4. Das Gebundensein und seine Ursache, die Nichtunterscheidung.

[378] Die Vorstellungen von dem Wesen und der Ursache des Gebundenseins (bandha) haben im Verlaufe meiner Darstellung schon so oft erwähnt werden müssen, daß ich mich hier auf eine Wiederholung der Hauptsachen und auf eine Ergänzung durch die bisher noch nicht zur Sprache gebrachten Einzelheiten beschränken kann. Der Zustand des Gebundenseins ist gleichbedeutend mit dem bewußten Leben; denn er besteht nicht während des tiefen, traumlosen Schlafes, der Ohnmacht, der bis zur Bewußtlosigkeit gesteigerten Versenkung und zur Zeit der Weltauflösung36. Das Gebundensein ist nun nichts anderes als ›die Verbindung mit dem Schmerz‹ (duḥkha-yoga)37, oder, da der Pessimismus der Sâmkhya-Philosophie auch die Freude zu den Schmerzen rechnet38, als die Verbindung mit den Gefühlen überhaupt.

Nun wissen wir bereits, daß die Gefühle nicht der Seele angehören, sondern dem inneren Organ, das durch das Vorwalten des Sattva freudige, durch das Vorwalten des Rajas schmerzvolle Affektionen erfährt. In Wahrheit ist also das Gebundensein den Upâdhis der Seele eigen39, dem inneren Organ oder dem dieses enthaltenden Komplex des feinen Körpers, und zwar als etwas Wesentliches eigen; d.h. der Schmerz währt mit den oben erwähnten Unterbrechungen so lange, als der feine Körper besteht und das empirische Dasein. Mit dieser einfachen Verweisung des Gebundenseins in den materiellen Teil des Individuums ist aber der Tatbestand[378] nur zur Hälfte erklärt; aus folgendem Grunde, der in der Fassung angeführt sei, die ihm Vijñânabhikṣu gegeben hat40: »Wenn das Gebundensein, d.h. die Verbindung mit dem Schmerz, lediglich dem Denkorgan angehörte, so würde das mannigfache Empfinden unerklärlich sein. Denn auf Grund der Annahme, daß das Empfinden, d.h. das unmittelbare Erfahren des Schmerzes, auch ohne die Verbindung der Seele [d.h. des Ich, des individualisierenden Prinzips] mit dem Schmerz existiere, müßten die Schmerzen und [Freuden] aller Menschen von allen Menschen empfunden werden, weil es dann keinen [die Verteilung] bestimmenden Faktor (niyâmaka) gäbe. Und deshalb würde die [tatsächliche] Mannigfaltigkeit des Empfindens, die sich darin äußert, daß dieser Schmerz und jener Freude empfindet usw., unerklärlich sein ... Darum muß zur Erklärung der Mannigfaltigkeit des Empfindens das Gebundensein auch der Seele zugeschrieben werden, weil damit ein [die Verteilung] des Empfindens bestimmender Faktor gegeben ist. Und diese Verbindung des Schmerzes mit der Seele existiert nur in der Form eines Reflexes (pratibimba) ... Da nun lediglich die Affektion des Upâdhi [d.h. des Innenorgans] der betreffenden [Seele] reflektiert wird, empfinden nicht alle Menschen alle Schmerzen ... Wenn aber in der Schrift und Tradition gelehrt wird, daß Gebundensein und Erlösung nur dem Denkorgan und nicht der Seele angehören, so ist das von dem wirklichen (pâramârthika) Gebundensein zu verstehen, d.h. von der Verbindung mit dem Schmerz in der Form seiner objektiven Realität (bimba).« An dieser Stelle41 ist deutlich erklärt, in welcher Weise wir das oft behauptete und oft geleugnete Gebundensein der Seele zu verstehen haben. Der aus dem Innenorgan auf die Seele fallende Reflex des Gebundenseins oder des Schmerzes – wir dürfen diese beiden Worte als Synonyma behandeln – ist zwar illusorisch in dem oben S. 377 angegebenen Sinne,[379] aber doch etwas Tatsächliches. Er übt zwar keinen wirklichen Einfluß auf die Seele aus, hat aber einen Erfolg, der einem solchen Einfluß vergleichbar ist42; insofern er nämlich die natürliche Schmerzlosigkeit der Seele verdeckt in derselben Weise, wie die durch die Hibiscus-Blüte veranlaßte Röte nur die natürliche Farblosigkeit des Kristalls verdeckt. Wie dabei die Farblosigkeit des Kristalls weder bei der Annäherung der roten Blume zugrunde geht noch bei ihrer Entfernung wieder entsteht, ebensowenig entsteht der Schmerz in der Seele bei der Annäherung des Innenorgans, noch vergeht er bei dessen Entfernung43. Die Verbindung der Seele mit dem Schmerz beruht also – um den stehenden bildlichen Ausdruck unserer Texte in die uns geläufige Sprache zu übertragen – darin, daß die Seele den im Körper befindlichen Schmerz zum Bewußtsein bringt. Dies ist das eigentliche Weltübel, dessen Beseitigung die höchste Aufgabe menschlichen Strebens ist.

