur das erste Glied habe wirkliche Lanzen, die hinteren nichts als im Feuer gehärtete und gespitzte Stangen. Metallbearbeitung war den Anwohnern der Weser also noch kaum bekannt, und die Römer werden wohl dafür gesorgt haben, daß die Kaufleute keine Waffen nach Deutschland einschleppten.
Reichlich anderthalb Jahrhunderte nach Cäsar gibt uns Tacitus seine berühmte Beschreibung der Deutschen. Hier sieht schon vieles ganz anders aus. Bis an die Elbe und darüber hinaus sind die unsteten Stämme zur Ruhe, zur festen Ansiedlung gekommen. Von Städten ist freilich noch lange keine Rede; die Niederlassungen erfolgen teils in Dörfern, die hier aus Einzelhöfen, dort aus zusammenliegenden Höfen bestehn, aber auch in diesen ist jedes Haus für sich gebaut, umgeben von einem freien Raum. Die Häuser noch ohne Bruchsteine und Dachziegel, roh gezimmert aus unbehauenen Stämmen (materia informi muß dies hier bedeuten, im Gegensatz zu caementa und tegulae); Blockhäuser, wie noch im nördlichen Skandinavien, aber doch schon nicht mehr Hütten, die man in einem Tage bauen kann, wie bei Strabo. Auf die Ackerverfassung kommen wir später zurück. Auch haben die Deutschen schon unterirdische Vorratskammern, eine Art Keller, in denen sie sich im Winter der Wärme halber aufhielten und wo nach Plinius die Weiber Weberei trieben. Der Ackerbau ist also schon wichtiger; doch ist Vieh noch immer Hauptreichtum; es ist zahlreich, aber von schlechter Race, die Pferde häßlich und keine Renner, die Schafe und Rinder klein, letztere ohne Hörner. Bei der Nahrung wird Fleisch, Milch, wilde Apfel aufgeführt, kein Brot. Die Jagd wird nicht mehr viel betrieben, der Wildstand war also seit Cäsar schon bedeutend verringert. Auch die Kleidung ist noch sehr ursprünglich, bei der Masse eine grobe Decke, sonst nackt (fast wie bei den Zulukaffern), doch bei den Reichsten schon eng anschließende Kleider; Tierfelle werden auch verwandt; auch die Weiber tragen sich ähnlich wie die Männer, doch haben sie schon häufiger leinene Gewänder ohne Ärmel. Die Kinder laufen alle nackt umher. Lesen und Schreiben ist unbekannt, doch deutet eine Stelle darauf hin, daß die von den lateinischen Schriftzeichen entlehnten, in Holzstäbe eingeschnittenen Runen den Priestern schon gebräuchlich waren. Gold und Silber ist den inneren Deutschen gleichgültig, den Fürsten und Gesandten von Römern geschenkte Silbergefäße[434] dienen demselben gemeinen Gebrauch wie irdene. Der geringe Handelsverkehr ist einfacher Tausch.
Die Männer haben noch ganz die allen Urvölkern gemeinsame Gewohnheit, Arbeit in Haus und Feld den Weibern, Greisen und Kindern als unmännlich zu überlassen. Dagegen haben sie zwei zivilisierte Sitten angenommen: den Trunk und das Spiel, und betreiben beides mit der ganzen Maßlosigkeit jungfräulicher Barbaren, das Spiel bis zum Verwürfeln der eigenen Person. Ihr Trunk, im Innern, ist Gersten- oder Weizenbier; wäre der Schnaps schon erfunden gewesen, die Weltgeschichte hätte wohl einen ändern Verlauf genommen.
An den Grenzen des römischen Gebiets sind noch weitere Fortschritte gemacht: Man trinkt importierten Wein; man hat sich schon einigermaßen ans Geld gewöhnt, wobei natürlich dem für beschränkten Austausch handlicheren Silber und nach Barbarensitte Münzen mit altbekanntem Gepräge der Vorzug gegeben wird. Wie sehr diese Vorsicht begründet war, wird sich zeigen. Handel mit den Germanen wurde nur am Rheinufer selbst betrieben; nur die über dem Pfahlgraben sitzenden Hermunduren gehn schon in Gallien und Rhätien Handels halber aus und ein.
Zwischen Cäsar und Tacitus fällt also der erste große Abschnitt in der deutschen Geschichte: der endliche Übergang vom Wanderleben zu festen Wohnsitzen, wenigstens für den größeren Teil des Volks, vom Rhein bis weit über die Elbe hinaus. Die Namen der einzelnen Stämme fangen an, mehr oder weniger, mit bestimmten Landstrichen zu verwachsen. Bei den widersprechenden Nachrichten der Alten und bei den schwankenden und wechselnden Namen ist es jedoch oft unmöglich, jedem einzelnen Stamm einen sichern Wohnsitz zuzuweisen. Es würde dies uns auch zu weit abführen. Hier genügt die allgemeine Angabe, die wir bei Plinius finden:
»Es gibt fünf Hauptstämme der Deutschen: die Vindiler, zu denen die Burgundionen, Variner, Cariner, Guttonen gehören; den zweiten Stamm bilden die Ingävonen, davon die Cimbern, Teutonen und die chaukischen Völker einen Teil ausmachen. Zunächst am Rhein wohnen die Iskävonen, darunter die Sigamber. Mitten im Lande – die Hermionen, darunter die Sueven, Hermunduren, Chatten, Cherusker. Den fünften Stamm bilden die Peukiner und Bastarner, die an die Daken grenzen.«
Dazu kommt dann noch ein sechster Zweig, der Skandinavien bewohnt: die Hillevionen.
