[213] [Der Charakter der allgemeinen und öffentlichen Sitte des Zeitalters.]
Ehrwürdige Versammlung!
Wir heben diese Rede an mit einer Bemerkung, welche die in der vorigen Rede geendete Untersuchung erst recht eigentlich schliesst, die heute zu führende eröffnet, und so den Uebergangspunct zwischen beiden ausmacht; einer Bemerkung, deren Inhalt wir immer in der Stille vorausgesetzt haben, jetzt aber ihn deutlich und bestimmt aussprechen wollen.
Vom Christenthume haben wir den ganzen Charakter der neuen Zeit und die Art und Weise der Entwickelung dieses Charakters der Zeit abgeleitet. Aber alles, was Princip der Erscheinung wird, geht ebendarum in der Erscheinung verloren, und wird, dem äusseren Sinne unsichtbar, nur noch bemerklich dem schärferen Nachdenken. Inwiefern daher das Christenthum wahrhaft Princip geworden, kommt es im deutlichen Bewusstseyn der Zeitgenossen gar nicht mehr vor; hingegen dasjenige, was sie sich etwa als Christenthum denken, ist gerade um deswillen noch nicht Princip geworden, – noch ist es aufgenommen in das eigene innere selbstständige Leben der Zeit. Christenthum war uns gleichbedeutend mit einig wahrer Religion; und von den zufälligen Modificationen, welche. diese wahre Religion durch die Zeit ihres ersten Eintrittes in die Welt erhielt, haben wir abstrahirt. Inwiefern nun die Folgen dieser zufälligen Modificationen in dem stehenden Zustande der ganzen Menschheit sich festgesetzt haben, – wie wir dies an der ganzen dermaligen Verfassung der europäischen Staatenrepublik dargethan, – entdeckt man die Quelle nicht mehr, und schreibt z.B. dem Zufalle zu, was doch des Christenthums ist.
Nicht anders mag es wohl mit anderen Verhältnissen der menschlichen Gattung beschaffen seyn, welche über den Staat[213] hinausliegen. Um gleich das höchste nach der Religion zu nennen, die Wissenschaft, und von dieser denjenigen Zweig, der immer den entscheidendsten Einfluss auf die Gestalt der gesammten Wissenschaft gehabt, und, stillschweigend wenigstens, wahrscheinlich nicht mit Unrecht sich die Gesetzgebung über sie angemaasst, die Philosophie: – wodurch wurde denn in der neuen Zeit die Liebe zur Philosophie entzündet, ausser durch das Christenthum: was war denn die höchste und letzte Aufgabe der Philosophie, als die, die christliche Lehre recht zu ergründen, oder auch sie zu berichtigen: wodurch hatte denn die Philosophie in allen ihren Gestalten den allgemeinsten Einfluss, und auf welchem Wege floss sie denn aus dem engeren Umkreise ihrer Geweihten wieder herab auf die ganze menschliche Gattung, ausser vermittelst der Vorstellungen von Religion, und der Mittheilung dieser Religion an das Volk? In der ganzen neuen Zeit ist die jedesmalige Geschichte der Philosophie die noch künftige der religiösen Vorstellungen; beide schreiten miteinander fort zu höherer Reinheit und zu ihrer ursprünglichen Einigkeit, und der religiöse Volkslehrer ist der beständige Vermittler des gelehrten und des ungelehrten Publicums. So ist die ganze neuere Philosophie unmittelbar, und vermittelst ihrer die Gestalt der gesammten Wissenschaft mittelbar, durch das Christenthum erschaffen: eben also wird es sich auch mit anderen Dingen verhalten; und so möchte es sich finden, dass das einzige, in dem ewigen Fortflusse der neuen Zeit bestehende und unwandelbare das Christenthum sey in seiner reinen, selbst unwandelbaren Gestalt, und dass dieses allein es bleiben werde bis an das Ende der Tage.
Wir haben, unserem früher vorgezeichneten Plane zufolge, heute den Charakter der allgemeinen und öffentlichen Sitte im gegenwärtigen Zeitalter anzugeben; es wird Sie nach dem Gesagten nicht wundern, wenn wir auch hier wieder zum Christenthume, als dem Principe aller Sitte in der neuen Zeit, zurückzugehen genöthiget sind.
