II

[269] Wir kommen jetzt auf einen Hauptpunkt. Ich warf den Mülbergerschen Artikeln vor, daß sie nach Proudhonscher Manier ökonomische Verhältnisse verfälschen durch Übersetzung in juristische Ausdrucksweise. Als Beispiel dafür hob ich folgenden Mülbergerschen Satz heraus:

»Das einmal gebaute Haus dient als ewiger Rechtstitel auf einen bestimmten Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit, wenn auch der wirkliche Wert des Hauses längst schon mehr als genügend in der Form des Mietzinses an den Besitzer gezahlt wurde. So kommt es, daß ein Haus, welches z.B. vor fünfzig Jahren gebaut wurde, während dieser Zeit in dem Ertrag seines Mietzinses zwei-, drei-, fünf-, zehnmal usw. den ursprünglichen Kostenpreis deckte.«

Mülberger beschwert sich nun:

»Diese einfache, nüchterne Konstatierung einer Tatsache veranlaßt Engels, mir zu Gemüte zu führen, daß ich hätte erklären sollen, wie das Haus ›Rechtstitel‹ wird – eine Sache, die ganz außerhalb des Bereichs meiner Aufgabe lag... Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Erklärung. Wenn ich nach Proudhon sage, das ökonomische Leben der Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, so schildere ich hiermit die heutige Gesellschaft als eine solche, in der zwar nicht jede Rechtsidee, aber die Rechtsidee der Revolution fehlt, eine Tatsache, die Engels selbst zugeben wird.«[269]

Bleiben wir zunächst bei dem einmal gebauten Hause. Das Haus, wenn vermietet, bringt seinem Erbauer Grundrente, Reparaturkosten und Zins auf sein ausgelegtes Baukapital einschließlich des darauf gemachten Profits in der Gestalt von Miete ein, und je nach den Verhältnissen kann der nach und nach gezahlte Mietbetrag zwei-, drei-, fünf-, zehnmal den ursprünglichen Kostenpreis ausmachen. Dies, Freund Mülberger, ist die »einfache, nüchterne Konstatierung« der »Tatsache«, die eine ökonomische ist; und wenn wir wissen wollen, wieso »es so kommt«, daß sie existiert, so müssen wir die Untersuchung auf ökonomischem Gebiet führen. Sehen wir uns also die Tatsache etwas näher an, damit kein Kind sie weiter mißverstehen könne. Der Verkauf einer Ware besteht bekanntlich darin, daß der Besitzer ihren Gebrauchswert weggibt und ihren Tauschwert einsteckt. Die Gebrauchswerte der Waren unterscheiden sich unter anderem auch darin, daß ihre Konsumtion verschiedene Zeiträume erfordert. Ein Laib Brot wird in einem Tage verzehrt, ein Paar Hosen in einem Jahr verschlissen, ein Haus meinetwegen in hundert Jahren. Bei Waren von langer Verschleißdauer tritt also die Möglichkeit ein, den Gebrauchswert stückweise, jedesmal auf bestimmte Zeit, zu verkaufen, d.h. ihn zu vermieten. Der stückweise Verkauf realisiert also den Tauschwert nur nach und nach; für diesen Verzicht auf sofortige Rückzahlung des vorgeschossenen Kapitals und des darauf erworbenen Profits wird der Verkäufer entschädigt durch einen Preisaufschlag, eine Verzinsung, deren Höhe durch die Gesetze der politischen Ökonomie, durchaus nicht willkürlich, bestimmt wird. Am Ende der hundert Jahre ist das Haus aufgebraucht, verschlissen, unbewohnbar geworden. Wenn wir dann von dem gezahlten Gesamtmietbetrag abziehen: 1. die Grundrente nebst der etwaigen Steigerung, die sie während der Zeit erfahren, und 2. die ausgelegten laufenden Reparaturkosten, so werden wir finden, daß der Rest im Durchschnitt sich zusammensetzt: 1. aus dem ursprünglichen Baukapital des Hauses, 2. aus dem Profit darauf, und 3. aus der Verzinsung des nach und nach fällig gewordenen Kapitals und Profits. Nun hat zwar am Ende dieses Zeitraums der Mieter kein Haus, aber der Hausbesitzer auch nicht. Dieser hat nur das Grundstück (wenn es ihm nämlich gehört) und die darauf befindlichen Baumaterialien, die aber kein Haus mehr sind. Und wenn das Haus inzwischen »fünf- oder zehnmal den ursprünglichen Kostenpreis deckte«, so werden wir sehn, daß dies lediglich einem Aufschlag der Grundrente geschuldet ist; wie dies niemanden ein[270] Geheimnis ist an Orten wie London, wo Grundbesitzer und Hausbesitzer meist zwei verschiedene Personen sind. Solche kolossale Mietsaufschläge kommen vor in rasch wachsenden Städten, aber nicht in einem Ackerdorf, wo die Grundrente für Bauplätze fast unverändert bleibt. Es ist ja notorische Tatsache, daß, abgesehn von Steigerungen der Grundrente, die Hausmiete dem Hausbesitzer durchschnittlich nicht über 7 p. c. des angelegten Kapitals (inkl. Profits) jährlich einbringt, woraus dann noch Reparaturkosten etc. zu bestreiten sind. Kurz, der Mietvertrag ist ein ganz gewöhnliches Warengeschäft, das für den Arbeiter theoretisch nicht mehr und nicht minder Interesse hat als jedes andere Warengeschäft, ausgenommen das, worin es sich um den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft handelt, während er ihm praktisch als eine der tausend Formen der bürgerlichen Prellerei gegenübertritt, von denen ich Seite 4 des Separatabdrucks spreche, die aber auch, wie ich dort nachgewiesen, einer ökonomischen Regelung unterworfen sind.