Wodurch nun aber ist diese eigentümliche Verbindung der Seele mit dem Schmerz bedingt? Sie ist weder der Seele wesentlich, denn dann könnte sie überhaupt nicht gelöst werden44; noch wird sie durch besondere Veranlassungen hervorgerufen, denn in diesem Falle müßten wir, auch nachdem sie durch die von der Philosophie gelehrten Mittel aufgehoben ist, stets befürchten, daß diese Veranlassungen aufs neue die verhängnisvolle Verbindung bewirken werden45. Doch gibt es außer diesem allgemeinen Grunde noch besondere, durch welche die speziellen Veranlassungen, an die man in Indien denken konnte, ausgeschlossen werden46. Das Gebundensein der Seele kann nicht durch Zeit und Raum veranlaßt sein, weil beide allgegenwärtig und ewig sind und deshalb auf die erlösten Seelen ebenso wirken müßten wie auf die gebundenen; auch nicht durch einen bestimmten Zustand, da Zustände nur Eigentümlichkeiten des Ungeistigen[380] sind; auch nicht durch die Werke oder durch deren nachwirkende Kraft, da diese beiden Dinge nicht der Seele, sondern dem inneren Organ angehören und man sich des logischen Fehlers der zu weit gehenden Übertragung (ati-prasakti) schuldig machen würde, wenn man das Gebundensein des einen auf etwas einem anderen Gehöriges zurück führte; ebensowenig durch das mystische Nichtwissen, das die kosmogonische Potenz des späteren Buddhismus und des Vedânta ist, weil etwas Unreales keine positiven Wirkungen erzeugen kann; ferner nicht durch eine anfangslose Beeinflussung von Seiten der Objekte, weil ein Zusammenhang zwischen der Seele und den Objekten unmöglich ist; und schließlich auch nicht durch irgendeine Art von Wandern, weil die Seele bewegungslos ist. Was also ist in Wahrheit die Ursache des Gebundenseins der Seele? Sagt man: die Verbindung von Seele und Materie47, so ist das nur eine Umschreibung des Ausdrucks ›Gebundensein‹, aber keine Feststellung der Ursache. Das Gebundensein wird nach der Sâmkhya-Lehre einzig und allein bewirkt durch die ›Nichtunterscheidung‹ (aviveka, auch viparyaya, viparyâsa, viparîta-jñâna ›irrtümliche Umkehrung des wahren Sachverhalts‹ genannt)48. Diese Nichtunterscheidung wird definiert als eine »Auffassung der beiden Begriffe Materie und Seele, bei der das Nichtverschmolzensein beider unerkannt bleibt«49. Danach kann die Nichtunterscheidung von zweierlei Art sein, je nachdem man nämlich den Gegensatz von Seele und Urmaterie oder die Verschiedenheit der Seele von den Umwandelungen der Urmaterie, d.h. von den inneren Organen, den Sinnen und den Elementen nicht erkennt. Praktisch äußert sich zudem die Nichtunterscheidung bei unphilosophischen Leuten, die es im übrigen mit dem Streben nach der Erlösung ernst nehmen, in der Vollziehung von Opfern und der Ausübung frommer Werke. Es wird deshalb von[381] einem dreifachen Gebundensein geredet, einem Gebundensein: durch die Urmaterie (prakṛti-oder prâkṛta bandha), durch die Umwandelungen der Urmaterie (vaikârika bandha) und durch das Ritual (dakṣiṇâ- oder dâkṣiṇika bandha)50. Der letzte Ausdruck enthält eine offenbare Verurteilung der brahmanischen Zeremonien und des den Priestern für ihre Vollziehung gezahlten Opferlohns. Diese Dreiteilung aber, ein Ausfluß der Schematisierungssucht unseres Systems, ist von untergeordneter Bedeutung; denn bloß bei einer Art von Nichtunterscheidung erfordert die Beseitigung ernste Anstrengungen. Das ist die Nichtunterscheidung der Seele von den inneren Organen, die Nichtunterscheidung des Geistes von dem scheinbar geistigen Sattva, das die Erkenntnisfunktionen bewirkend in den inneren Organen und besonders in der Buddhi sich befindet. Diese Verschiedenheit von Sattva und Seele (sattva-puruṣâ–'nyatâ)51 ist diejenige Form des Unterschiedes zwischen Materiellem und Geistigem, die am schwersten zu begreifen ist, mit deren Erkenntnis aber auch das höchste Ziel erreicht ist; denn die Verschiedenheit der Seele von allem anderen sonst ergibt sich von selbst, wenn dieser eine Unterschied erkannt ist.

Die Nichtunterscheidung ist nun die Ursache aller Leidenschaften und Begierden, die den Menschen an das Leben fesseln, sie ist die Ursache des Handelns, also der Erwerbung von Verdienst und Schuld, und damit die Ursache des Wirkens der Materie überhaupt, d.h. des ganzen empirischen Daseins52. In allen diesen Hinsichten ist die Nichtunterscheidung nur mittelbare Veranlassung des Gebundenseins; wir haben also noch festzustellen, wie sie [382] unmittelbar das Gebundensein der Seele bewirkt. Dies tut sie dadurch, daß sie das Reflektieren der Innenorgansaffektionen und insbesondere – worauf es hier ankommt – des Schmerzes in der Seele verursacht53. Die Tatsache also, daß wir das völlige Unbeteiligtsein der Seele an den inneren Vorgängen nicht erkennen, hat nach der Sâmkhya-Lehre zur Folge, daß der Schmerz in der Form eines Reflexes Eingang in die Seele findet, d.h. zum Bewußtsein kommt. Wenn die Nichtunterscheidung geradezu mit dem Gebundensein identifiziert wird54, so ist das eine uneigentliche Ausdrucksweise, durch welche die unmittelbare Veranlassung an die Stelle der Wirkung gesetzt wird55.

Wenn auch die Nichtunterscheidung als das Anfangsglied in der Kausalitätsreihe gilt, so ist dabei doch folgendes nicht zu übersehen. Auch die Nichtunterscheidung kann noch auf eine Ursache zurückgeführt werden, und das ist die Disposition (samskâra, vâsanâ) zur Nichtunterscheidung, die auch während der Zeit der Weltauflösung bestehen bleibt und somit die Wurzel alles Übels von Ewigkeit her bis in Ewigkeit ist56. Da diese unheilvolle Disposition ein Erbteil aus der vorangehenden Existenz, die Nachwirkung der damaligen Nichtunterscheidung ist, die ihrerseits wiederum aus der entsprechenden Disposition hervorgegangen sein muß usf., so liegt hier eine anfangslose Kontinuität vor57. »Wenn die Nichtunterscheidung einen Anfang hätte, so würde in dem Falle, daß sie von selbst entstehen soll, auch der Erlöste wieder gebunden werden können; und in dem Falle, daß sie durch Werke oder etwas anderes hervorgerufen sein soll, müßten wir nach einer neuen Nichtunterscheidung als Ursache für diese Werke oder für das andere suchen, und damit würden wir einen regressus in infinitum erhalten«58. An dem regressus in infinitum jedoch, den die Annahme der Verkettung von Nichtunterscheidung und Disposition[383] zur Nichtunterscheidung nötig macht, nimmt die Sâmkhya-Philosophie keinen Anstoß.

36

Sûtra V. 116, Vijñ. zu I. 19.

37

Vijñ. zu Sûtra I. 7, 17 und sonst.

38

S. oben S. 191.

39

Und heißt deshalb aupâdhika; Vijñ. zu Sûtra I. 12, 19, 54.

40

Zu Sûtra I. 17.

41

Vgl. ferner Vijñ. zu Sûtra I. 19, III. 74, VI. 11, 27, 28, Anir. zu II. 5.

42

Vijñ. zu Sûtra VI. 27, 28.

43

Vijñ. zu Sûtra VI. 20.

44

Sûtra I. 7-11.

45

Vijñ.s Einleitung zu Sûtra I. 12.

46

Sûtra I. 12-54.

47

Vijñ.s Einleitung zu Sûtra I. 55.

48

Kârikâ 44, Sûtra I. 55, III. 24.

49

Vijñ. zu Sûtra I. 55, VI. 12.

50

S. die Kommentare zu Kârikâ 44, Tattvasamâsa Sûtra 22 und Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 73; vgl. auch Vijñ. zu Sûtra I. 57. Auf die Bedeutung des dakṣiṇâ-bandha hat Max Müller, Six Systems2 233, 234, 272, 273 hingewiesen.

51

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 2, Mah. zu Sûtra I. 1, Yogasûtra III. 35, Mahâbhârata XII. 7103-7111, 7703, 7847, 7893.

52

Sûtra III. 68, Vijñ. zu I. 55; s. auch oben S. 238 fg.

53

Vijñ. zu Sûtra III. 74, VI. 11, 27, 28.

54

Sûtra VI. 16.

55

Sûtra III. 74.

56

Anir. zu Sûtra II. 1, Vijñ. zu I. 55, 56.

57

S. oben S. 205.

58

Vijñ. zu Sûtra VI. 12.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 378-384.
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