Was heisst zuvörderst Sitte, und in welchem Sinne bedienen wir uns dieses Wortes? Es bedeutet uns, und bedeutet unseres Erachtens in jedem Sprachgebrauche, der sich selbst[214] recht versteht, die angewöhnten und durch den ganzen Stand der Cultur zur anderen Natur gewordenen, und ebendarum im deutlichen Bewusstseyn durchaus nicht vorkommenden Principien der Wechselwirkung der Menschen untereinander. Die Principien, sagten wir; darum nicht etwa das zufällige, und vielleicht durch zufällige Gründe bestimmte wirkliche Verfahren, sondern den verborgenen, sich immer gleichbleibenden Grund, den man bei dem nur sich selbst Überlassenen Menschen voraussetzen, und aus ihm das Verfahren, welches erfolgen wird, so ziemlich sicher vorher berechnen kann. Die zur Natur gewordenen, und darum im deutlichen Bewusstseyn nicht vorkommenden Principien, sagte ich: es sind daher alle auf Freiheit sich stützende Antriebe und Bestimmungsgründe dieses allgemeinen Betragens, – der innere der Sittlichkeit, der Moralität, sowie der äussere des Gesetzes, abzurechnen; was der Mensch erst bedenken und frei beschliessen muss, ist ihm nicht Sitte, und inwiefern einem Zeitalter eine Sitte zugeschrieben wird, wird es betrachtet als bewusstloses Werkzeug des Zeitgeistes.
Schon oben schrieben wir der Einführung der Gleichheit aller vor dem Rechte und vor einer bestimmten, jedes Vergehen sicher entdeckenden und auf die angedrohte Weise bestrafenden Gesetzgebung, – welche Gesetzgebung in der neueren Zeit wiederum lediglich auf Andrang des Christenthums eingeführt worden – wir schrieben, sage ich, einer solchen Gesetzgebung einen höchst vortheilhaften Einfluss zu auch auf die Sitte der Bürger. Wird, so ohngefähr drückten wir uns aus – wird jedwede innere Versuchung zur Ungerechtigkeit gegen andere, durch das sichere Bewusstseyn, dass dabei nichts als unausbleibliche Strafe und Verlust zu erwarten sey, gleich in der Geburt erdrückt: so kommt es ganz aus der Gewohnheit eines solchen Volkes, ungerechte Gedanken sich auch nur einfallen zu lassen, oder sie in der mindesten Aeusserung zu zeigen. Alle erscheinen als tugendhaft; obwohl es noch immerfort das drohende Gesetz seyn mag, welches die böse Lust in den geheimsten Winkel des Herzens zurückscheucht; das Andenken an die Drohung des Gesetzes ist zur Sitte[215] geworden, und macht es zur Sitte, keinem ungerechten Gedanken den Ausbruch zu verstatten. Diese Sitte, als lediglich zurückhaltend vom bösen, keinesweges aber noch treibend zum guten Betragen, wäre negative gute, d.h. nur nicht böse Sitte; und ihre Erzeugung wäre der negative Einfluss der Gesetzgebung, und vermittelst derselben des Christenthums, auf die öffentliche Sitte.
