§ 40. Gassendis Lehre vom Geiste

[124] Infolge dieses Widerspruchs, in dem Gassendi mit sich selbst steht, und der Willkür seines Denkens gibt er nun weiter auch noch andere, mit dem atomistischen Prinzip zusammenhängende Bestimmungen auf, bestimmt Gott auf eine diesem Prinzip ganz entgegengesetzte Weise und behauptet dann auch die Unkörperlichkeit und Unsterblichkeit des Geistes. Hätte Gassendi, statt den Cartesius widerlegen zu wollen ihn zu erkennen und wahrhaft aufzufassen gesucht, so würde er auch in betreff des Geistes nicht im Kreise unbestimmter Vorstellungen stehengeblieben sein, wiewohl er über ihn einige, tiefere philosophische Gedanken berührende Vorstellungen äußert, die folgende sind.[124]

Bei der Frage, ob der Geist unsterblich ist, kommt es vor allem auf die Lösung der Frage an, ob der Verstand oder die Vernunft, denn diese ist der hauptsächlichste, vorzüglichste Teil des Geistes, die Wurzel daher auch des Willens, etwas Immaterielles ist. Der Verstand ist nun aber erstlich etwas von der Phantasie oder sinnlichen Vorstellungskraft Unterschiedenes; denn er ist die Fähigkeit in uns, durch die wir vermittelst Schlüsse uns zur Einsicht dessen erheben, was nicht sinnlich vorgestellt werden, wovon man sich kein sinnliches Bild machen kann. Der Verstand hat nicht wie die Vorstellung materielle Bilder, unter denen er die Dinge vorstellt; was aber ohne materielle Form einsieht, ist immateriell. Zweitens, dem Geiste kommen allein reflexive Handlungen zu, er nur sieht sich selbst und seine Handlungen ein, und besonders weiß er, daß er erkennt. Aber diese Funktion ist über dem Vermögen einer körperlichen Natur; denn alles Körperliche ist so an einen bestimmten Ort gebunden, daß es sich nicht auf sich selbst, sondern nur auf ein Anderes, von ihm Verschiedenes hin richten kann. Daher der Satz: Nichts wirkt auf sich selbst zurück. Es kann wohl so scheinen, als ob die Handlung von etwas Körperlichem auf es selbst zurückginge, aber es ist dann in der Tat nur ein Teil, der auf einen andern Teil wirkt. Drittens, wir bilden uns nicht bloß allgemeine Begriffe, sondern wir denken auch selbst das Wesen und Prinzip der Allgemeinheit. Da aber das Allgemeine von der Art ist, daß es von allen materiellen Bedingungen und Unterschieden der Einzelheit abgetrennt ist, so muß wahrlich der Geist, der diese Trennung von der Materie macht, frei von der Materie sein. Die Tiere erkennen und denken nicht die Allgemeinheit oder das allgemeine Wesen, z.B. vom Menschen die Humanität, die Menschheit in der Abtrennung von allen materiellen Bedingungen und Unterschieden, sie stellen nicht das Abstrakte selbst vor, sondern immer nur das Konkrete, nicht die Farbe, sondern das Farbige, nicht den Geschmack, sondern nur dieses bestimmte, so und so schmeckende Ding. Was endlich das Objekt des Geistes betrifft, so ist dieses nicht ein bestimmtes, er umfaßt alles, sein Objekt ist unbegrenzt, denn alles Wahre, alles Wesen als Wesen ist sein Objekt; sein Erkenntnisvermögen erstreckt sich daher auf alle Gattungen der Dinge, sowohl körperliche als unkörperliche, wenngleich[125] manche Hindernisse ihn von der Erkenntnis vieler Sachen abhalten, und er ist daher unkörperlich; denn er könnte nicht einmal ahnden etwas Unkörperliches, wenn er selbst materiell wäre. Da nun aber der Geist oder die vernünftige Seele unkörperlich ist, so folgt notwendig, daß sie unsterblich ist; denn was unkörperlich ist, folglich keine Masse und Teile hat, in die es getrennt und aufgelöst werden könnte, muß notwendig immer so bleiben, wie es ist; denn weder in ihm selbst noch in einem andern kann der Grund seiner Auflösung liegen, es muß daher in alle Ewigkeit fortdauern.71

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T. II: »Phys.«, Sect. III: Membr. post., L. IX, c. 2, 4; Membr. post., L. XIV, c. 2, und T. I: »Phys.«, Sect. I, L. IV, c. 3.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 124-126.
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