§ 56. Nähere Bestimmung und Erörterung des Zweifels

[184] »Es ist aber nicht hinreichend«, fährt Cartesius fort, »daß ich nur zweifle, ich muß vielmehr, um desto sicherer zur Gewißheit zu kommen, alles, woran ich zweifle, für falsch und nichtig halten. Indem ich aber so alles irgendwie Bezweifelbare bezweifle, wegwerfe und als unreell setze, so kann ich zwar leicht mich überzeugen, daß kein Gott existiert, kein Himmel, kein Körper, daß ich selbst keinen Leib habe, aber nicht, daß ich deswegen, der ich solches denke, nicht bin; denn es ist ein Widerspruch, zu Glauben, daß das, was denkt, in demselben Momente, wo es denkt, nicht existiert. Und es ist daher diese Erkenntnis: Cogito ergo sum, ich denke, ich bin, die allererste und gewisseste.« (»Princ. Phil.«, P. I, § 2, 7)

Die Existenz des Geistes ist also98 das Prinzip der Philosophie. Er ist das allergewisseste und allerreellste99, denn wenn ich auch an allem zweifle, ja, setze und annehme, daß[184] nichts ist, den Geist, seine Existenz kann ich nicht bezweifeln; im Gegenteil, indem ich (als Geist natürlich oder inwiefern ich Geist bin) alles, was nur immer bezweifelbar ist, bezweifle, d. i. alles, was nur immer von mir als Geist entfernbar und unterscheidbar, als nicht ich selbst, als nicht Geist bestimmbar ist, von mir unter- und ausscheide, also alles, was gegen oder für mich ein Andres, Gegenständliches ist, selbst alle geistigen, hauptsächlich aber die sinnlichen Objekte aus meinem Geiste vertilge, ihre Realität oder Existenz aufhebe, bin ich gerade in diesem Zweifel meiner Existenz, meiner selbst gewiß, ist dieser Zweifel eben die Gewißheit meiner selbst, diese Verneinung alles Gegenständlichen als eines von mir Unterschiedenen gerade die Bejahung meiner selbst. Indem ich also zweifle, d. i. denke – denn Zweifeln ist Denken –, bin ich; ich denke: ich bin – ist ununterscheidbar, ist eins. Denn indem ich zweifle an der Existenz alles dessen, was ich nur immer von mir unterscheide und in diesem Unterscheiden als ein Entgegengesetztes von mir erkenne, indem ich annehme, daß nichts außer mir existiert, und daher die Realität des mir Entgegengesetzten aufhebe, so beziehe ich gerade dadurch mich auf mich selbst, so setze ich eben damit die Realität meiner selbst; das Verneinen der Realität des von mir Absonderbaren, des mir Entgegengesetzten ist meine Bejahung. Dieses Absondern, dieses Verneinen des Gegenständlichen, des mir Entgegengesetzten ist aber Zweifeln und als Zweifeln Denken; ich denke, ich bin, ist also eins, ist die erste Gewißheit, das Prinzip der Philosophie.