Dieser Einfluss der Gesetzgebung auf die Sitte ist nothwendig und unfehlbar: – ist in keinem Falle aus der Ungerechtigkeit Gewinn, sondern allemal nur Verlust zu erwarten, so kann keiner, wenn er nur sich selber liebt und sein eigenes Wohlseyn will, ungerecht seyn wollen. Sollte nun etwa unter einer wirklich zweckmässigen Gesetzgebung dieser Einfluss auf die Sitten sich keinesweges in dem zu erwartenden Grade zeigen, so wäre nur zu untersuchen, ob dieser Mangel nicht etwa auf die stattfindende Ungewissheit über die Vollziehung des Gesetzes sich gründete: entweder weil der Schuldige mit grosser Wahrscheinlichkeit hoffen kann unentdeckt zu bleiben, oder weil der Rechtsgang und die gerichtliche Untersuchung und Beweisführung dunkel und verworren ist, und Auswege zum Entschlüpfen darbietet. Sodann argumentirt der Versuchte dem Staate gegenüber also: zehn etwa oder mehr um mich herum haben dasselbe gethan und sind ungestraft geblieben, warum sollte gerade ich, der Eilfte, entdeckt werden; oder auch, – ich selber habe es schon zehnmal unentdeckt gethan, wage ich es noch dieses eilftemal! Würde ich zum Unglück entdeckt, so habe ich den Gewinn von zehn gegen den Verlust von eins voraus: – und es lässt gegen seine Rechnung sich nichts einwenden. Im ersten Falle, der Wahrscheinlichkeit der Nichtanklage, wäre trotz der guten Gesetzgebung dennoch Mangel an Aufsicht im zweiten Falle, der Hoffnung, selbst angeklagt der Ueberweisung zu entgehen, Mangel an der gehörigen Anzahl scharfsinniger Richter. In beiden Fällen wurde es Aufgabe, den Grund des Mangels zu entdecken: z.B. ob er nicht selber aus der oben beschriebenen Noth des Staates, der alle seine Kraft unmittelbar zur äusseren Selbstvertheidigung brauchte, entspringe; und ob etwa ein solcher Staat,[216] falls ihm die Verbesserung der Polizei oder die Schärfung der gerichtlichen Untersuchung angemuthet würde, dagegen sich beklagte, dass er dazu die Kosten nicht aufzubringen vermöge. Es wäre einer solchen Regierung in diesem Falle vorzustellen, dass die innere Sicherheit und Stärke noch bedeutender ist, als die äussere, und dass die erstere der letzteren zur Grundlage diene, und dass die Kosten für die erste zuerst berichtigt seyn müssen, ehe es an den zweiten Gegenstand nur kommen dürfe; und es wäre, falls man etwa dieser Regierung keine Vorstellungen machen dürfte, und da man noch weniger irgend eine Regierung zwingen kann, ihr zu wünschen, dass die aufs höchste gestiegene innere Unordnung, und die Vereitelung sogar ihrer deutlich gedachten Absicht durch diese Unordnung, sie zwingen möge.
Es wäre ihr in Absicht des Processes vorzustellen: dass, so viel Achtung auch das Bestreben verdiene, durchaus keinen Unschuldigen zu verurtheilen, und so wenig auch die Resultate dieses Bestrebens aufgegeben werden müssen, dennoch das entgegengesetzte, durchaus keine Schuldigen unentdeckt und unbestraft zu lassen, eine nicht weniger bedeutende Aufgabe sey; dass der Lösung beider zugleich gar nichts im Wege stehe, und dass ohne die letztere Lösung selber die erstere nicht gelöst sey, und der Staat seinem eigenen Zwecke entgegenhandle.
Es ist hier der Ort, E. V., wo ich für mich kein Wort weiter sagen kann, sondern wo Sie selber zu beurtheilen haben: wie es in Absicht dieser Wirksamkeit der Gesetzgebung auf die Sitte in Europa überhaupt, und insbesondere da, wo der Staat am gebildetsten ist, stehe, worin, falls es da fehlen möge, der Fehler eigentlich liege, und wie daher die neue Zeit weiter fortzuschreiten habe.