Mülberger dagegen sieht im Mietvertrag nichts als reine »Willkür« (S. 19 des Separatabdrucks), und wenn ich ihm das Gegenteil beweise, so beklagt er sich, ich sage ihm »lauter Dinge, die er leider schon selbst gewußt«.

Mit allen ökonomischen Untersuchungen über die Hausmiete kommen wir aber nicht dahin, die Abschaffung der Mietwohnung zu verwandeln in »eine der fruchtbarsten und großartigsten Bestrebungen, welche dem Schoß der revolutionären Idee entstammt«. Um dies fertigzubringen, müssen wir die einfache Tatsache aus der nüchternen Ökonomie in die schon viel ideologischere Juristerei übersetzen. »Das Haus dient als ewiger Rechtstitel« auf Hausmiete – »so kommt es«, daß der Wert des Hauses in Hausmiete zwei-, drei-, fünf-, zehnmal gezahlt werden kann. Um zu erfahren, wie das »so kommt«, hilft uns der »Rechtstitel« keinen Zoll vom Fleck; und deswegen sagte ich, Mülberger hätte erst durch Untersuchung, wie das Haus Rechtstitel wird, erfahren können, wie das »so kommt«. Dies erfahren wir erst, wenn wir, wie ich tat, die ökonomische Natur der Hausmiete untersuchen, statt uns über den juristischen Ausdruck, unter welchem die herrschende Klasse sie sanktioniert, zu erbosen. – Wer ökonomische Schritte zur Abschaffung der Hausmiete vorschlägt, der ist doch wohl verpflichtet, etwas mehr von der Hausmiete zu wissen, als daß sie »den Tribut darstellt, den der Mieter dem ewigen Rechte des Kapitals bezahlt«. Darauf antwortet Mülberger: »Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Erklärung.«[271]

