Vierzehnte Vorlesung

[198] [Freiere Entwicklung des Staats seit dem Falle der geistlichen Centralgewalt in den besondern Reichen der Einen christlichen Völkerrepublik: garantirt durch die nothwendige Sorge jedes einzelnen Staates für seine Selbsterhaltung innerhalb des sich immerfort bekämpfenden Ganzen. Gleichstellung aller in Ansehung der Rechte. Das Bestreben des Staates, den Bürger ganz zu seinem Werkzeuge zu machen, möge der politische Grundzug des Zeitalters seyn.]


Ehrwürdige Versammlung!


Das Christenthum war es, welches die Volkselemente einer neuen Zeit versammelte und geistig wiedergebar; die Verweser dieses Christenthums, zu einer politisch-geistlichen Centralgewalt geworden, waren es, welche den neuen Staat, der von ohngefähr in eine Staatenrepublik zerfallen war, in diesem Zustande der Theilung erhielten, die wechselseitigen Verhältnisse der einzelnen Staaten ordneten, bei äusseren Veranlassungen sie sogar zu einer einzigen handelnden Macht zusammendrängten; und unter deren Schutze jeder besondere Staat seine Unabhängigkeit und die Freiheit, sich selbstständig zu entwickeln und Kraft zu gewinnen, besass und übte.

Der Neueuropäer, theils, weil er doch nie von dem Princip, worauf die Macht jener geistlichen Gewalt beruhte, – dass sie nemlich die Vermittlerin sey zwischen Gott und Menschen, – ganz durchdrungen werden konnte: theils wegen seiner uranfänglich angestammten Liebe zur politischen Unabhängigkeit, konnte diese Bevormundung nur so lange ertragen,[198] als die einzelnen Staaten noch an ihrer inneren Befestigung arbeiteten, und im täglichen Gedränge der innerlich kämpfenden Elemente gar nicht zum deutlichen Bewusstseyn ihrer eigenthümlichen Kraft gelangen konnten.

Dieser innere Kampf wurde durch eine Eigenthümlichkeit in der früheren Verfassung der germanischen Stämme, sowie durch ihren Nationalcharakter angeregt, – und von der, die Bedingungen ihres Einflusses sehr wohl kennenden geistlichen Centralgewalt sorgfältig unterhalten und benutzt. Das Festeste und allein Bestand Bringende in die ausserdem stets schwankende und zerfliessende Masse war bei den germanischen Stämmen ohne Zweifel die persönliche Verbindung der freiwilligen Gefährten und Getreuen mit dem Anführer, den sie selbst sich gegeben hatten.

Die germanischen Eroberer und Staatenbegründer waren im Grunde solche Anführer, und aus ihren persönlich auf Leben und Tod ihnen ergebenen Treuen bestand die wahre Stärke ihrer Heeresmacht, an welche andere wandernde Massen sich nur anschlossen. Ohnedies zur Erhaltung seiner Getreuen verbunden, gab der Eroberer ihnen Ländereien, und übertrug auf den Besitz derselben das ehemals persönliche Band; so dass Verbinden und Verbindlichkeit späterhin sogar vererbt werden sollten. Das ehemals freiwillige und persönliche Band wurde ein dauerndes politisches Band, und die Feudalverfassung war entstanden So konnte es nicht bleiben. Freiwillig, aus Bewunderung für persönliche Vorzüge, mochte der Germanier sich wohl unterwerfen, aber eine politische Unterwerfung duldete nicht seine Liebe zur Unabhängigkeit. Die Vasallen strebten sich diese Unabhängigkeit zu erkämpfen, die Herrscher widersetzten mit gutem Fuge sich diesem Bestreben, und die geistliche Centralgewalt suchte, gleichfalls mit gutem Fuge, auch zwischen diesen beiden inneren Parteien das Gleichgewicht zu erhalten, und auf diese Weise den Kampf und damit zugleich das Bedürfniss ihrer Vermittelung und die innere Unselbstständigkeit der einzelnen Staaten, – zu verewigen. Endete dieser Kampf, so war die erste Vormauer ihres Reichs[199] gestürzt. Er konnte auf zweierlei Weise endigen entweder durch die Niederlage der Vasallen, wie es in einem der Hauptstaaten des christlichen Reichs (Frankreich) geschahe; oder durch die Niederlage der Staatsgewalt, wie es in einem anderen Hauptstaate (Deutschland) geschah. Blieben im letzteren Falle nur beträchtliche Massen vereinigt, so dass die vorherigen Vasallen nun selbst Staaten abgeben und ihre Vasallen binden konnten, so erfolgte um deswillen noch gar nicht die allgemeine Auflösung. Wie durch ein Wunder vereinigte sich im letzteren Staate mit diesem siegreichen Beginnen die Kirchenreformation, und die zur Unabhängigkeit Aufstrebenden erhielten an der letzteren einen neuen Bundesgenossen, den sie vortrefflich zu gebrauchen wussten gegen die Reichsgewalt, – welche ihre Unterdrückung, – und gegen die geistliche Macht, – welche zwar nicht ihre Unterdrückung, aber ebensowenig ihre entschiedene Unabhängigkeit wollte.

