7. Die dreizehn Organe als Gesamtheit.

[323] Zwischen den äußeren Sinnen und den inneren Organen besteht die Verschiedenheit, daß die Tätigkeit der ersteren auf die Gegenwart beschränkt ist, während die letzteren sich ebenso mit der Vergangenheit und Zukunft beschäftigen wie mit der Gegenwart. Während – um bloß je einen Wahrnehmungs- und Tatsinn in Betracht zu ziehen – das Gehör nur gegenwärtige Töne wahrnimmt und die Stimme nur gegenwärtige Worte artikuliert, folgert das Innenorgan nicht nur aus dem Rauche, daß zur nämlichen Zeit das Buschwerk auf dem Berge brennt, sondern auch aus der Anschwellung eines Flusses, daß es geregnet hat, und aus dem Herumlaufen der Ameisen mit ihren Eiern, daß es regnen wird61. Ein weiterer Unterschied zwischen den äußeren Sinnen und den inneren Organen ist in das Gleichnis von den Toren und den Torhütern gekleidet. Die äußeren Sinne sind mit Toren verglichen, die alles hineinlassen, was hinein will; die inneren Organe mit Torhütern, die nicht nur die Tore öffnen tatet schließen, sondern auch die hineingelangenden Wahrnehmungen[323] und Empfindungen kontrollieren und ordnen62. Wenn wir dieses Gleichnis in dem Sinne, wie es von den Indern verstanden wurde, ergänzen wollen, so müssen wir uns den Leib als einen Palast und die Seele als den im Innern des Palastes wohnenden und nach orientalischer Weise untätigen Herren denken. Dieses Gleichnis leitet uns auch zu der Vorstellung hinüber, durch welche die drei inneren Organe und die zehn äußeren Sinne unter einen Begriff zusammengefaßt wurden, nämlich unter den des Werkzeugs (karaṇa) der Seele, von dem wiederum im Bilde als von einer wohlorganisierten Dienerschaft oder Beamtenschaft gesprochen wird. »Wie die Dorfältesten von den Hausvorständen die Steuer erheben und dem Gouverneur des Distrikts übergeben, der Gouverneur des Distrikts dem obersten Leiter [der Finanzen] und dieser dem König, ebenso liefern die äußeren Sinne, wenn sie ihre Wahrnehmungen gemacht haben, diese dem inneren Sinn, der innere Sinn, nachdem er sie geordnet, dem Ahamkâra, und der Ahamkâra, nachdem er sie zur eignen Person in Beziehung gesetzt, der Buddhi, welche die Rolle des obersten Leiters spielt63.« Insofern sind sich alle dreizehn Organe[324] gleich, als sie aus einundderselben Ursache und zu einunddemselben Zwecke in Tätigkeit treten. Die Ursache ihrer Wirksamkeit ist das In-Kraft-treten der Macht der Werke, die zwar nicht in der Seele selbst, sondern in der Buddhi ruht, aber als etwas der Seele Zugehöriges betrachtet wird64; der Zweck ihrer Wirksamkeit ist einzig und allein, der Seele zur Erreichung ihrer Ziele – des Genusses (beziehungsweise des Leidens) und schließlich der Erlösung – zu verhelfen. Zu diesem Zwecke wirken sämtliche Organe spontan; einen Leiter, der Wesen, Fähigkeit und Zweck der Organe kennt und ihre Tätigkeit regelt, gibt es nicht65. In ihren Funktionen kollidieren trotzdem die dreizehn Organe nicht miteinander, sondern unterstützen und ergänzen sich gegenseitig, ganz als ob sie auf Verabredung und unter Kenntnis des gegenseitigen Vorhabens handelten66. »Zwar sind die Organe Modifikationen der drei Guṇas, deren Natur es ist einander entgegen zu wirken, aber sie werden einmütig gemacht durch die [von ihnen gemeinsam zu erfüllenden] Anforderungen der Seele; vergleichbar dem Docht, dem Öl und dem Feuer, die, vereinigt um durch Entfernung der Finsternis die Farben zu erleuchten, eine Lampe bilden67

Nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge folgen die Funktionen der einzelnen Organe aufeinander, indem zuerst die äußeren Sinne in Tätigkeit treten; »wenn z.B. jemand im Halbdunkel zu Anfang nur einen Gegenstand undeutlich [mit dem Gesichtssinn] wahrnimmt, darauf mit angespannter Aufmerksamkeit des inneren Sinnes feststellt: ›Da ist ein grimmiger Räuber mit einem Bogen, der [schußbereit][325] gekrümmt ist durch die mit einem Pfeil belegte, bis an das Ohr zurückgezogene Sehne‹, darauf [mit dem Ahamkâra] die Beziehung zu seiner eigenen Person herstellt: ›Er kommt auf mich los‹, und darauf [mit der Buddhi] den Entschluß faßt: ›Ich will von diesem Orte forteilen‹«68. Doch kann es auch vorkommen, daß die Funktionen der Organe gleichzeitig eintreten; »wenn z.B. jemand in dichter Finsternis infolge eines Blitzstrahls einen Tiger ganz nahe vor sich sieht. Dann treten bei diesem Menschen Wahrnehmung, Feststellung, Bezugnahme auf die eigene Person und Entschließung zugleich ins Leben, da er [sofort] danach aufspringt und von jenem Orte im Nu enteilt«. Ebenso liegen die Verhältnisse, wenn es sich um sinnlich nicht wahrnehmbare Dinge handelt, also allein die Funktionen der drei inneren Organe in Betracht kommen, die der äußeren Sinne aber fortfallen; auch in diesem Falle können die Funktionen der drei inneren Organe ebensowohl gleichzeitig sein als aufeinander folgen. Nach dem deutlichen Wortlaut von Kârikâ 30 ist dies unzweifelhaft die echte Sâmkhya-Lehre, wogegen die Vaiśeṣika-Philosophie die Möglichkeit einer gleichzeitigen Tätigkeit der Organe bestreitet und behauptet, daß sie in jedem Falle nacheinander funktionieren. Diese abweichende Theorie hat ein späterer Sâmkhya-Lehrer69 sich zu eigen gemacht und unter Ignorierung der älteren Quellen seines Systems die Erklärung abgegeben, daß die scheinbare Gleichzeitigkeit der Funktionen in derselben Weise zu beurteilen sei, wie die Durchbohrung von hundert auf einander gelegten Lotusblättern mit einer Nadel. Auch in diesem Fall scheine es, als ob die Nadel sämtliche Blätter gleichzeitig durchsteche, während doch in der Tat ein außerordentlich schnelles Nacheinander vorliege.

Nicht nur durch ihren gemeinsamen Zweck sind die dreizehn Organe zu einer Einheit verbunden; es besteht[326] auch eine wichtige Übereinstimmung hinsichtlich ihrer Natur. Alle Organe werden durch physische Ernährung erhalten und gestärkt; wenn sie durch Fasten oder andere Ursachen geschwächt sind, so kann man sie durch Speise und Trank wieder kräftigen, weil diese Nährmittel Teile enthalten, die mit den Substanzen der Organe gleichartig sind70.

61

Kârikâ 33 mit den Kommentaren Gauḍapâdas und Vâcaspatimiśras.

62

Kârikâ 35 mit Wilsons Erläuterungen.

63

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 36, Sûtra II. 29, 40, 47. Im siebenten Sûtra des Tattvasamâsa werden die dreizehn Organe unter dem Namen adhyâtma zusammengefaßt, was nach den Ausführungen der Sâmkhya-krama-dîpikâ in Nr. 56 trotz der neutralen Form etwas wie ›Diener der Seele‹ bedeutet. Ebendaselbst sind auch die mit dem Ausdruck adhibhûta bezeichneten Wirkungskreise der Organe spezialisiert und ferner die Götter angeführt, die in den mythologischen Vorstellungen der modernen Sâmkhyas als die Vorsteher der einzelnen Organe gelten (Brahman als Vorsteher der Buddhi, Rudra als der des Ahamkâra, der Mondgott als der des Manas usw.). Diese göttlichen Vorsteher der Organe heißen dort adhidaivata. Der Verfasser des Tattvasamâsa (Sûtra 7-9) hat diese drei technischen Ausdrücke generis neutrius vermutlich der Anugîtâ (Mbh. XIV. 1119 fg.) entlehnt. S. auch Bhagavadgîtâ VIII. 1, 3, 4, wo sie ebenfalls als Neutra, aber in ganz anderer Bedeutung nebeneinander stehen. Vgl. Böhtlingk, Bemerkungen zur Bhagavadgîtâ, Berichte der phil.-hist. Klasse der K. Sächs. Ges. der Wiss. 1897, S. 12 des Sonderabzugs.

64

Sûtra II. 36.

65

Kârikâ 31, Sûtra II. 37.

66

Kârikâ 31. – Im Tattvasamâsa Sûtra 10 und in der Sâmkhya-krama-dîpikâ dazu (Nr. 58) ist die Funktionsweise sämtlicher dreizehn Organe mit dem sonst nicht belegbaren Terminus abhibuddhi benannt, den Ballantyne (nicht mit Glück) ›intelligent function‹ übersetzt hat; vgl. übrigens Ballantynes Bemerkung in Nr. 97.

67

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 36.

68

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 30. Dies ist auch die Quelle für die folgenden Sätze meiner Darstellung.

69

Anir. zu Sûtra II. 32.

70

Sûtra I. 131, III. 15 nebst Vijñânabhikṣus Erläuterungen.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 323-327.
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