Wir haben also das Haus, obwohl es keineswegs ewig ist, in einen ewigen Rechtstitel auf Hausmiete verwandelt. Wir finden, einerlei wie das »so kommt«, daß kraft dieses Rechtstitels das Haus seinen Wert in der Gestalt von Hausmiete mehrfach einbringt. Wir sind, durch die Übersetzung ins Juristische, glücklich so weit von der Ökonomie entfernt, daß wir nur noch die Erscheinung sehen, daß ein Haus sich in Brutto-Miete allmählich mehrfach bezahlt machen kann. Da wir juristisch denken und sprechen, so legen wir an diese Erscheinung den Maßstab des Rechts, der Gerechtigkeit und finden, daß sie ungerecht ist, daß sie der »Rechtsidee der Revolution«, was das auch immer für ein Ding sein mag, nicht entspricht und daß der Rechtstitel daher nichts taugt. Wir finden ferner, daß dasselbe vom zinstragenden Kapital und vom verpachteten Ackerland gilt, und haben nun den Vorwand, diese Klassen von Eigentum von den andern auszuscheiden und sie einer ausnahmsweisen Behandlung zu unterwerfen. Diese besteht in der Forderung: 1. dem Eigentümer das Kündigungsrecht, das Recht auf Rückforderung seines Eigentums, zu nehmen; 2. dem Mieter, Borger oder Pächter den Nießbrauch des ihm übertragenen, aber ihm nicht gehörigen Gegenstandes unentgeltlich zu überlassen, und 3. den Eigentümer in längeren Raten ohne Verzinsung abzuzahlen. Und damit haben wir die Proudhonschen »Prinzipien« nach dieser Seite hin erschöpft. Es ist dies Proudhons »gesellschaftliche Liquidation«.

Beiläufig bemerkt. Daß dieser ganze Reformplan fast ausschließlich den Kleinbürgern und Kleinbauern in der Weise zugute kommen soll, daß er sie in ihrer Stellung als Kleinbürger und Kleinbauern befestigt, liegt auf der Hand. Die nach Mülberger sagenhafte Gestalt des »Kleinbürgers Proudhon« erhält hier also plötzlich eine sehr handgreifliche historische Existenz.

Mülberger fährt fort:

»Wenn ich nach Proudhon sage, das ökonomische Leben der Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, so schildere ich hiermit die heutige Gesellschaft als eine solche, in der zwar nicht jede Rechtsidee, aber die Rechtsidee der Revolution fehlt, eine Tatsache, die selbst Engels zugeben wird.«

Leider bin ich außerstande, Mülberger diesen Gefallen zu tun. Mülberger verlangt, die Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, und nennt das eine Schilderung. Wenn mir ein Gerichtshof eine Aufforderung durch Gerichtsvollzieher zukommen läßt, eine Schuld zu bezahlen, so tut er, nach Mülberger, weiter nichts, als daß er mich als einen Menschen schildert, der seine Schulden nicht bezahlt! Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Zumutung. Und gerade hier liegt der wesentliche Unterschied des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus von[272] Proudhon. Wir schildern – und jede wirkliche Schilderung ist, trotz Mülberger, zugleich die Erklärung der Sache – die ökonomischen Verhältnisse, wie sie sind und wie sie sich entwickeln, und führen, strikt ökonomisch, den Beweis, daß diese ihre Entwicklung zugleich die Entwicklung der Elemente einer sozialen Revolution ist: die Entwicklung – einerseits, einer Klasse, deren Lebenslage sie notwendig zur sozialen Revolution treibt, des Proletariats – andererseits, von Produktivkräften, die, dem Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft entwachsen, ihn notwendig sprengen müssen, und die gleichzeitig die Mittel bieten, die Klassenunterschiede ein für allemal im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts selbst zu beseitigen. Proudhon dagegen stellt an die heutige Gesellschaft die Forderung, sich nicht nach den Gesetzen ihrer eignen ökonomischen Entwicklung, sondern nach den Vorschriften der Gerechtigkeit (die »Rechtsidee« gehört nicht ihm, sondern Mülberger) umzugestalten. Wo wir beweisen, predigt und lamentiert Proudhon, und mit ihm Mülberger.

Was »die Rechtsidee der Revolution« für ein Ding ist, kann ich absolut nicht erraten. Proudhon allerdings macht sich aus »der Revolution« eine Art Göttin, die Trägerin und Vollstreckerin seiner »Gerechtigkeit«; wobei er dann in den sonderbaren Irrtum verfällt, die bürgerliche Revolution von 1789-1794 und die künftige proletarische Revolution durcheinanderzuwerfen. Dies tut er in fast allen seinen Werken, besonders seit 1848; als Beispiel führe ich nur an: »Idée générale de la Révolution«, ed. 1868, p. 39 & 40. Da aber Mülberger alle und jede Verantwortlichkeit für Proudhon ablehnt, so bleibt mir verboten, »die Rechtsidee der Revolution« aus Proudhon zu erklären, und ich verharre in ägyptischer Finsternis.