Das Zweifeln bei C. ist also kein Zweifeln im gewöhnlichen Sinne, sondern ein habere pro falsis, ein fingere, supponere non esse, ein evertere, rejicere, negare, d. i. in philosophischen Bestimmungen ausgedrückt, eine Abstraktion, eine Negation oder Verneinung, und zwar aller Dinge, die von uns verschieden sind, also selbst auch der mathematischen Wahrheiten und aller sonstigen geistigen Objekte, weil sie, obwohl geistig, doch Objekte und insofern vom Geiste selbst unterschieden und als unterschieden von ihm ungewiß sind, besonders aber, denn diese sind am weitesten vom Geiste entfernt und unterschieden, folglich am meisten ungewiß, der sinnlichen[185] Dinge ([»Meditationes«] Resp. ad II. Object.: »de rebus omnibus praesertim corporeis dubitare«), was vorzüglich zu beachten ist, weil C. den Geist nur im Unterschied vom Sinnlichen, nur in der Verneinung desselben erfaßt und bestimmt. Daß aber bei C. der Zweifel die Bedeutung der Negation und Abstraktion, des sich Unterscheidens des Geistes von allem, vorzüglich aber sinnlich Gegenständlichen hat, liegt nicht bloß deutlich in dem ganzen Entwicklungsgang seiner »Meditationen«, in dem Resultat und Begriffe des Geistes, der und wie er ihm aus dem Zweifeln entsteht, sondern selbst für solche, die da Glauben, daß nur das in einem philosophischen Autor stehe, was sie mit den Henkeln ausdrücklicher Worte packen können, und nach Wort und Buchstabe, nicht nach Geist und Sinn seinen Inhalt bestimmen, klar genug ausgesprochen, z.B. »Princ. Phil.«, P. I, § 8. »Haecque (nämlich die dubitatio, das Zweifeln) optima via est ad mentis naturam ejusque a corpore distinctionem agnoscendam: Examinantes enim, quinam simus nos, qui omnia, quae a nobis diversa sunt, supponimus falsa esse, perspicue videmus, nullam extensionem etc. ad naturam nostram pertinere, sed cogitationem solam.«100 Denn ist das Supponere falsa, quae a nobis diversa sunt,[186] das Setzen, es sei nicht, und das Unterscheiden nicht ein Akt, das Unterscheiden nicht die Annahme, es sei nicht, und umgekehrt? Ist nicht das Unterschiedensein der Dinge, quae supponuntur falsa esse, vom Geiste der Grund, daß sie so angenommen werden? Und folglich das Unterscheiden und Unterschiedensein das Hauptmoment, die Sache, auf die alles ankommt? Denn das Unterschiedensein des Sinnlichen vom Geiste ist kein solches, wie wenn irgend zwei an Wert und Realität gleiche Dinge voneinander unterschieden werden, die in diesem Unterschiede ruhig nebeneinander bestehen, denn was der im Zweifeln an allem seine Existenz nicht bezweifeln könnende Geist, in diesem Zweifeln und Unterscheiden seiner selbst gewisse Geist von sich unterscheidet, das setzt er als ein Nichtiges, Unreelles; denn was vom Gewissesten unterschieden ist, das ist doch wohl ungewiß, was vom Reellsten, unreell? Auf den etwaigen Einwurf, daß C. nichts Gewisses wissen könne, weil er alles bezweifelt habe, antwortet er selbst: »Wenn ich den Satz: ›Ich denke, also bin ich‹, für den allerersten und gewissesten ausgesprochen habe, so habe ich deswegen nicht behauptet, daß man vorher nicht wissen müsse, was Denken sei, was Existenz, was Gewißheit, desgleichen, daß es unmöglich sei, daß das, was denkt, nicht sei, aber weil diese Begriffe höchst einfach sind und für sich allein nichts Wirkliches bezeichnen, keine Bejahung ausdrücken, so habe ich sie für nichts gerechnet.« (»Princ. Phil.« P. I, § 10) An einer andern Stelle (»R. de C. ad C. L. R. Ep.«) sagt er: »Ich habe nur die Vorurteile aufgegeben, aber nicht die Begriffe, welche ohne alle Bejahung oder Verneinung erkannt werden.«

98

»Primum principium est, quod anima nostra existit, quia nihil est, cujus existentia sit nobis notior.«, (»Epist.«, P. I, Ep. 118)

99

Gewißheit und Realität sind im Geiste C identische Begriffe. S. z.B. »Princ. Phil.«, P. I, § 9, u. Medit. II, wo er die körperlichen Dinge als dubias, ignotas, a me alienas bezeichnet.

100

Den Inhalt dieser Stelle und die Wahrheit des Gedankens, daß unter dem Zweifeln bei C. nichts anderes als das Abstrahieren und Unterscheiden zu verstehen ist, erläutern und beweisen auch die Stellen, wo C. sagt, nur deswegen sei es so schwer, den Menschen, das Wesen des Geistes zu erkennen und sich von der Wahrheit seiner Gedanken zu überzeugen, weil sie nie den Geist vom Körper unterschieden, »quia mentem a corpore nunquam satis accurate distinxerunt«. (»Princ. Phil.«, P. I, § 12), »quod nunquam animum a sensibus abducant et supra res corporeas attollant«. (»Dissert. de Methodo«, S. 32)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 184-187.
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