Die politischen Principien dieser Reformation, inwiefern sie gegen den Einfluss der geistlichen Centralgewalt gerichtet waren, fanden selbst da Eingang. wo sie nicht gegen die höchste Staatsgewalt gebraucht werden sollten, und wo man die dogmatischen Principien derselben Reformation verwarf. Und hiermit war denn das Ende der politischen Gewalt jener geistlichen Centralmacht gekommen, und sie selbst behielt nur noch dogmatische und disciplinarische Kirchengewalt da, wo man die Reformation nicht annahm.

Durch diese totale Reform des Culturstaates erhielt zuvorderst das Einheitsband desselben, als Einer und ungetheilter christlicher Republik, einen ganz anderen Träger und Haller, und neue Modificationen. Es wurde diese Einheit gar nicht mehr, wie vorher, deutlich gedacht und nach ihr, als Princip, mit klarem Bewusstseyn gehandelt, sondern sie wurde sammt den Grundbegriffen, die aus ihr folgten, und die wir in der vorigen Stunde aufgestellt, mehr dunkler Instinct: gewohnte Voraussetzung, die man macht, und nach der man handelt, ohne es eigentlich zu wissen; und ihre Bewachung kam aus den Händen der Kirche in die der öffentlichen Meinung, die der Geschichte, die der Autoren überhaupt.[200]

Zuvörderst: – es ist die nothwendige Tendenz jedes cultivirten Staates, sich allgemein zu verbreiten und alles vorhandene aufzunehmen in seine bürgerliche Einheit. So fand es sich in der alten Geschichte. In der neuen Zeit wurde dieser Tendenz durch die geistliche Centralmacht, deren Vortheil es war, dass der Culturstaat getheilt bliebe, auch durch die innere Schwäche der Staaten, ein Damm entgegengesetzt. Sowie die Staaten innerlich stärker wurden, und jene fremde Gewalt sich brach, musste diese Tendenz zu einer Universalmonarchie über den gesammten christlichen Staat zum Vorschein kommen; und dieses um so mehr, da es nur die eine gemeinsame Cultur war, welche in den verschiedenen Staaten bloss mit verschiedenen Modificationen sich entwickelt hatte, und, in Rücksicht dieser besonderen Modificationen, alle zusammen nur einseitig cultivirt waren; in diesem Zustande der einseitigen Cultur aber, wie wir schon oben bemerkt, jeder Staat in Versuchung ist, die seinige für die rechte zu halten und zu glauben, dass die Bewohner anderer Reiche sich sehr glücklich zu schätzen haben würden, wenn sie Mitbürger seines Reichswürden.

Diese Tendenz zur Universalmonarchie, sowie Eroberungen über andere christliche Staaten waren in diesem Reiche des Christenthums um so leichter, da die Sitten der Europäer und ihre Verfassungen fast allenthalben dieselben sind; auch es eine oder zwei, den gebildeten Individuen unter allen Völkern gemeinsame Sprachen giebt die nicht gemeinsamen aber im Falle der Noth leicht gelernt werden können, und um deswillen die Eroberten, unter der neuen Regierung so ziemlich wiederfindend, was sie unter der alten hatten, wenig Interesse dabei haben, wer ihr Beherrscher sey; die Eroberer aber in kurzer Zeit und mit wenig Mühe die neuen Provinzen in die Form der alten giessen und sie ebenso brauchen können wie jene. Zwar sind durch die Reformation mehrere Formen des Einen Christenthums und zwischen diesen zum Theil eine sehr feindselige Abneigung entstanden. Dagegen aber hat jeder Staat das leichte Auskunftsmittel der friedlichen Duldung aller bei gleichen Rechten; und so ist denn wiederum, sowie früher[201] im heidnischen römischen Reiche, religiöse Toleranz und Gefügigkeit in das Besondere der Sitten jedes Volkes ein vortreffliches Mittel geworden, Eroberungen zu machen und zu behaupten; sowie zugleich die Vereinigung mehrerer Confessionen in Einen Staatskörper den in der vorigen Rede als absolut aufgestellten Zweck des Christenthums, die Religion und den Staat vollkommen zu trennen, sehr thätig befördert, indem der Staat sodann gegen alle Confessionen neutral und indifferent seyn muss.