Weiter sagt Mülberger:

»Aber weder Proudhon noch ich appellieren an eine ›ewige Gerechtigkeit‹, um dadurch die bestehenden ungerechten Zustände zu erklären oder gar, wie dies Engels mir imputiert, die Besserung dieser Zustände von dem Appell an diese Gerechtigkeit zu erwarten.«

Mülberger muß darauf bauen, daß »Proudhon überhaupt in Deutschland so gut wie gar nicht gekannt« ist. In allen seinen Schriften mißt Proudhon alle gesellschaftlichen, rechtlichen, politischen, religiösen Sätze an dem Maßstab der »Gerechtigkeit«, verwirft sie oder erkennt sie an, je nachdem sie stimmen oder nicht stimmen mit dem, was er »Gerechtigkeit« nennt. In den »Contradictions économiques« heißt diese Gerechtigkeit noch »ewige Gerechtigkeit«, justice éternelle. Später wird die Ewigkeit[273] verschwiegen, bleibt aber der Sache nach. Z.B. in: »De la Justice dans la Révolution et dans l'Eglise«, Ausgabe 1858, ist folgende Stelle der Text der ganzen dreibändigen Predigt (Band I, Seite 42):

»Welches ist das Grundprinzip, das organische, regelnde, souveräne Prinzip der Gesellschaften, das Prinzip, welches, sich alle andern unterordnend, regiert, schützt, zurückdrängt, züchtigt, im Notfalle selbst unterdrückt alle rebellischen Elemente? Ist es die Religion, das Ideal, das Interesse?... Dies Prinzip, nach meiner Ansicht, ist die Gerechtigkeit. – Was ist die Gerechtigkeit? Das Wesen der Menschheit selbst. Was ist sie gewesen seit dem Anfang der Welt? Nichts. – Was sollte sie sein? Alles.«

Eine Gerechtigkeit, die das Wesen der Menschheit selbst ist, was ist das anders als die ewige Gerechtigkeit? Eine Gerechtigkeit, die das organische, regelnde, souveräne Grundprinzip der Gesellschaften, die bisher trotzdem nichts gewesen ist, die aber alles sein soll – was ist sie anders als der Maßstab, an dem alle menschlichen Dinge zu messen, an die in jedem Kollisionsfall als entscheidende Richterin zu appellieren ist? Und habe ich etwas anderes behauptet, als daß Proudhon seine ökonomische Unwissenheit und Hülflosigkeit damit verdeckt, daß er alle ökonomischen Verhältnisse nicht nach den ökonomischen Gesetzen, sondern darnach beurteilt, ob sie mit seiner Vorstellung von dieser ewigen Gerechtigkeit stimmen oder nicht? Und wodurch unterscheidet sich Mülberger von Proudhon, wenn Mülberger verlangt, daß »alle Umsetzungen im Leben der modernen Gesellschaft... von einer Rechtsidee durchdrungen, d.h. allenthalben nach den strengen Anforderungen der Gerechtigkeit durchgeführt« werden sollen? Kann ich nicht lesen, oder kann Mülberger nicht schreiben?

Weiter sagt Mülberger:

»Proudhon weiß so gut wie Marx und Engels, daß das eigentlich Treibende in der menschlichen Gesellschaft die ökonomischen, nicht die juridischen Verhältnisse sind, auch er weiß, daß die jeweiligen Rechtsideen eines Volkes nur der Ausdruck, der Abdruck, das Produkt der ökonomischen – insbesondere Produktionsverhältnisse sind... Das Recht ist für Proudhon mit einem Wort – historisch gewordenes ökonomisches Produkt.«

Wenn Proudhon dies (ich will die unklare Ausdrucksweise Mülbergers passieren lassen und den guten Willen für die Tat nehmen), wenn Proudhon dies alles »ebensogut weiß wie Marx und Engels«, wie können wir uns dann noch streiten? Aber es steht eben etwas anders mit der Wissenschaft Proudhons. Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als Interessen. Nun sagt Proudhon in der eben zitierten Stelle seines Hauptwerkes mit dürren Worten, daß das »regelnde, organische souveräne Grundprinzip der Gesellschaften, welches sich alle andern[274] unterordnet«, nicht das Interesse ist, sondern die Gerechtigkeit. Und er wiederholt dasselbe in allen seinen Schriften an allen entscheidenden Stellen. Was Mülberger nicht verhindert fortzufahren:

»... daß die Idee des ökonomischen Rechts, wie sie von Proudhon am tiefsten in ›La Guerre et la Paix‹ entwickelt ist, vollständig zusammenfällt mit jenen Grundgedanken Lassalles, wie sie so schon in seinem Vorwort zum ›System der erworbenen Rechte‹ gegeben sind.«

»La Guerre et la Paix« ist vielleicht das schülerhafteste der vielen schülerhaften Werke Proudhons, aber daß es als Beweismittel aufgeführt werde für sein angebliches Verständnis der deutschen materialistischen Geschichtsauffassung, die alle historischen Ereignisse und Vorstellungen, alle Politik, Philosophie, Religion, aus den materiellen, ökonomischen Lebensverhältnissen der fraglichen geschichtlichen Periode erklärt, das konnte ich nicht erwarten. Das Buch ist so wenig materialistisch, daß es seine Konstruktion des Krieges nicht einmal fertigbringen kann, ohne den Schöpfer zu Hülfe zu rufen:

»Indessen hatte der Schöpfer, der diese Lebensweise für uns gewählt hat, seine Zwecke« (Bd. II, S. 100 der Ausgabe von 1869).

Auf welcher Geschichtskenntnis es beruht, geht daraus hervor, daß es an die geschichtliche Existenz des goldnen Zeitalters glaubt:

»Im Anfang, als die Menschheit noch dünn gesäet war auf dem Erdball, sorgte die Natur ohne Mühe für seine Bedürfnisse. Es war das goldene Zeitalter, das Zeitalter des Überflusses und des Friedens« (ebenda, S. 102).

Sein ökonomischer Standpunkt ist der des krassesten Malthusianismus:

»Wenn die Produktion verdoppelt wird, so wird die Bevölkerung es bald ebenfalls sein« (S. 106).

Und worin besteht denn der Materialismus des Buchs? Darin, daß es behauptet, die Ursache des Kriegs sei von jeher und immer noch: »der Pauperismus« (z.B. Seite 143). Onkel Bräsig war ein ebenso gelungener Materialist, als er in seiner 1848er Rede das große Wort gelassen aussprach: Die Ursache der großen Armut ist die große pauvreté.

Lassalles »System der erworbenen Rechte« ist nicht nur in der ganzen Illusion des Juristen, sondern auch in der des Althegelianers befangen. Lassalle erklärt S. VII ausdrücklich, daß auch »im Ökonomischen der Begriff des erworbenen Rechts der treibende Springquell aller weiteren Entwicklung« ist, er will »das Recht als einen vernünftigen, sich aus sich selbst«[275] (also nicht aus ökonomischen Vorbedingungen) »entwickelnden Organismus« nachweisen (S. XI), es handelt sich für ihn um Ableitung des Rechts, nicht aus ökonomischen Verhältnissen, sondern aus dem »Willensbegriff selbst, dessen Entwicklung und Darstellung die Rechtsphilosophie nur ist« (S. XII). Was soll also das Buch hier? Der Unterschied zwischen Proudhon und Lassalle ist nur der, daß Lassalle ein wirklicher Jurist und Hegelianer war, und Proudhon in der Juristerei und Philosophie, wie in allen andern Dingen, ein reiner Dilettant.

Daß Proudhon, der sich bekanntlich fortwährend widerspricht, auch hier und da einmal eine Äußerung tut, die danach aussieht, als erkläre er Ideen aus Tatsachen, weiß ich sehr gut. Dergleichen Äußerungen sind aber ohne allen Belang gegenüber der durchgehenden Denkrichtung des Mannes, und wo sie vorkommen, noch dazu äußerst verworren und in sich inkonsequent.

Auf einer gewissen, sehr ursprünglichen Entwicklungsstufe der Gesellschaft stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter eine gemeinsame Regel zu fassen, dafür zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft. Diese Regel, zuerst Sitte, wird bald Gesetz. Mit dem Gesetz entstehn notwendig Organe, die mit seiner Aufrechterhaltung betraut sind – die öffentliche Gewalt, der Staat. Mit der weitem gesellschaftlichen Entwicklung bildet sich das Gesetz fort zu einer mehr oder weniger umfangreichen Gesetzgebung. Je verwickelter diese Gesetzgebung wird, desto weiter entfernt sich ihre Ausdrucksweise von der, in welcher die gewöhnlichen ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgedrückt werden. Sie erscheint als ein selbständiges Element, das nicht aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern aus eignen, inneren Gründen, meinetwegen aus dem »Willensbegriff« die Berechtigung seiner Existenz und die Begründung seiner Fortentwicklung hernimmt. Die Menschen vergessen die Abstammung ihres Rechts aus ihren ökonomischen Lebensbedingungen, wie sie ihre eigne Abstammung aus dem Tierreich vergessen haben. Mit der Fortbildung der Gesetzgebung zu einem verwickelten, umfangreichen Ganzen tritt die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervor; es bildet sich ein Stand berufsmäßiger Rechtsgelehrten, und mit diesen entsteht die Rechtswissenschaft. Diese vergleicht in ihrer weitem Entwicklung die Rechtssysteme verschiedner Völker und verschiedner Zeiten miteinander, nicht als Abdrücke der jedesmaligen ökonomischen Verhältnisse, sondern als Systeme, die ihre Begründung in sich selbst finden. Die Vergleichung[276] setzt Gemeinsames voraus: dieses findet sich, indem die Juristen das mehr oder weniger Gemeinschaftliche aller dieser Rechtssysteme als Naturrecht zusammenstellen. Der Maßstab aber, an dem gemessen wird, was Naturrecht ist und nicht, ist eben der abstrakteste Ausdruck des Rechts selbst: die Gerechtigkeit. Von jetzt an ist also die Entwicklung des Rechts für die Juristen und die, die ihnen aufs Wort glauben, nur noch das Bestreben, die menschlichen Zustände, soweit sie juristisch ausgedrückt werden, dem Ideal der Gerechtigkeit, der ewigen Gerechtigkeit immer wieder näherzubringen. Und diese Gerechtigkeit ist immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehnden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeois von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei. Für die preußischen Junker ist selbst die faule Kreisordnung eine Verletzung der ewigen Gerechtigkeit. Die Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit wechselt also nicht nur mit der Zeit und dem Ort, sondern selbst mit den Personen, und gehört zu den Dingen, worunter, wie Mülberger richtig bemerkt, »jeder etwas anderes versteht«. Wenn im gewöhnlichen Leben bei der Einfachheit der Verhältnisse, die da zur Beurteilung kommen. Ausdrücke wie recht, unrecht, Gerechtigkeit, Rechtsgefühl auch in Beziehung auf gesellschaftliche Dinge ohne Mißverständnis hingenommen werden, so richten sie in wissenschaftlichen Untersuchungen über ökonomische Verhältnisse, wie wir gesehn haben, dieselbe heillose Verwirrung an, die z.B. in der heutigen Chemie entstehn würde, wollte man die Ausdrucksweise der phlogistischen Theorie beibehalten. Noch schlimmer wird die Verwirrung, wenn man, wie Proudhon, an dies soziale Phlogiston, die »Gerechtigkeit«, glaubt oder, wie Mülberger beteuert, mit dem Phlogiston nicht minder als mit dem Sauerstoff habe es seine vollkommene Richtigkeit.9

9

Vor der Entdeckung des Sauerstoffs erklärten sich die Chemiker die Verbrennung des Körpers in atmosphärischer Luft durch die Annahme eines eignen Brennstoffs, des Phlogiston, der bei der Verbrennung entweicht. Da sie fanden, daß verbrannte einfache Körper nach der Verbrennung mehr wogen als vorher, erklärten sie, das Phlogiston habe eine negative Schwere, so daß ein Körper ohne sein Phlogiston mehr wiege als mit ihm. Auf diese Weise wurden dem Phlogiston allmählich die Haupteigenschaften des Sauerstoffs angedichtet, aber alle umgekehrt. Die Entdeckung, daß die Verbrennung in der Verbindung der brennenden Körper mit einem andern, dem Sauerstoff, bestehe, und die Darstellung dieses Sauerstoffs machte dieser Annahme – aber erst nach langem Widerstand der altern Chemiker – ein Ende.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 269-277.
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