Verhalte es sich inzwischen mit diesem Maasse des Einflusses der Gesetzgebung auf die negative öffentliche Sitte wie es wolle, in jedem Falle fliesst diese Sitte, wenn sie nur überhaupt vorhanden, wiederum wechselwirkend ein auf den Staat und die Art und Weise seiner Gesetzgebung. Dieses, wie wir es sogleich erweisen werden, vorausgesetzt, ist ein solches Verfahren des Staates in seiner Gesetzgebung, da es aus der Sitte[217] der Bürger herkommt, und durch sie, keinesweges durch die Gesetzgebung, als solche, bedingt ist, selbst nur Sitte; und da es den Staat nicht etwa nur von Ungerechtigkeit abhält, welche ohnedies mit der Gesetzgebung nie besteht, sondern diese Gesetzgebung nur zu einem anderen Verfahren leitet, positive Sitte des Staates. Die positive gute Sitte aber besteht darin, dass man in jedem Individuum die menschliche Gattung anerkenne und ehre. Diese Sitte, sagte ich, wird dem Staate in der Weise seiner Gesetzgebung durch die negative gute Sitte der Bürger möglich gemacht – Es lässt sich nemlich als beständiger Grundsatz der Strafgesetzgebung folgendes aufstellen: je sicherer es ist, dass die Strafe erfolgt, und jemehr durch diese Gewissheit die Sitte der Nation gebildet ist, desto milder und menschlicher können die Strafen seyn. Diese Milderung gilt aber nicht eigentlich dem Verbrecher, gegen welchen, als solchen, der Staat keine weiteren Rücksichten hat, sondern sie gilt der Gattung, deren Bildniss er doch immer in seiner Person trägt.
Zum Beispiel. Wer die Sache nicht einseitig, sondern in ihren tiefsten Gründen zu betrachten gewohnt ist, wird ohne Zweifel zugeben, dass ein Individuum so gefährlich für die Gesellschaft werden könne, dass der Staat dieselbe vor ihm durchaus nicht zu sichern vermöge, ohne ihn aus der Welt zu schaffen. Er wird aber zugleich, wenn er nur nicht von dem barbarischen mosaischen Grundsatze: Auge um Auge, und Zahn um Zahn, ausgeht, zugeben, dass der Staat nur in dem äussersten Nothfalle und nur, wenn wirklich kein anderes Mittel übrigbleibt, dieses wählen solle; denn der Verbrecher bleibt doch immer ein Mitglied der Gattung, und hat als solches das Recht, zu leben so lange er kann, um sich zu bessern. Dass aber, dieses für den einzelnen Fall zugegeben, die Regierung etwa noch überdies mit der Ausführung des Verurtheilten ein pomphaftes Gepränge treibe, den Tod durch Martern schärfe, den Leichnam zur ekelhaften Schau aufstelle, ist höchstens nur da zu entschuldigen, wo die Nation recht häufig solcher schreckhaften Anblicke bedarf, damit nicht alle bei jeder Gelegenheit zu Gräuelthaten hingerissen werden. In einem gesitteten und zum Blutvergiessen nicht geneigten Zeitalter wäre es unseres[218] Erachtens hinlänglich, wenn das Todesurtheil nur öffentlich gesprochen, aber in geheimer Stille vollzogen, und darauf nur der Leichnam vorgezeigt würde, damit ein jeder, der wollte, von der Gewissheit der geschehenen Vollziehung sich überzeugen könnte. Kurz, je gesitteter ein Volk wird, desto seltener und desto milder müssen unter ihm die Lebensstrafen, und überhaupt alle Strafen werden.
Diese allmählige Milderung der Strafgesetzgebung, sagten wir, wird dem Staate durch die Verbesserung der öffentlichen Sitte möglich gemacht. Was soll ihn aber nach eingetretener Möglichkeit antreiben und bewegen, wirklich zu thun, was ihm bloss möglich geworden? Ich antworte: die allgemeine Meinung, sowohl des gesammten Europas, als insbesondere die seines Volkes. So lange es noch nicht Sitte geworden, in jedem menschlichen Individuum die Gattung anzuerkennen und zu ehren, ist das Volk noch zu Gewaltthätigkeiten geneigt, und muss durch harte und zum Theil schauderhafte Strafen im Zaume gehalten werden; nachdem jene Ansicht Sitte, und darum die Gewaltthätigkeit seltener geworden, kann es niemand mehr dulden, dass irgend einer, der menschliches Antlitz trägt, was er auch sonst begangen habe, gleichsam zur Schau gequält werde; der Gebildete entzieht mit Ekel sein Auge dem Anblicke, und die ganze Welt verachtet eine Regierung und eine Nation, unter der es noch sehr harte Strafen giebt, als barbarisch; und so wird die Regierung durch ihre eigene und der Nation Ehrliebe getrieben, die Strafgesetzgebung dem Geiste der Zeit angemessen zu erhalten, und hierin selbst gute Sitte anzunehmen.