Diese Tendenz zu einer christlich-europäischen Universalmonarchie hat sich denn auch nacheinander in mehreren Staaten, welche darauf Anspruch machen konnten, gezeigt, und ist seit dem Falle des Papstthums das eigentliche belebende Princip unserer Geschichte geworden. Wir wollen dabei keinesweges entscheiden, ob diese Universalmonarchie jemals als deutlicher Plan gedacht worden; – es könnte sogar ein Historiker den negativen Beweis führen, dass nie in irgend eines Menschen Verstande dieser Gedanke zur Klarheit gekommen, ohne dass wir dadurch unsere obige Behauptung widerlegt finden würden. Ob nun deutlich oder nicht, dunkel gewiss hat diese Tendenz den Unternehmungen mehrerer Staaten in der neueren Geschichte zu Grunde gelegen; denn nur aus diesem Princip lassen diese Unternehmungen sich erklären. Mehrere an sich schon übermächtige Staaten, und fast umsomehr, je mächtiger sie waren, haben eine grosse Ländergier gezeigt, und durch Verheirathungen, Testamente, Eroberungen neue Provinzen zu erwerben gesucht; keinesweges auf dem Boden der Uncultur, welches der Sache ein anderes Ansehen gäbe, sondern im Gebiete des Christenthums. Wozu gedachten sie denn nun diesen neuen Zuwachs von Kräften zu gebrauchen, und wozu gebrauchten sie ihn wirklich, sobald sie ihn erlangt hatten? Um abermals neue Besitzungen zu erwerben. Und wo würde diese Progression ein Ende gehabt haben, wenn es lediglich nach dem Willen dieser Staaten gegangen wäre? Nirgends als da, wo es nichts mehr zu verschlingen für sie gegeben hätte. Mag nun auch keine einzige Zeitepoche sich[202] diesen Zweckdenken; doch bleibt er der Geist, der durch alle diese einzelnen Epochen hindurchgeht, und sie unsichtbar forttreibt.

Gegen diesen Vergrösserungstrieb sind nun die minder mächtigen Staaten gezwungen, auf ihre Selbsterhaltung zu denken, deren Bedingung zugleich die Erhaltung der übrigen Staaten wird, damit der Zuwachs der Kraft der letzteren unseren natürlichen Gegner nicht uns zum Nachtheile verstärke; mit Einem Worte, es entsteht für diese minder mächtigen Staaten die Aufgabe, das Gleichgewicht im Gebiete des Christenthums zu erhalten. Was wir selbst nicht verschlingen können, soll auch kein anderer verschlingen, weil ausserdem seine Nacht gegen die unsrige eine unverhältnissmässige Zulage bekäme; und so schützt die Sorge, welche grössere Staaten für ihre eigene Selbsterhaltung tragen, auch die schwachen; – oder können wir den andern nicht verhindern, sich zu vergrössern, so müssen auch wir in demselben Maasse vergrössert werden.

Dieses Gleichgewicht der Gewalt in der europäischen Völkerrepublik zu erhalten, strebt nun kein Staat anders, als aus Mangel eines Besseren, und weil er den Zweck der alleinigen Vergrösserung seiner selbst, und den ihm zu Grunde liegenden Plan der Universalmonarchie noch nicht zu fassen vermag. Wird er nur stärker werden, so wird er ihn ohne Zweifel fassen. Es strebt daher jeder Staat entweder nach der christlichen Universalmonarchie, oder wenigstens nach dem Vermögen danach streben zu können: nach Gleichgewicht, wenn ein anderer es stören will, und ganz in der Stille nach dem Vermögen, es allenfalls selber zu stören.

