Neunte Rede

Vollmond

I

[829] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Osthaine, auf Mutter Migāros Terrasse.

Um diese Zeit nun hatte der Erhabene – es war ein Feiertag, im halben Monat, in der voll aufgegangenen Mondnacht – inmitten der Mönchgemeinde unter freiem Himmel Platz genommen.

Da stand nun einer der Mönche auf, schlug den Mantel um die eine Schulter, verneigte sich ehrerbietig vor dem Erhabenen und sprach also:

»Darf ich, o Herr, den Erhabenen über irgend etwas befragen, wenn mir der Erhabene der Frage Beantwortung gewähren will?«

»Wohlan denn, o Mönch, setze dich auf deinen Platz und frage nach Belieben.«

Und jener Mönch setzte sich auf seinen Platz und sprach also zum Erhabenen:

»Sind das, o Herr, die fünf Stücke des Anhangens, als da ist ein Stück Anhangen an der Form, ein Stück Anhangen am Gefühl, ein Stück Anhangen an der Wahrnehmung, ein Stück Anhangen an der Unterscheidung, ein Stück Anhangen am Bewußtsein?«

»Das sind, Mönch, die fünf Stücke des Anhangens.«

»Gut, o Herr!« sagte da jener Mönch, erfreut und befriedigt durch des Erhabenen Rede, und stellte nun eine fernere Frage:

»Und diese fünf Stücke des Anhangens, o Herr, wo wurzeln die?«

»Diese fünf Stücke des Anhangens, Mönch, wurzeln im Willen.«

»Ist nun, o Herr, Anhangen und die fünf Stücke des Anhangens ein und dasselbe, oder gibt es ein Anhangen außer den fünf Stücken des Anhangens?«

»Nicht ist, Mönch, Anhangen und die fünf Stücke des Anhangens ein und dasselbe, doch gibt es kein Anhangen außer den fünf Stücken des Anhangens: was da, Mönch, bei den fünf Stücken des Anhangens Willensreiz ist, das ist dabei Anhangen.«

»Und kann, o Herr, bei den fünf Stücken des Anhangens eine Verschiedenheit des Willensreizes bestehn?«

[830] »Kann sein, Mönch«, sagte der Erhabene. »Da hat einer, Mönch, den Wunsch: ›So sei meine künftige Form, so sei mein künftiges Gefühl, so sei meine künftige Wahrnehmung, so sei meine künftige Unterscheidung, so sei mein künftiges Bewußtsein.‹ So kann, Mönch, bei den fünf Stücken des Anhangens eine Verschiedenheit des Willensreizes bestehn.«

»Inwiefern aber, o Herr, kommt den Stücken die Bezeichnung Stücke zu?«

»Was es auch, Mönch, an Form gibt, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene oder fremde, grobe oder feine, gemeine oder edle, ferne oder nahe, ist ein Stück Form; was es auch an Gefühl gibt, vergangenes, zukünftiges, gegenwärtiges, eigenes oder fremdes, grobes oder feines, gemeines oder edles, fernes oder nahes, ist ein Stück Gefühl; was es auch an Wahrnehmung gibt, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene oder fremde, grobe oder feine, gemeine oder edle, ferne oder nahe, ist ein Stück Wahrnehmung; was es auch an Unterscheidungen gibt, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene oder fremde, grobe oder feine, gemeine oder edle, ferne oder nahe, ist ein Stück Unterscheidung; was es auch an Bewußtsein gibt, vergangenes, zukünftiges, gegenwärtiges, eigenes oder fremdes, grobes oder feines, gemeines oder edles, fernes oder nahes, ist ein Stück Bewußtsein. Insofern, Mönch, kommt den Stücken die Bezeichnung Stücke zu.«

»Was ist nun, o Herr, der Anlaß, was ist der Grund, daß ein Stück Form erscheinen kann, was ist der Anlaß, was ist der Grund, daß ein Stück Gefühl erscheinen kann, was ist der Anlaß, was ist der Grund, daß ein Stück Wahrnehmung erscheinen kann, was ist der Anlaß, was ist der Grund, daß ein Stück Unterscheidung erscheinen kann, was ist der Anlaß, was ist der Grund, daß ein Stück Bewußtsein erscheinen kann?«