Und so ist denn hier abermals ein Punct, E. V., wo ich Ihr eigenes Urtheil aufrufen muss, – und es Ihnen selber überlassen, in dieser Rücksicht die Vorzeit mit der gegenwärtigen zu vergleichen, und zu ermessen, wo die letztere stehe, und auf welche Weise sie etwa noch ferner vorzuschreiten habe.
Wir haben bei Gelegenheit der soeben geendeten Betrachtung zugleich im Vorbeigehen gefunden und angezeigt, worin die positiv gute öffentliche Sitte bestehe. Sie besteht in der Gewohnheit, jedes Individuum ohne Ausnahme als ein Mitglied[219] der Gattung anzusehen, und von ihm also angesehen seyn zu wollen; es so zu behandeln, und von ihm also behandelt seyn zu wollen. Anzusehen und angesehen zu seyn, behandeln und behandelt zu seyn, habe ich gesagt: denn beides ist unzertrennlich vereint, und wer das letzte nicht will, thut auch nicht das erste. Wem es gleichgültig ist, was der andere von ihm denke, und in Dingen, worüber das Recht nichts vorschreibt, ihn behandele, verachtet diesen anderen, und wirft ihn weg als ein Nichts; weit entfernt davon, dass er sein Urtheil als ein Urtheil der Gattung solle gelten lassen. Nun bleibt es ewig wahr, dass jemand durch eigene schlechte Sitte andere gegen sich in die Lage setzen könne, dass ihnen nichts übrig sey, als die entschiedenste Verachtung für ihn, und dass sie daran ganz recht haben: nur muss diese Verachtung nicht ursprüngliche Sitte seyn, sondern sie muss veranlasst und verdient werden; und sodann hebt der deutliche Begriff hinweg über die Sitte.
Die Hauptbestimmung in unserem aufgestellten Begriffe der guten Sitte ist die: dass schlechthin jedes Individuum, bloss als solches, und dadurch, dass es menschliches Angesicht trägt, ohne Ausnahme eines einzigen, – fürs erste, und falls es nicht durch eigene Handlungen dieses Urtheil verwirkt, – für ein Mitglied der Gattung und einen Repräsentanten derselben anerkannt werde; das heisst mit anderen Worten: dass die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen die herrschende und allem Verkehr mit Menschen zu Grunde liegende Ansicht sey. Nun ist dieselbe Gleichheit aller Menschen das eigentliche Princip des Christenthums; die allgemeine bewusstlose Herrschaft dieses Christenthums, und die Verwandlung desselben in das eigentliche treibende Princip des öffentlichen Lebens, wäre daher zugleich der Grund der guten Sitte, oder vielmehr selbst und unmittelbar die gute Sitte. Die bewusstlose Herrschaft, habe ich gesagt; es wird nicht mehr ausgesprochen: das und das lehrt das Christenthum, sondern die Sache selbst ist da, und lebt wahrhaftig und in der That verborgen im Gemüthe der Menschen, und äussert sich in allem ihrem Thun.
Nun ist diese Voraussetzung allerdings da in der Welt seit dem Ursprünge des Christenthums, und niemand handelt dagegen,[220] weil es keiner vermag. Vor Gott sind wir alle gleich, sagt mancher, und lässt sichs gefallen, dass wir in jenem Leben wirklich werden gleichgestellt werden, weil er es nicht ändern kann; der doch in diesem Leben auf die Ungleichheit der Menschen sich stützt, sie aus allen Kräften auf recht erhält und von ihr den höchstmöglichsten Vortheil zu ziehen sucht. Jenes Princip der Gleichheit müsste daher auf die irdischen Verhältnisse der Menschen angewendet werden, wenn es zu wahrhaftig lebendiger, guter Sitte werden sollte. Dies wird es nun durch den vollendeten Staat, der alle auf gleiche Weise, jeden an seinem Platze, durchdringt, und sie zu seinen Werkzeugen macht. Nicht die bloss ideale Herrschaft des Christenthums sonach, sondern die durch den Staat hindurchgegangene und in ihm realisirte Herrschaft dieses Christenthumes ist die wahre gute Sitte; und der Begriff dieser guten Sitte ist nun weiter also bestimmt: jedes Individuum wird als Mitglied der Gattung anerkannt, wenn wir es als Werkzeug des Staates ansehen, und von ihm angesehen seyn wollen, es so behandeln, und von ihm also behandelt seyn wollen. – So angesehen und so behandelt seyn wollen; nun aber können wir ihm keinen Irrthum anmuthen; wir müssen darum wirklich Werkzeug des Staates seyn, und seyn wollen, und obwohl vielleicht in einer anderen Sphäre, dennoch in demselben Maasse es seyn wollen, als er es ist.
Die vollkommene Durchdringung aller vom Staate, und mit ihr die Gleichheit aller im Staate, tritt erst ein durch die vollkommene Gleichstellung der Rechte aller: die vollkommene gute Sitte besteht sonach darin, dass man diese Gleichheit der Rechte aller voraussetze, wenigstens als etwas, zu dem es kommen solle und müsse, und jedweden also behandle, als ob es dazu kommen müsse; auch von ihm nicht anders, als nach dieser Voraussetzung behandelt seyn wolle. Es ist eben daraus klar, dass die Ungleichheit der Rechte die eigentliche Quelle der schlechten Sitte, und die stillschweigende Voraussetzung, dass es bei dieser Ungleichheit bleiben müsse, die schlechte Sitte selbst ist.
Um dies durch nähere Auseinandersetzung ganz klar zu[221] machen. – Da stehen fürs erste einander gegenüber der vermögendere und gebildetere Bürgerstand, und die privilegirten Stämme. An dem ersteren ist es schlechte Sitte: entweder, von der einen Seile, die Auszeichnungen der letzteren zu hoch anzuschlagen, und ausser den, durch die Convenienz gebotenen Ehrenbezeugungen, die jeder Verständige mitmacht, ein sklavisch unterwürfiges und kriechendes Betragen gegen sie anzunehmen; oder, von der anderen Seite, ihnen ihre Auszeichnungen zu beneiden, mit Bitterkeit sich dawider zu äussern, und diese Auszeichnungen, entweder aus Hass oder aus Mangel an reifem Nachdenken, in ein falsches und gehässiges Licht zu stellen. Diese schlechte Sitte des einen Theils bringt gar leicht andere schlechte Sitte beim anderen Theile hervor: indem er entweder die nicht gebührenden Huldigungen nicht mit der gehörigen Indignation abweist, sondern es sich gefallen lässt, gering zu schätzen, was sich ihm zur Geringschätzung darbietet; oder den anderen Stand streng von sich abhält, und sich vor ihm und seiner Berührung enge verschliesst.
Wie sollen nun diese beiden entfremdeten Theile desselben Staates friedlich sich vereinigen und zusammenstimmen zu Einer und derselben guten Sitte? Das erspriesslichste wäre, wenn die Wissenschaft sie verbände; und zwar also, dass der Bürgerstand zuerst im Besitze derselben sich befände, und die Mittheilung von ihm ausginge. – Wäre sie anfangs bei den privilegirten Stämmen, so wäre zu befürchten, dass diese sich in dem alleinigen Besitze davon zu erhalten suchten, und so zu einer Begünstigung des Zufalles noch den weit bedeutenderen Vorzug des wahren Werthes ausschliessend hinzufügten. Von dem wahrhaft wissenschaftlich ausgebildeten Bürger ist zu erwarten, dass er jene Privilegien in ihrer eigentlichen Bedeutung und Werthe – ohngefähr also, glaube ich, wie dieselben in der vorigen Rede angegeben worden – verstehe und begreife, und ebendarum so weit davon entfernt seyn werde, sie zu überschätzen, als davon, sie zu beneiden. Der wissenschaftlich ausgebildete Mann von privilegirtem Stande erhält einen eigenen, neuen und persönlichen Werth, der ihn sehr geneigt machen wird, dem Lichte, welches dieselbe Wissenschaft auf[222] sein durch Zufall ihm angeborenes Privilegium wirft, das Auge zu öffnen. Ihnen beiden wird der Unterschied im Geringeren vor ihrer Gleichheit im Höheren, das sie beide über alles schätzen, gar leicht verschwinden.