Das ist der natürliche und nothwendige Gang, man mag es gestehen, oder auch man mag es sogar wissen, oder nicht, Dass selbst der unmittelbar auf dem Thun des Gegentheils ergriffene feierlich seine Friedensliebe und die Abneigung, seine Grenzen zu erweitern, versichere, ändert nichts; denn theils muss man also sagen und seinen Zweck verstecken, wenn man ihn erreichen will, – und den bekannten Satz: drohe mit[203] Krieg, damit du Frieden habest, kann man auch so umkehren: versprich Frieden, auf dass du mit Vortheil Krieg anfangen könnest; – theils kann es ihnen mit jenen Versicherungen dermalen, so weit sie sich selber kennen, ganzer Ernst seyn; aber man lasse nur eine günstige Gelegenheit zur Vergrösserung kommen, so werden die früheren guten Vorsätze vergessen. Und so winden denn in diesen unaufhörlichen Kämpfen der christlichen Republik schwache Staaten sich herauf, – zuerst zum Gleichgewichte der Macht, sodann zur Uebermacht; indess andere, die vorher kühn zur Universalmonarchie vorschritten, jetzt nur noch für die Erhaltung des Gleichgewichts kämpfen, und dritte, die vielleicht ehemals auf den beiden der genannten Stufen standen, jetzt in Beziehung auf die inneren Angelegenheiten frei und selbstständig geblieben, in Absicht der äusseren, und in Absicht ihrer politischen Gewalt auf das übrige Europa, nur natürliche Zugaben zu anderen mächtigeren Staaten geworden sind. Und so strebt vermittelst dieses Wechsels die Natur nach Gleichgewicht, und stellt es her gerade dadurch, dass die Menschen nach Uebergewicht streben.

Ein minder mächtiger Staat vermag, eben weil er dies ist, nicht, durch auswärtige Eroberungen sich zu vergrössern. Wie soll er denn also aus seinem beschränkten Zustande heraus zu einem bedeutenderen Gewichte kommen? Es ist ihm kein Mittel übrig, als die innere Verstärkung. Mag er auch fürs erste keinen Fuss neuen Bodens gewinnen, – wird nur sein alter Boden bevölkerter und ergiebiger in alle menschlichen Zwecke, so hat er, ohne Land zu gewinnen. Menschen als den eigentlichen Nerv und die Stärke des Staats gewonnen; und, falls dieselben aus anderen Staaten zu ihm gekommen, sie seinem natürlichen Gegner abgewonnen. Dies ist die erste friedliche Eroberung, mit der jeder minder mächtige Staat im christlichen Europa anfangen kann, sich emporzuarbeiten; da die christlichen Europäer im Wesen alle nur Ein Volk sind, das gemeinsame Europa für das Eine wahre Vaterland anerkennen, und von Einem Ende Europas bis an das andere ohngefähr dasselbe suchen und dadurch angezogen[204] werden. Sie suchen persönliche Freiheit, Recht und Gesetz, das alles gleich sey, und welches, ohne Ausnahme und Verzug jeden schütze, sie suchen Gelegenheit, durch Fleiss und Arbeit ihr gutes Auskommen zu gewinnen, sie suchen religiöse Freiheit bei ihren Confessionen, sie suchen die Freiheit, nach ihren religiösen und wissenschaftlichen Principien zu denken, und sich laut damit zu äussern und danach zu urtheilen. Wo ihnen eines dieser Stücke abgeht, da sehnen sie sich weg; wo sie ihnen gewährt werden, da strömen sie hin. Nun sind alle diese Stücke schon ohnedies die nothwendigen Zwecke des Staats, als solchen; im gegenwärtigen Staatenverhältnisse werden sie ihm sogar durch die Nothwendigkeit und durch die Sorge für die Selbsterhaltung aufgedrungen: denn die Furcht verschlungen zu werden, nöthigt ihn sich zu vergrössern; er hat aber anfangs kein anderes Vergrösserungsmittel, als das angezeigte.