»Die vier Hauptstoffe, Mönch, sind der Anlaß, die vier Hauptstoffe sind der Grund, daß ein Stück Form erscheinen kann, Berührung ist der Anlaß, Berührung ist der Grund, daß ein Stück Gefühl erscheinen kann, Berührung ist der Anlaß, Berührung ist der Grund, daß ein Stück Wahrnehmung erscheinen kann, Berührung ist der Anlaß, Berührung ist der Grund, daß ein Stück Unterscheidung erscheinen kann, Bild und Begriff ist, Mönch, der Anlaß, Bild und Begriff ist der Grund, daß ein Stück Bewußtsein erscheinen kann.«

»Wie aber kann, o Herr, der Glaube an Persönlichkeit aufkommen?«

»Da hat einer, Mönch, nichts erfahren, ist ein gewöhnlicher Mensch, ohne Sinn für das Heilige, der heiligen Lehre unkundig, der heiligen Lehre unzugänglich, ohne Sinn für das Edle, der Lehre der Edlen unkundig, der Lehre der Edlen unzugänglich und betrachtet die Form als sich selbst, oder sich selbst als formähnlich, oder in sich selbst die Form, oder in der Form sich selbst; er betrachtet das Gefühl, die Wahrnehmung, die Unterscheidungen, [831] das Bewußtsein als sich selbst, oder sich selbst als diesen ähnlich, oder in sich selbst diese, oder in diesen sich selbst. So kann, Mönch, der Glaube an Persönlichkeit aufkommen.«

»Und wie kann, o Herr, der Glaube an Persönlichkeit nicht aufkommen?«

»Da hat einer, Mönch, als erfahrener heiliger Jünger das Heilige gemerkt, ist der heiligen Lehre kundig, der heiligen Lehre wohlzugänglich, hat das Edle gemerkt, ist der Lehre der Edlen kundig, der Lehre der Edlen wohlzugänglich und betrachtet die Form nicht als sich selbst, noch sich selbst als formähnlich, noch in sich selbst die Form, noch in der Form sich selbst; er betrachtet das Gefühl, die Wahrnehmung, die Unterscheidungen, das Bewußtsein nicht als sich selbst, noch sich selbst als diesen ähnlich, noch in sich selbst diese, noch in diesen sich selbst. So kann, Mönch, der Glaube an Persönlichkeit nicht aufkommen.«

»Was ist nun, o Herr, bei der Form Labsal, was Elend, und was Überwindung? Was ist beim Gefühl, bei der Wahrnehmung, bei den Unterscheidungen, beim Bewußtsein Labsal, was Elend, und was Überwindung?«

»Was da, Mönch, Wohl und Erwünschtes der Form gemäß geht, ist bei der Form Labsal; was als Form vergänglich ist, wehe, wandelbar, ist bei der Form Elend; was bei der Form Verneinung des Willensreizes ist, Verleugnung des Willensreizes, ist bei der Form Überwindung. Was da, Mönch, Wohl und Erwünschtes dem Gefühle, der Wahrnehmung, den Unterscheidungen, dem Bewußtsein gemäß geht, ist dabei Labsal; was als Gefühl, als Wahrnehmung, als Unterscheidung, als Bewußtsein vergänglich ist, wehe, wandelbar, ist dabei Elend; was beim Gefühle, bei der Wahrnehmung, bei den Unterscheidungen, beim Bewußtsein Verneinung des Willensreizes ist, Verleugnung des Willensreizes, ist dabei Überwindung.«

»Wie aber können, o Herr, einen Wissenden, wie einen Sehenden, bei allen äußeren Eindrücken auf diesen mit Bewußtsein behafteten Körper da, der Ichheit und Meinheit Dünkelanwandlungen nicht ankommen?«

»Was es auch, Mönch, für eine Form sei, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene oder fremde, grobe oder feine, gemeine oder edle, ferne oder nahe: alle Form ist, der Wahrheit gemäß, mit vollkommener Weisheit also angesehn: ›Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.‹ Was es auch für ein Gefühl, was es auch für eine Wahrnehmung, was es auch für eine Unterscheidung, was es auch für ein Bewußtsein sei, vergangenes, zukünftiges, gegenwärtiges, eigenes oder fremdes, grobes oder feines, gemeines oder edles, fernes oder nahes: alles Gefühl, alle Wahrnehmung, alle Unterscheidung, alles Bewußtsein ist, der Wahrheit gemäß, mit vollkommener Weisheit also angesehn: ›Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.‹ So können, Mönch, einen Wissenden, so einen Sehenden, bei[832] allen äußeren Eindrücken auf diesen mit Bewußtsein behafteten Körper da, der Ichheit und Meinheit Dünkelanwandlungen nicht ankommen.«


Da stieg nun einem der Mönche folgender Gedanke im Geiste auf: ›So wäre denn also die Form ohne Selbst, das Gefühl ohne Selbst, die Wahrnehmung ohne Selbst, die Unterscheidung ohne Selbst, das Bewußtsein ohne Selbst, und ohne Selbst getane Taten sollten zur Täterschaft gereichen?‹ Und der Erhabene, den Gedanken jenes Mönches im Geiste geistig gewahrend, wandte sich an die Mönche:

»Es mag wohl sein, ihr Mönche, daß da irgendein eitler Mensch aus Unwissen, in Unwissenheit geraten, vom Durst im Geiste überwältigt, die Weisung des Meisters überbieten zu müssen vermeine: ›So wäre denn also die Form ohne Selbst, das Gefühl ohne Selbst, die Wahrnehmung ohne Selbst, die Unterscheidung ohne Selbst, das Bewußtsein ohne Selbst, und ohne Selbst getane Taten sollten zur Täterschaft gereichen?‹, fragt er. Unterwiesen seid ihr, Mönche, von mir bei solchen und ähnlichen Fragen. Was meint ihr wohl, Mönche: ist die Form unvergänglich oder vergänglich?«

»Vergänglich, o Herr!«

»Was aber vergänglich, ist das weh' oder wohl?«

»Weh', o Herr!«

»Was aber vergänglich, wehe, wandelbar ist, kann man etwa davon behaupten: ›Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst‹?«

»Gewiß nicht, o Herr!«

»Was meint ihr wohl, Mönche: ist das Gefühl, die Wahrnehmung, die Unterscheidung, das Bewußtsein unvergänglich oder vergänglich?«

»Vergänglich, o Herr!«

»Was aber vergänglich, ist das weh' oder wohl?«

»Weh', o Herr!«

»Was aber vergänglich, wehe, wandelbar ist, kann man etwa davon behaupten: ›Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst‹?«

»Gewiß nicht, o Herr!«

»Darum also, ihr Mönche: was es auch für eine Form sei, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene oder fremde, grobe oder feine, gemeine oder edle, ferne oder nahe: alle Form ist, der Wahrheit gemäß, mit vollkommener Weisheit also anzusehn: ›Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.‹ Was es auch für ein Gefühl, was es auch für eine Wahrnehmung, was es auch für eine Unterscheidung, was es auch für ein Bewußtsein sei, vergangenes, zukünftiges, gegenwärtiges, eigenes oder fremdes, grobes oder feines, gemeines oder edles, fernes oder nahes: alles Gefühl, alle Wahrnehmung, alle Unterscheidung, alles Bewußtsein ist, der Wahrheit gemäß, mit [833] vollkommener Weisheit also anzusehn: ›Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.‹ In solchem Anblick, ihr Mönche, wird der erfahrene heilige Jünger der Form überdrüssig und wird des Gefühles überdrüssig und wird der Wahrnehmung überdrüssig und wird der Unterscheidungen überdrüssig und wird des Bewußtseins überdrüssig. Überdrüssig wendet er sich ab. Abgewandt löst er sich los. ›Im Erlösten ist die Erlösung‹, diese Erkenntnis geht auf. ›Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‹ versteht er da.«


Also sprach der Erhabene. Zufrieden freuten sich jene Mönche über das Wort des Erhabenen.

Während aber diese Darlegung stattgefunden, hatte sich bei etwa sechzig Mönchen das Herz ohne Hangen vom Wahne abgelöst361.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 829-834.
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