6. Die Indriyas oder die äußeren Sinne.

[319] Von dem inneren Sinn abhängig, aber auch in jedem Augenblick dessen Wirksamkeit bestimmend, sind die zehn äußeren Sinne, die den Namen indriya (oder spezieller bâhyendriya)[319] führen, was etymologisch einfach ›Vermögen‹ bedeutet, und nicht – wie die einheimische Erklärung will – ›Werkzeug für den Indra, d.h. für den Herrn des Körpers, nämlich die Seele‹44, oder ›Merkmal zur Erschließung der Seele‹45. Die zehn Sinne zerfallen in die beiden Klassen der Wahrnehmungssinne (buddhîndriya, jñânendriya) und der Tatsinne (karmendriya). Die fünf Wahrnehmungssinne sind Gesicht (cakṣus), Gehör (śrotra), Geruch (ghrâṇa), Geschmack (rasa, rasana, jihvâ) und Gefühl (oder Tastsinn, tvac, sparśa, sparśana); in betreff ihrer Objekte, die in unseren Texten schematisch aufgezählt werden, ist nur zu bemerken, daß als Objekte des Gesichtssinnes nicht Form und Gestalt, sondern lediglich die Farben (rûpa) gelten. Die fünf Tatsinne oder Fähigkeiten des Handelns sind Reden (vâc), Greifen (pâṇi), Gehen (pâda), Entleeren (pâyu) und Zeugen (upastha)46. Diese zehn Sinne sind ja nicht zu verwechseln mit den sichtbaren Organen (golaka), in denen sie ihren Sitz (adhiṣṭhâna) haben; sie sind selbst etwas Übersinnliches (atîndriya) und nur aus ihren Funktionen zu erschließen47. Es war mithin ein Fehler, wenn früher zuweilen die Namen der fünf Tatsinne mit ›Stimme, Hände, Füße‹ usw. übersetzt wurden48.[320]

Wie die Existenz der Sinne aus ihren Funktionen-gefolgert wird, so werden die Funktionen ihrerseits durch die Erkenntnis der erfaßten Objekte bewiesen; denn nur diejenigen Objekte, mit denen die Sinne durch ihre Funktionen in Verbindung treten, kommen zur Kenntnis, da anderenfalls alle Dinge, ob sie auch durch Dazwischenliegendes getrennt oder in unendlicher Ferne befindlich seien, wahrnehmbar sein müßten49. Über den Begriff der Funktion (vṛtti)50 der Sinne scheinen die Sâmkhya-Lehrer zu keiner völlig klaren Vorstellung gelangt zu sein, da die von ihnen gegebene Definition negativ ist. »Die Funktion«, heißt es in Sûtra V. 107, »ist ein anderes Prinzip als Teil oder Qualität, weil sie zum Zwecke der Verbindung [mit den Objekten zu dem Orte, wo diese sich befinden] hineilt.« Und Vijñânabhikṣu bemerkt dazu51, daß die Funktion eine Modifikation des Sinnes und etwas von ihm Unlösliches sei; man hat sich also unter den Funktionen ein Hinauswachsen (sarpaṇa)52 der Sinne aus ihren körperlichen Sitzen gedacht und den Ursprung der Funktionen in dem Individuum, nicht in einem von außen kommenden Reiz gesucht. – Wenn auch die Funktionen der Sinne gewöhnlich nacheinander stattfinden, so kann doch auch von mehreren Sinnen gleichzeitig eine Affektion des inneren Organs bewirkt werden53.

Da der innere Sinn nicht als wesensverschieden von den äußeren Sinnen gilt und diesen in der Entwicklungslehre des Sâmkhya-Systems koordiniert ist, so ist elf die feststehende Zahl der Sinne54. Die Meinung, daß es nur einen einzigen Sinn gebe, der durch verschiedene Kräfte die mannigfachen Tätigkeiten ausübe, wird mit der Bemerkung[321] abgelehnt, daß dies gar keine andere Theorie sei; denn dasjenige, was mit dem Namen der Kräfte bezeichnet werde, seien eben die Sinne55.

Wie wir schon gesehen haben, sind die elf Sinne nach der Sâmkhya-Lehre Ausläufer des Ahamkâra; und zwar wird die Verschiedenartigkeit der Wahrnehmungssinne und der Tatsinne dadurch erklärt, daß bei der Entstehung der ersteren das Sattva und bei der der letzteren das Rajas in überwiegender Weise seinen Einfluß ausgeübt habe56. Die widersprechende Lehre der Nyâya-Philosophie, daß die Sinne aus den Elementen entstanden seien und bestehen, also der Gesichtssinn aus Licht usw.57, wird in den Sâmkhyasûtras58 nicht mit sachlichen Gründen, sondern in höchst mangelhafter Weise durch Berufung auf die Schrift bekämpft, die angeblich lehre, daß die Sinne dem Ahamkâra entstammen, – ein Beweis dafür, daß die Polemik über diesen Punkt erst in moderner Zeit in die Sâmkhya-Schule hineingetragen ist. Da sich nun in der Schrift im Gegenteil Stellen finden, die mit der Nyâya-Lehre über diesen Punkt übereinstimmen59, so ist im Sâmkhyasûtra V. 110 ein Ausweg in der Erklärung gefunden, daß an solchen Upaniṣad-Stellen die Elemente nicht als materielle, sondern nur als begleitende Ursachen gedacht seien. In anderer Weise sucht Vijñânabhikṣu60 den Widerspruch zu lösen, indem er sagt: »Die Schriftstellen aber, welche lehren, daß die Sinne den Elementen entsprossen sind, hat man bildlich zu verstehen, da sie nur meinen, daß die individuellen inneren und äußeren Sinne, die ja nur in der Verbindung mit den Elementen [d.h. mit den groben animalischen Körpern] Bestand haben,[322] aus diesen Elementen heraus sich manifestieren.« Kurz vorher findet sich bei Vijñânabhikṣu der meines Wissens einzige Versuch, die Sâmkhya-Lehre von der Entstehung der Sinne aus dem Ahamkâra sachlich zu begründen. Es heißt dort nämlich, daß »man, da das Erleuchten [d.h. das Hervorrufen der Erkenntnis dem Innenorgan und den Sinnen] gemeinsam ist, nur annehmen könne, daß das Innenorgan die materielle Ursache der Sinne sei«. Die ganze Vorstellung der Sâmkhya-Philosophie über diesen Punkt kommt dem von der Wissenschaft unserer Zeit festgestellten Tatbestande sehr nahe, wenn wir uns daran erinnern, daß wir das Innenorgan als Äquivalent des Nervensystems erkannt haben.

44

Vijñ. zu II. 19, 29.

45

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kâr. 26. – Von den Synonymen in der Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 30 (karaṇa, vaikârika, niyata, pada, avadhṛta, akṣa) findet sich nur das erste und letzte in wirklichem Gebrauch; pada ist eine reine Fiktion, und die drei übrigen Worte sind gelegentlich von den Sinnen gebrauchte Adjectiva. Dagegen verdient als ein belegbares Synonymon upagraha verzeichnet zu werden (auf der von Kielhorn herausgegebenen und übersetzten Inschrift Yaśovarmans vom Jahre 953-54, Epigraphia Indica, Part. III, 125 Vers 5; cf. 130 Anm. 67). Als Sâmkhya-Terminus ist mir upagraha sonst nur noch einmal begegnet, und zwar als nomen actionis in dem Pañcaśikha-Fragment Yogabhâṣya II. 20 und IV. 22 (s. bei Hall, Sânkhya Sâra, Pref. 25 Anm.).

46

Kârikâ 26, 28, 34, Sûtra II. 19, 28, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 27-29.

47

Sûtra II. 23, Vijñ. zu V. 104 und zu I. 62.

48

Vgl. meine Übersetzung des Sâmkhya-pravacana-bhâṣya S. 72 Anm. 1.

49

Sûtra V. 104, 106.

50

Über die Etymologie handelt Vijñ. zu V. 108.

51

Vgl. auch seinen Kommentar zu V. 105.

52

Vgl. Bhojarâja zu Yogasûtra II. 54 (âbhimukhyena pravartanam) und III. 47 (indriyâṇâm viṣayâbhimukhî vṛttiḥ).

53

Sûtra II. 32 nebst Vijñânabhikṣus Erklärung.

54

Kârikâ 25, Sûtra II. 18, 19.

55

Sûtra II. 24, 25. In ähnlicher Weise wird in der Nyâya-Philosophie argumentiert; s. Nyâyasûtra III. 53-59.

56

Anir. zu II. 27.

57

Nyâyasûtra III. 60.

58

II. 20, V. 84, 105, 109.

59

Vgl. zum Beispiel Chândogya Up. VI. 5. 4; 6. 4.

60

Zu II. 20.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 319-323.
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