I

[264] In Nr. 86 des »Volksstaats« gibt sich A. Mülberger als Verfasser der von mir in Nr. 51 u. folg. d. Bl. kritisierten Artikel zu erkennen. Er überhäuft mich in seiner Antwort mit einer solchen Reihe von Vorwürfen und verrückt dabei so sehr alle Gesichtspunkte, um die es sich handelt, daß ich wohl oder übel darauf erwidern muß. Ich will versuchen, meiner Entgegnung, die sich zu meinem Bedauern großenteils auf dem von Mülberger mir vorgeschriebnen Gebiet der persönlichen Polemik bewegen muß, ein allgemeines Interesse dadurch zu geben, daß ich die Punkte, auf die es hauptsächlich ankommt, nochmals und womöglich deutlicher als vorher entwickle, selbst auf die Gefahr hin, von Mülberger abermals bedeutet zu werden, daß alles dies »im wesentlichen nichts Neues, weder für ihn noch die sonstigen Leser des ›Volksstaat‹ enthält«.

Mülberger beklagt sich über Form und Inhalt meiner Kritik. Was die Form angeht, so genügt es zu erwidern, daß ich zu jener Zeit gar nicht wußte, von wem die betreffenden Artikel herrührten. Von einer persönlichen »Voreingenommenheit« gegen den Verfasser konnte also keine Rede sein; gegen die in den Artikeln entwickelte Lösung der Wohnungsfrage war ich allerdings insoweit »voreingenommen«, als sie mir aus Proudhon längst bekannt war und meine Ansicht darüber feststand.

Über den »Ton« meiner Kritik will ich mit Freund Mülberger nicht streiten. Wenn man so lange in der Bewegung gewesen wie ich, bekommt man eine ziemlich harte Haut gegen Angriffe und setzt eine solche daher auch leicht bei andern voraus. Um Mülberger zu entschädigen, will ich[264] diesmal versuchen, meinen »Ton« mit der Empfindlichkeit seiner Epidermis (Oberhaut) in ein richtiges Verhältnis zu bringen.

Mülberger beklagt sich besonders bitter darüber, daß ich ihn einen Proudhonisten genannt, und beteuert, er sei keiner. Ich muß ihm natürlich glauben, werde aber den Beweis führen, daß die betreffenden Artikel – und mit ihnen allein hatte ich zu tun – nichts enthalten als puren Proudhonismus.

Aber auch Proudhon kritisiere ich, nach Mülberger, »leichtfertig« und tue ihm schweres Unrecht:

»Die Lehre vom Kleinbürger Proudhon ist bei uns in Deutschland ein stehendes Dogma geworden, das sogar viele verkünden, ohne auch nur eine Zeile von ihm gelesen zu haben.«

Wenn ich bedaure, daß die romanisch redenden Arbeiter seit zwanzig Jahren keine andre Geistesnahrung haben als die Werke Proudhons, so antwortet Mülberger, daß bei den romanischen Arbeitern »die Prinzipien, wie sie von Proudhon formuliert sind, fast allenthalben die treibende Seele der Bewegung bilden«. Dies muß ich ableugnen. Erstens liegt die »treibende Seele« der Arbeiterbewegung nirgendswo in den »Prinzipien«, sondern überall in der Entwicklung der großen Industrie und deren Wirkungen, der Akkumulation und Konzentration des Kapitals auf der einen und des Proletariats auf der andern Seite. Zweitens ist es nicht richtig, daß die Proudhonschen sogenannten »Prinzipien« bei den Romanen die entscheidende Rolle spielen, die Mülberger ihnen zuschreibt; daß »die Prinzipien der Anarchie, der Organisation des forces économiques, der liquidation sociale usw. dort... die wahrhaften Träger der revolutionären Bewegung geworden sind«. Von Spanien und Italien gar nicht zu reden, wo die proudhonistischen Allerweltsheilmittel nur in der durch Bakunin weiter verballhornten Gestalt irgendwelchen Einfluß gewonnen haben, ist es für jeden, der die internationale Arbeiterbewegung kennt, notorische Tatsache, daß in Frankreich die Proudhonisten eine wenig zahlreiche Sekte bilden, während die Masse der Arbeiter von dem unter dem Titel »Liquidation sociale und Organisation des forces économiques« von Proudhon entworfnen gesellschaftlichen Reformplan nichts wissen will. Es hat sich das u.a. unter der Kommune gezeigt. Obwohl die Proudhonisten stark in ihr vertreten waren, wurde doch nicht der geringste Versuch gemacht, nach Proudhons Vorschlägen die alte Gesellschaft zu liquidieren oder die ökonomischen Kräfte zu organisieren.[265] Im Gegenteil. Es gereicht der Kommune zur höchsten Ehre, daß bei allen ihren ökonomischen Maßregeln nicht irgendwelche Prinzipien ihre »treibende Seele« bildeten, sondern – das einfache praktische Bedürfnis. Und deshalb waren diese Maßregeln – die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäcker, das Verbot der Geldstrafen in Fabriken, die Konfiskation stillgesetzter Fabriken und Werkstätten und ihre Überlassung an Arbeiter-Assoziationen – durchaus nicht im Geist Proudhons, wohl aber in dem des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus. Die einzige soziale Maßregel, die die Proudhonisten durchsetzten, war – die Bank von Frankreich nicht mit Beschlag zu legen, und zum Teil daran ging die Kommune zugrunde. Ebenso haben die sogenannten Blanquisten, sobald sie den Versuch machten, sich aus bloß politischen Revolutionären in eine sozialistische Arbeiterfraktion mit bestimmtem Programm zu verwandeln – wie dies in dem von den blanquistischen Flüchtlingen in London in ihrem Manifest: »Internationale et Révolution« geschehn ist –, nicht die »Prinzipien« des Proudhonschen Plans der Gesellschaftsrettung proklamiert, wohl aber, und zwar fast buchstäblich, die Anschauungen des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus von der Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und seiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassen und, mit ihnen, des Staats – wie solche bereits im »Kommunistischen Manifest« und seitdem unzählige Male ausgesprochen worden. Und wenn Mülberger gar aus der Mißachtung Proudhons bei den Deutschen einen Mangel an Verständnis der romanischen Bewegung »bis zur Kommune von Paris« herleitet, so möge er zum Beweis dieses Mangels diejenige romanische Schrift nennen, die die Kommune nur annähernd so richtig verstanden und dargestellt hat wie die »Adresse des Generalrats der Internationalen über den Bürgerkrieg in Frankreich«, geschrieben von dem Deutschen Marx.