Von allen Nachrichten der Alten stimmt diese am besten mit den späteren Tatsachen und den uns erhaltenen Sprachresten.
Die Vindiler umfassen die Völker gotischer Zunge, die die Ostseeküste zwischen Elbe und Weichsel bis tief ins Land hinein besetzt hielten; jenseits[435] der Weichsel saßen um das Frische Haff die Guttonen (Goten). Die spärlichen erhaltenen Sprachreste lassen nicht den geringsten Zweifel, daß die Vandalen (die jedenfalls zu Plinius' Vindilern gehören müßten, da er ihren Namen auf den ganzen Hauptstamm überträgt) und die Burgunder gotische Dialekte sprachen. Bedenken erregen könnten nur die Warner (oder Variner), die man, auf Nachrichten aus dem 5. und 6. Jahrhundert fußend, gewohnt ist, zu den Thüringern zu stellen; von ihrer Sprache wissen wir nichts.
Der zweite Stamm, der der Ingävonen, umfaßt die Völker zunächst friesischer Zunge, die Bewohner der Nordseeküste und der cimbrischen Halbinsel, und höchstwahrscheinlich auch diejenigen sächsischer Zunge zwischen Elbe und Weser, in welchem Fall die Cherusker auch dazu zu rechnen wären.
Die Iskävonen zeichnen sich durch die zu ihnen gezognen Sigamber sofort als die späteren Franken, die Bewohner des rechten Rheinufers vom Taunus abwärts bis an die Quellen der Lahn, Sieg, Ruhr, Lippe und Ems, nördlich von Friesen und Chauken begrenzt.
Die Hermionen oder, wie Tacitus sie richtiger nennt, Herminonen sind die späteren Hochdeutschen; die Hermunduren (Thüringer), Sueven (Schwaben und Markomannen, Baiern), Chatten (Hessen) usw. Die Cherusker sind ganz unzweifelhaft durch einen Irrtum hierher geraten. Es ist der einzige sichre Irrtum in dieser ganzen Aufstellung des Plinius.
Der fünfte Stamm, Peukiner und Bastarner, ist verschollen. Ohne Zweifel stellt ihn Jakob Grimm mit Recht zum gotischen.
Endlich der sechste, hillevionische Stamm umfaßt die Bewohner der dänischen Inseln und der großen skandinavischen Halbinsel.
Die Einteilung des Plinius entspricht also mit einer überraschenden Genauigkeit der Gruppierung der später wirklich auftretenden deutschen Mundarten. Wir kennen keine Dialekte, die nicht unter Gotisch, Friesisch-Niedersächsisch, Fränkisch, Hochdeutsch oder Skandinavisch gehörten, und wir können diese Einteilung des Plinius auch heute noch als mustergültig anerkennen. Was etwa dagegen zu sagen wäre, untersuche ich in der Anmerkung über die deutschen Stämme.
Die ursprüngliche Einwanderung der Deutschen in ihre neue Heimat hätten wir uns also ungefähr so vorzustellen, daß in erster Linie, mitten in der norddeutschen Ebene, zwischen den südlichen Gebirgen und der Ost- und Nordsee, die Iskävonen vorgedrungen sind, dicht hinter ihnen, aber näher der Küste, die Ingävonen. Diesen scheinen die Hillevionen gefolgt,[436] aber nach den Inseln abgebogen zu sein. Auf diese wären Goten (des Plinius Vindiler) gefolgt, unter Zurücklassung der Peukiner und Bastarner im Südosten; der gotische Name in Schweden ist Zeuge dafür, daß einzelne Zweige sich der Wanderung der Hillevionen anschlössen. Endlich, südlich von den Goten, die Herminonen, die, wenigstens größtenteils, erst zu Cäsars und selbst Augustus' Zeit in die Wohnsitze einrücken, die sie bis zur Völkerwanderung behaupten.A1
1 | Ich folge hier vorwiegend Boyd Dawkins, »Early Man in Britain«, London 1880. |
2 | Ich bezeichne die Jahreszahlen vor unsrer Zeitrechnung der Kürze halber nach mathematischer Art mit dem Minuszeichen (-). |
A1 | In der Handschrift mit Bleistift eingefügt:»Folgt Kapitel über die Agrarverfassung und Kriegsverfassung« |
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