Noch zwar giebt es ein anderes Mittel, wenn auch nicht die Menschen, dennoch die Kräfte dieser Menschen in den Nachbarstaaten an sich zu ziehen und sie sich zinsbar zu machen; welches Mittel in der neuesten Weltgeschichte eine zu grosse Rolle spielt, als dass wir es mit Stillschweigen übergehen sollten. Es besteht darin: dass ein Staat sich des Welthandels bemächtige, sich in den ausschliessenden Besitz der allgemein gesuchten Waaren und des überall geltenden Tauschmittels, des Geldes, setze, von nun an die Preise bestimme, und so die ganze christliche Völkerrepublik nöthige, diejenigen Kriege, welche für die Erhaltung dieser Unterwürfigkeit, somit gegen die ganze christliche Republik geführt werden, zu bezahlen, und die Interessen einer Nationalschuld, welche für den gleichen Zweck gemacht wurde, abzutragen. Es findet sich etwa in der Rechnung, wenn der tausend Meilen entfernte Bewohner eines fremden Staats seine tägliche Mahlzeit bezahlt hat, das er die Hälfte oder drei Viertel seiner Tagesarbeit für jenen fremden Staat aufgewendet hat. – Ich gedenke dieses Kunstmittels keinesweges, um dasselbe zu empfehlen; denn sein Gelingen gründet sich lediglich auf den[205] Blödsinn der übrigen Welt, und es würde verletzend sich gegen den Erfinder kehren, wenn dieser Blödsinn wegfiele; sondern ich Bedenke desselben lediglich darum, um das Gegenmittel anzugeben. Dieses Gegenmittel besteht darin, jene Waaren nicht zu brauchen, und nicht länger zu glauben, dass ihr Geld allein Geld sey, sondern zu begreifen, dass ein in mercantilischer Rücksicht souverän gewordener Staat zu Gelde machen könne, was er nur wolle. Jedoch über diesen Punct liegt auf dem Auge des Zeitalters eine Decke, welche wegzuziehen unmöglich ist; und es ist vergebens hierüber Worte zu verlieren.

Hat ein minder mächtiger Staat zuerst durch die angezeigten Künste sich innerlich verstärkt, ist er vielleicht dadurch selbst zur Vergrösserung nach aussen kräftig geworden und hat sie gewonnen: so kommt er dadurch nur in neue Noth; er hat allerdings das bisherige Gleichgewicht und den vorhandenen Zustand gestört, und der neue Ankömmling erregt noch stärker, als die dem Auge schon gewöhnlichen Nächte, die Eifersucht und das Mistrauen der übrigen. Er muss von nun an stets auf seiner Hut seyn, die vorhandene Staatskraft stets angespannt und in Bereitschaft erhalten, und kein Mittel unbenutzt lassen, um dieselbe wenigstens im Innern zu verstärken, wenn die Gelegenheit der Ausbreitung nach aussen nicht günstig ist. Hierzu gehört, in Absicht der äusseren Politik, zuvörderst, dass er die schwächeren Nachbarn in seinen Schutz nehme, und dadurch das Interesse seiner eigenen Selbsterhaltung ihnen gleichfalls zu dem ihrigen mache, so dass er bei allenfalls erfolgtem Kriege auf ihre Streitkräfte sowie auf seine eignen zählen könne. Hierzu gehören, in Absicht der inneren Politik, ausser den schon obengenannten Mitteln, neue Einwohner in das Land zu ziehen und die alten darin zu erhalten, noch andere Sorgen: die Sorge für die Erhaltung und Vermehrung der menschlichen Gattung durch Begünstigung der Ehe und der Kindererzeugung, durch Gesundheitsanstalten u. dergl.; die oben sattsam beschriebene Erhöhung der menschlichen Herrschaft über die Natur, durch planmässig fortschreitende[206] Verbesserung des Ackerbaues, der Gewerbe, des Handels, und durch die Erhaltung des nothwendigen Gleichgewichts zwischen diesen drei Zweigen; kurz durch alles das, was im Begriffe der Staatswirthschaft, wenn dieser Begriff gründlich gefasst wird, liegen möchte. Diejenigen, welche solcher Bestrebungen unter dem Namen der Oekonomie spotten, bleiben an der äusseren Schale hängen, und haben nicht das innere Wesen und die eigentliche Bedeutung dieser Geschäfte durchdrungen. – Man hat unter anderen Fragen wohl auch die aufgeworfen: ob die Bevölkerung in einem Staate nicht zu gross werden könne? Unseres Erachtens ist zwar der faule und unthätige Bürger, bei jedem Stande der Bevölkerung allemal überflüssig, und um sich selber zuviel da; wenn aber mit zunehmender Bevölkerung in demselben Maasse Ackerbau, Gewerbe und Handel in richtigem Gleichmaasse zu einander ebenfalls zunehmen, so kann das Land wohl nie zuviel Bewohner haben; denn die Ergiebigkeit der Natur bei zweckmässiger Behandlung dürfte sich unendlich finden.