Das einzige Land, wo die Arbeiterbewegung direkt unter dem Einfluß der Proudhonschen »Prinzipien« steht, ist Belgien, und die belgische Bewegung kommt eben deswegen auch, wie Hegel sagt, »von nichts durch nichts zu nichts«.

Wenn ich es für ein Unglück halte, daß die romanischen Arbeiter, direkt oder indirekt, seit zwanzig Jahren geistig nur von Proudhon zehrten, so finde ich dies nicht in der durchaus mythischen Herrschaft des Proudhonschen Reformrezepts – was Mülberger die »Prinzipien« nennt –, sondern darin, daß ihre ökonomische Kritik der bestehenden Gesellschaft von den durchaus[266] falschen Proudhonschen Wendungen infiziert und ihre politische Aktion durch proudhonistischen Einfluß verhunzt wurde. Ob danach die »verproudhonisierten romanischen Arbeiter« oder die deutschen, die jedenfalls den wissenschaftlichen deutschen Sozialismus unendlich besser begreifen als die Romanen ihren Proudhon, »mehr in der Revolution stehn«, werden wir beantworten können, wenn wir erst wissen, was das heißt: »in der Revolution stehn«. Man hat reden gehört von Leuten, die »im Christentum, im wahren Glauben, in der Gnade Gottes stehn« usw. Aber in der Revolution, in der gewaltsamsten Bewegung »stehn«? Ist denn »die Revolution« eine dogmatische Religion, an die man glauben muß?

Ferner wirft mir Mülberger vor, ich habe, gegen die ausdrücklichen Worte seiner Arbeit, behauptet, er erkläre die Wohnungsfrage für eine ausschließliche Arbeiterfrage.

Diesmal hat Mülberger in der Tat recht. Ich hatte die betreffende Stelle übersehn. Unverantwortlicherweise übersehn, denn sie ist eine der bezeichnendsten für die ganze Tendenz seiner Abhandlung. Mülberger sagt wirklich mit dürren Worten:

»Da uns so oft und viel der lächerliche Vorwurf gemacht wird, wir treiben Klassenpolitik, wir streben eine Klassenherrschaft an u. dgl. mehr, so betonen wir zunächst und ausdrücklich, daß die Wohnungsfrage keineswegs ausschließlich das Proletariat betrifft, sondern im Gegenteil – sie interessiert in ganz hervorragender Weise den eigentlichen Mittelstand, das Kleingewerbe, die kleine Bourgeoisie, die gesamte Bürokratie... die Wohnungsfrage ist gerade derjenige Punkt der sozialen Reformen, welche mehr als alle andern geeignet erscheint, die absolute innere Identität der Interessen des Proletariats einerseits und der eigentlichen Mittelklassen der Gesellschaft andrerseits aufzudecken. Die Mittelklassen leiden ebenso stark, vielleicht noch stärker unter der drückenden Fessel der Mietwohnung als das Proletariat... Die eigentlichen Mittelklassen der Gesellschaft stehen heute vor der Frage, ob sie... die Kraft finden werden... im Bunde mit der jugendkräftigen und energievollen Arbeiterpartei in den Umgestaltungsprozeß der Gesellschaft einzugreifen, dessen Segnungen gerade ihnen vor allen zugute kommen werden.«

Freund Mülberger konstatiert hier also folgendes:

1. »Wir« treiben keine »Klassenpolitik« und streben nach keiner »Klassenherrschaft«. Die deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei, eben weil sie eine Arbeiterpartei ist, treibt indes notwendigerweise »Klassenpolitik«, die Politik der Arbeiterklasse. Da jede politische Partei darauf ausgeht, die Herrschaft im Staat zu erobern, so strebt die deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei notwendig ihre Herrschaft, die Herrschaft der Arbeiterklasse, also eine »Klassenherrschaft« an. Übrigens hat jede wirkliche proletarische Partei, von den englischen Chartisten an, immer die[267] Klassenpolitik, die Organisation des Proletariats als selbständige politische Partei, als erste Bedingung, und die Diktatur des Proletariats als nächstes Ziel des Kampfes hingestellt. Indem Mülberger dies für »lächerlich« erklärt, stellt er sich außerhalb der proletarischen Bewegung und innerhalb des kleinbürgerlichen Sozialismus.

2. Die Wohnungsfrage hat den Vorzug, daß sie keine ausschließliche Arbeiterfrage ist, sondern das Kleinbürgertum »in ganz hervorragender Weise interessiert«, indem die »eigentlichen Mittelklassen ebenso stark, vielleicht noch stärker« unter ihr leiden als das Proletariat. Wenn jemand erklärt, das Kleinbürgertum leide, auch nur in einer einzigen Beziehung, »vielleicht noch stärker als das Proletariat«, so wird er sich sicher nicht beklagen können, wenn man ihn unter die kleinbürgerlichen Sozialisten rechnet. Hat Mülberger also Grund zur Unzufriedenheit, wenn ich sage:

»Es sind vorzugsweise diese der Arbeiterklasse mit andern Klassen, namentlich dem Kleinbürgertum, gemeinsamen Leiden, mit denen sich der kleinbürgerliche Sozialismus, zu dem auch Proudhon gehört, mit Vorliebe beschäftigt. Und so ist es durchaus nicht zufällig, daß unser deutscher Proudhonist sich vor allem der Wohnungsfrage, die, wie wir gesehn haben, keineswegs eine ausschließliche Arbeiterfrage ist, bemächtigt.«

3. Zwischen den Interessen der »eigentlichen Mittelklassen der Gesellschaft« und denen des Proletariats besteht »absolute innere Identität«, und es ist nicht das Proletariat, sondern [es sind] diese eigentlichen Mittelklassen, denen die »Segnungen« des bevorstehenden Umgestaltungsprozesses der Gesellschaft »gerade vor allen zugute kommen werden«.

Die Arbeiter werden also die bevorstehende soziale Revolution »gerade vor allen« im Interesse der Kleinbürger machen. Und ferner besteht eine absolute innere Identität der Interessen der Kleinbürger mit denen des Proletariats. Sind die Interessen der Kleinbürger mit denen der Arbeiter innerlich identisch, so die der Arbeiter mit denen der Kleinbürger. Der kleinbürgerliche Standpunkt ist also in der Bewegung ebenso berechtigt wie der proletarische. Und die Behauptung dieser Gleichberechtigung ist eben, was man kleinbürgerlichen Sozialismus nennt.

Es ist daher auch ganz konsequent, wenn Mülberger S. 25 des Separatabdrucks das »Kleingewerbe« als den »eigentlichen Strebepfeiler der Gesellschaft« feiert, »weil es seiner eigentlichen Anlage nach die drei Faktoren: Arbeit – Erwerb – Besitz in sich vereinigt, weil es in der Vereinigung dieser drei Faktoren der Entwicklungsfähigkeit des Individuums keinerlei[268] Schranke gegenüberstellt«; und wenn er der modernen Industrie namentlich vorwirft, daß sie diese Pflanzschule von Normalmenschen vernichtet und »aus einer lebenskräftigen, sich immer wieder neu erzeugenden Klasse einen bewußtlosen Haufen Menschen gemacht hat, der nicht weiß, wohin er seinen angstvollen Blick wenden soll«. Der Kleinbürger ist also Mülbergers Mustermensch und das Kleingewerbe Mülbergers Muster-Produktionsweise. Habe ich ihn also verlästert, wenn ich ihn unter die kleinbürgerlichen Sozialisten verwies?

Da Mülberger jede Verantwortlichkeit für Proudhon ablehnt, so wäre es überflüssig, hier weiter zu erörtern, wie Proudhons Reformpläne dahin abzielen, alle Glieder der Gesellschaft in Kleinbürger und Kleinbauern zu verwandeln. Ebensowenig wird es nötig sein, auf die angebliche Identität der Interessen der Kleinbürger mit denen der Arbeiter einzugehn. Das Nötige findet sich bereits im »Kommunistischen Manifest«. (Leipziger Ausgabe 1872, S. 12 u. 21.)

Das Resultat unsrer Untersuchung ist also das, daß neben die »Sage vom Kleinbürger Proudhon« die Wirklichkeit vom Kleinbürger Mülberger tritt.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 264-269.
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