Beide Stände, durch dieses Band nunmehr vereinigt, stehen nur noch gegenüber dem grossen Volke, welches die mechanische und körperliche Arbeit thut, und dabei fast allgemein des vollständigen Unterrichtes, dessen es bedürfte, entbehrt. Seine täglichen Lasten fühlt es; dass die höheren Stände, bei reichlicherem und bequemerem Lebensgenusse, seine mechanischen Arbeiten nicht theilen, sieht es; wie diese in anderen Sphären ihre Mühe und Arbeit gleichfalls haben: wozu sie im Ganzen nützlich, nöthig, und für das Volk selbst unentbehrlich sind; und insbesondere, welchen herrlichen Gewinn selbst diese ihre, der niederen Volksklassen, Arbeit dem Ganzen gewährt, wissen und begreifen sie nicht. Es ist unter diesen Umständen nicht anders möglich, als dass bei ihnen die schlechte Sitte zur anderen Natur werde, die höheren Stände bloss für Bedrücker zu halten, die von ihrem Schweisse zehren; und bei jedem Antrage, der von ihnen kommt, sogleich herumzudenken, welchen neuen Vortheil wohl jene wiederum hierbei suchen mögen. Es kann diesen durchaus durch nichts geholfen, noch ihre arge Sitte verbessert werden, ausser durch die lebendige Einsicht, dass sie durchaus nicht der Willkür eines Einzelnen, sondern dem Ganzen dienen, und diesem nur so weit, als das Ganze ihres Dienstes bedarf; und dass jedweder ihrer Mitbürger, welches Standes er sey, ohne Ausnahme ganz dasselbe Schicksal trage; aber damit sie es einsehen können, muss es sich auch in der That also verhalten; denn man hoffe doch ja nicht, die niederen Stände in Sachen, die ihren Vortheil betreffen, zu täuschen! Die Gleichheit der Rechte müsste daher entweder wirklich eingeführt seyn, oder der Begünstigte müsste immerfort öffentlich und vor den Augen aller handeln, als ob sie eingeführt wäre. Auf diesen Zustand müsste sie nun der Vermittler zwischen ihnen und den höheren Ständen, der Volkslehrer, der die Verkettung ihrer Begriffe und ihre Sprache kennen soll, aufmerksam und denselben ihnen einleuchtend[223] machen; mit einem Worte, das Volk sollte nicht bloss in der Religion, sondern auch über den Staat und seinen Zweck und seine Gesetze Unterricht, und zwar gründlichen und bündigen Unterricht, erhalten.
Um meinen Gedanken an einem bestimmten Beispiele klar zu machen: der grosse Güterbesitzer müsste, seinen Bauern gegenüber, mit Grunde der Wahrheit und dem täglichen Zeugnisse ihrer eignen Augen gemäss so sagen können, oder ihnen durch den Volkslehrer sagen lassen können: obwohl ich soviel besitze, als vielleicht hundert oder tausend von euch, so kann ich doch darum nicht für hundert oder tausend essen, trinken und schlafen. Die Unternehmungen, die ihr mich täglich machen seht, die Proben im Grossen mit neuen Arten der Bewirthschaftung, die Einführung neuer edlerer Thierarten, neuer Pflanzen und Sämereien aus entlegnen Ländern, ihre noch ungewohnte und erst zu erlernende Behandlung, bedürfen grosser Auslagen und Vorschüsse, und des Vermögens, das mögliche Mislingen zu übertragen. Ihr vermögt dies nicht, darum wird es euch nicht angemuthet; aber was mir gelungen ist, das lernt von mir und macht es nach; was mir mislungen ist, das lasset, denn ich habe schon für euch das Wagniss bestanden. Aus meinen Heerden wird allmählig das nun schon einheimisch gewordene edlere Zuchtvieh durch die euren, von meinen Aeckern die schon an das Klima gewöhnte einträglichere Frucht sich über eure, nebst der auf meine Unkosten erlernten und bewährten Kunst der Wartung, verbreiten. Es ist wahr, dass meine Speicher mit Vorräthen aller Art vollgepfropft sind; wem unter euch aber habe ich jemals sie verschlossen, der meiner bedurfte? Wer unter allen ist jemals in einer Noth gewesen, da ich ihm nicht beigestanden? Was ihr nicht bedürft, wird auf den ersten Wink des Staats in die erste vaterländische Provinz strömen, die der Mangel drückt. Beneidet mir nicht das Geld, das ich dafür ziehe. Es wird eben so angewendet werden, wie ich noch Alles, das ich hatte, vor euren Augen angewendet habe; es soll mit meinem Willen kein Heller davon ohne Gewinn für höhere Cultur ausgegeben werden. Dabei bin ich in jedem Augenblicke bereit, wenn[224] der Staat meiner Gelder für Besoldung seiner Armeen oder Unterstützung seiner Provinzen, der Zerschlagung meiner Güter für Unterbringung einer grösseren Volksmenge bedarf, sie ihm verabfolgen zu lassen. Ich stehe euch dafür, dass ihr mich keine Miene verziehen sehen sollt. Bedarf er ihrer nicht, und soll ich sie meinen Kindern hinterlassen; so habe ich diese erzogen, dass sie handeln werden wie ich, und ihre Nachkommen erziehen werden, zu handeln wie ich, bis an das Ende der Tage.
Dies, E. V., ist die öffentliche und allgemeine gute Sitte. Wie weit es nun in unserm Zeitalter da, wo der Staat und seine Bewohner auf der Spitze der Cultur stehen, in Vergleich mit den frühern Zeiten mit der Herrschaft dieser Sitte gekommen, in welchen Stücken es noch ermangle, und wie daher unsre Gattung in dieser Rücksicht zunächst fortzuschreiten habe: – überlasse ich hier umsomehr der eignen Beurtheilung derjenigen unter Ihnen, welche Gelegenheit haben, über diesen Gegenstand Beobachtungen anzustellen, da ich diese Gelegenheit, besonders, was das Verhältniss der gebildeten Stände zum Volke betrifft, seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr, und in gewissen Ländern niemals gehabt habe. Ich hatte nichts mehr zu thun, als nur im allgemeinen die Principien für ein solches. Urtheil aufzustellen. – Dass ich es nochmals kurz zusammenfasse: Darin besteht eines jeglichen Bestimmung und Werth, dass er mit allem, was er ist, hat und vermag, sich an den Dienst der Gattung, – und da und inwiefern der Staat die Art des Dienstes, welchen diese Gattung in der Regel bedarf, bestimmt, – an den Dienst des Staates setze. Auf welche von ihm selbst gewählte, oder vom Staate ihm angewiesene Art jemand dies thue, darauf kommt es nicht an; sondern nur darauf, dass er es thue: und jeder ist zu ehren, nicht nach dieser Art, sondern nach dem Grade, in welchem er es in seiner Art thut. Selbst der, der es nicht thäte, oder es höchst unvollkommen thäte, ist wenigstens als ein solcher, der es thun sollte, der es thun könnte, und der es vielleicht einst noch thun wird, zu achten und nach dieser Ansicht zu behandeln. – Ebenso hat keiner von den übrigen Ehre[225] und Achtung für sich zu fordern, als lediglich aus diesem Grunde, und keinen Anspruch auf irgend ein Gelten vor ihnen zu machen, als allein in dieser Rücksicht. Und so würde denn aller Einfluss des Standesunterschieds auf die gegenseitige Behandlung rein ausgetilgt sein, und alle Bürger des Staats und zuletzt das gesammte Menschengeschlecht sich vereinigen zu gleicher gegenseitiger Achtung und achtender Behandlung: weil diese Behandlung auf einem gleichen und allen auf dieselbe Weise gemeinsamen Grunde beruhte.
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