Alle die soeben angegebenen Sorgen sind, wie wir schon oben gezeigt, ohnedies Zwecke des Staats; in dem dermaligen Staatensysteme aber werden sie ihm sogar durch die Nothwendigkeit aufgedrungen. Es ist wohl möglich, dass wir an dem soeben aufgestellten lediglich das ausgesprochen haben, was gegenwärtige Staaten, die Anspruch auf höhere Cultur machen, in der That thun und treiben; aber wir haben es noch in einem andern Sinne ausgesprochen. Wir haben gesehen, dass sie es nicht nur zufälligerweise thun, sondern dass sie es mit Nothwendigkeit thun müssen; wir haben dadurch auf die Garantie hingewiesen, dass sie es noch ferner thun und es immer vollkommener thun werden müssen, wenn sie nicht im Fortgedränge mit den übrigen Staaten ihren Rang verlieren und endlich ganz zu Grunde gehen wollen.

Endlich wird in dem gegenwärtigen europäischen Staatensysteme durch dieselbe Nothwendigkeit dem Staate auch noch die bisher noch nirgends in der Welt realisirte Gleichstellung der Rechte aller, und die allmählige Aufhebung der im[207] christlichen Europa noch als Rest der Feudalverfassung bestehenden Ungleichheit dieser Rechte zum Zwecke gemacht. – Ohne Scheu berühre ich diesen Gegenstand in der Umgebung, in welcher ich mich befinde; ja ich würde glauben, die Ehrwürdige Versammlung, zu welcher ich rede, durch den leisesten Zweifel an ihrer Willigkeit, auch ihn behandelt zu sehen, zu beleidigen. Wer unter uns allen, der sich über das Volk erhaben glaubt, hat nicht, mittelbar oder unmittelbar, selbst mit von jenen Vorzügen Gewinn gezogen? und es ist ganz in der Ordnung, dass man annimmt, was unser Zeitalter uns bietet, und sich bescheidet es nicht länger zu begehren, wenn die Zeit es nicht weiter trägt.

Die erwähnte Nothwendigkeit tritt für den Staat also ein: gezwungen stets und in der Regel, so viele Kraft seiner minder begünstigten Bürger aufzubieten und sich anzueignen, als dieselben nur irgend aufzubringen vermögen, wenn sie dabei noch persönlich frei bleiben und subsistiren sollen; kann er, wenn das Bedürfniss einer noch grösseren Anstrengung eintritt, von jenen ersteren durchaus nicht mehr sich leisten lassen, als sie schon bisher leisteten. Es bleibt ihm darum kein anderer Ausweg übrig, als die begünstigten Stämme und Stände in Anspruch zu nehmen. Möchte dies auch allenfalls zuerst nur bei einem vorübergehenden Nothfalle geschehen seyn; der Wunsch, – die Kraft, die er einmal besessen, immer und in der Regel zu besitzen, wird sehr leicht eintreten, und der einmal gefundene Weg auch leicht zum zweiten Male wiedergefunden werden. Hierzu kommt, dass selbst die Nichtbegünstigten dem Staate unmittelbar weit mehr würden leisten können, wenn sie nicht den Begünstigten leisten müssten. Ein auf Vergrösserung seiner inneren Kraft unablässig hinarbeitender Staat ist darum genöthigt, die allmählige Aufhebung aller Begünstigungen zu wollen; somit die Rechte Aller vollkommen gleichzustellen, damit nur er, der Staat selber, in sein wahres Recht eingesetzt werde, in das Recht, den gesammten Ueberschuss aller Kräfte seiner Staatsbürger ohne Ausnahme für Seine Zwecke zu verwenden. – Die fruchtbarste und wahrste[208] Ansicht aller jener Privilegien wäre daher unseres Erachtens folgende: sie sind ein öffentlicher Schatz, den der beginnende, seine ganze Kraft weder kennende, noch sie bedürfende Staat indessen in die Hände seiner gebildeteren Stämme niederlegte, damit diese nach ihrem besten Ermessen frei, zu Beförderung freier Cultur, damit wucherten. Je zweckmässiger und geschickter sie dieses gethan haben, desto mehr ist durch ihren Dienst die innere Kraft des Staats allmählig angewachsen, und desto länger können sie im Besitze des treuverwalteten Gutes gelassen werden. Kommt die Zeit, da es dieser freien Cultur nicht mehr bedarf, sondern die künstliche und nach Gesetzen einherschreitende beginnt, und da der Staat unmittelbar und zu eigenen Händen jenes niedergelegten Capitals bedarf: so fordert er es, doch also, dass nicht eine zu plötzliche Umwandlung der bisherigen Verhältnisse erfolge, mithin allmählig zurück: der wahrhaft Freie und Edle giebt es gern, als ein Opfer auf dem Altare des Vaterlandes; wer sich zwingen lässt, beweiset dadurch nur, dass er nie würdig war die anvertraute Gabe zu besitzen.

Dass ich, um allem Misverständnisse über diesen Punct vorzubauen, sogleich das höchste Princip meiner Ansichten über Gleichheit der Rechte aller hinstelle: die gewöhnliche und triviale Theorie lässt dem Staate einen eingebildeten gesetzlosen Naturzustand vorhergehen, in welchem die Gewalt Meister gewesen; der Stärkere habe da an sich gerissen soviel er irgend vermocht, und der Schwächere sey leer ausgegangen. Das Resultat dieses gesetzlosen Zustandes befestige nun seitdem das Gesetz, mache rechtmässig, was absolut unrechtmässig war; und der Staat sey dazu da, dem Gewaltigen den auf irgend eine Weise einmal zusammengebrachten Haufen zu bewachen, und zu verhindern, dass der, welcher bei der Theilung leer ausgegangen, jemals zu einem Besitze komme. Abgerechnet dass diese Ansicht, wenigstens in Beziehung auf neue Geschichte, völlig unhistorisch ist, und in dieser alles Eigenthum erst auf dem Boden des schon errichteten Staats entstanden, ist sie auch vernunftwidrig; und die Vernunftwidrigkeit leuchtet in dem Ausdrucke, den wir ihr oben gegeben,[209] unmittelbar ein. Seinen Rechtsanspruch auf Eigenthum hat jeder als Mensch; dieser Rechtsanspruch aller ist gleich: das vorhandene, zum Eigenthum zu machende, musste daher von Rechtswegen unter alle gleich getheilt werden; diese gleiche Theilung dessen, was Natur und Zufall ungleich vertheilt hat, allmählig zu vollziehen, treibt unter der Leitung derselben Natur den Staat die Noth und die Sorge für seine Selbsterhaltung.

Alles jetzt nach einander Angegebene, E. V., ist die innige Durchdringung des Bürgers vom Staate, die ich oben als den politischen Charakterzug unseres Zeitalters aufgestellt habe; und es ist nun Ihr Geschäft zu beurtheilen, ob es, wenigstens da, wo der Staat zur höchsten Cultur, d.h. zur grössten inneren Macht. und zu dem angemessenen gebietendsten Einflusse auf die christliche Völkerrepublik gekommen, sich wirklich also verhalte. Dass hier diese innige Durchdringung des Bürgers vom Staate und die Verwandlung aller seiner äusseren Kraftanwendung in ein Werkzeug des Staates keinesweges, wie von jenem schwärmerischen Streben nach Ungebundenheit, das sich zuweilen wohl auch Philosophie nennt, getadelt, sondern als ein nothwendiger Zweck des Staats und der Natur hingestellt werde, ist wohl unzweideutig genug erklärt und vor allem Misverständnisse sicher gestellt worden. Wir wollen freilich Freiheit und sollen sie wollen, aber wahre Freiheit entsteht nur vermittelst des Durchganges durch die höchste Gesetzmässigkeit. Wie sie dadurch nothwendig sich erzeuge, ist von uns in diesen Reden zu zwei verschiedenen Malen einleuchtend, wie ich glaube, dargethan worden. Auch ist nicht vergessen worden zu zeigen, dass der Staat die einmal zu seinem Eigenthume gewordene Volkskraft, die er freilich nie loslassen wird, nicht immer für den, denn doch engherzigen und nur durch die Schuld der Zeiten ihm aufgedrungenen Zweck seiner blossen Selbsterhaltung verwenden, sondern dass er sie, wie nur der ewige Friede, zu dem es endlich einmal doch kommen muss, geboren worden, für würdigere Zwecke brauchen werde.

Der cultivirteste Staat in der europäischen Völkerrepublik[210] ist, in jedem Zeitalter ohne Ausnahme, der strebendste; und am kräftigsten strebt jeder in der Epoche, da er nicht mehr unmittelbar nach seiner Erhaltung im Gleichgewichte, sondern vielmehr nach der Kraft ringt, dieses Gleichgewicht selbst zu leiten und zu modificiren; welche letztere Kraft nicht möglich ist ohne die erste: – oder dasselbe Gleichgewicht, falls es ihm beliebte, allenfalls auch zu stören. Und dieses Streben wird um so erspriesslicher für die Cultur, je weniger ein solcher Staat durch den Zufall begünstigt war, und je mehr er, eben deswegen, der weisen Kunst der inneren Verstärkung und Kraftanstrengung bedurfte und fortwährend bedarf. Einem Staate, der noch zu ängstlich für Gleichgewicht ringen muss, fehlt es an innerer Freiheit und Selbstständigkeit, und er muss zu oft auf die Zwecke der Nachbarstaaten in seinen Schritten Bedacht nehmen. Ein Staat, der in sicherem und unbestrittenem Besitze des Uebergewichts sich fühlt, wird leichtlich sorglos, verliert, von aufstrebenden Nachbarn umgeben, sein Uebergewicht, und es wird vielleicht schmerzlicher Verluste bedürfen, um ihn wieder zur Selbstbesinnung zu bringen.

In allen diesen Eigenheiten unserer Zeit zusammengenommen liegt wiederum die oben erwähnte Gewährleistung, welche die Natur selber uns für die fortdauernde Güte unserer Regierungen giebt; und der Zwang, welchen dieselbe ohne unser Zuthun über die uns zwingenden Regierungsgewalten zu unserem Vortheile ausübt.

Ueber das ganze christliche Europa strebt fast jeder selbstständige Staat, so kräftig als er es vermag; und die Mittel der inneren, sowie der äusseren Vergrösserung sind auch nicht unbekannt. In diesem allgemeinen Ringen der Kräfte will es noth thun, keinen Vortheil aus der Hand zu lassen; denn der Nachbar wird ihn sogleich ergreifen, und, ausser, dass wir ihn nun nicht haben, ihn auch noch gegen uns gebrauchen; – keine einzige Maxime einer guten Regierung und keinen möglichen Zweig der Verwaltung zu vernachlässigen; denn dem Nachbar ist es wiederum Maxime, den möglichst höchsten Vortheil für sich aus unserer Vernachlässigung zu ziehen. Wer hier nicht vorwärts schreitet, kommt zurück, und kommt immer[211] mehr zurück, bis er endlich seine politische Selbstständigkeit verliert, und fürs erste Zugabe an einen anderen Staat in der Wage des Gleichgewichts wird, und später in Provinzen fremder Staaten zerfällt. Auf jeden politischen Fehlgriff steht, wenn nur die Nachbarstaaten nicht ebenso unweise sind, die Strafe des endlichen Unterganges; und will der Staat nicht untergehen, so muss er Fehlgriffe vermeiden.

Aber wenn er nun doch unweise wäre, und fehlgriffe? Ich frage zurück: welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Cultur steht. Jener Staat, der gefährlich fehlgreift, wird mit der Zeit freilich untergehen, demnach aufhören auf der Höhe der Cultur zu stehen Aber eben darum, weil er untergeht und untergehen muss, kommen andere, und unter diesen Einer vorzüglich herauf, und dieser steht nunmehr auf der Hohe, auf welcher zuerst jener stand. Mögen dann doch die Erdgebornen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge, ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie behalten, was sie wollten und was sie beglückt: der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht. Und in diesem Weltbürgersinne können wir denn über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen, für uns selbst und für unsere Nachkommen, bis an das Ende der Tage.[212]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 198-213.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
Philosophische Bibliothek Band 247: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon