Zehnte Rede

Vekhanaso

[593] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Siegerwalde, im Garten Anāthapiṇḍikos.

Da nun begab sich Vekhanaso, ein Pilger, dorthin wo der Erhabene weilte, tauschte höflichen Gruß und freundliche, denkwürdige Worte mit dem Erhabenen und stellte sich seitwärts hin. Seitwärts stehend ließ nun Vekhanaso der Pilger vor dem Erhabenen den Ausspruch vernehmen:

»Das ist der höchste Glanz, das ist der höchste Glanz.«

»Warum denn, Kaccāno172, sagst du: ›Das ist der höchste Glanz, das ist der höchste Glanz‹? Was ist das für ein höchster Glanz?«

»Ein Glanz, o Gotamo, über den es keinen größeren und helleren gibt, das ist der höchste Glanz.«

»Und was ist das, Kaccāno, für ein höchster Glanz, über den es keinen größeren und helleren gibt?«

»Jener Glanz, o Gotamo, über den es keinen größeren und helleren gibt, das ist der höchste Glanz.«

»Lange noch kannst du also, Kaccāno, fortfahren, wenn du sagst ›Jener Glanz, o Gotamo, über den es keinen größeren und helleren gibt, das ist der höchste Glanz‹, und diesen Glanz nicht erklärst. Gleichwie etwa, Kaccāno, [593] wenn ein Mann also spräche: ›Ich habe nach ihr, die da im ganzen Lande die Schönste ist, Verlangen, habe Sehnsucht nach ihr‹; und man fragte ihn: ›Lieber Mann, die Schönste des Landes, nach der du verlangst und dich sehnst, kennst du diese, ob es eine Fürstin oder eine Priestertochter, ein Bürgermädchen oder eine Dienerin ist?‹; und er gäbe ›Nein‹ zur Antwort; und man fragte ihn: ›Lieber Mann, die Schönste des Landes, nach der du verlangst und dich sehnst, kennst du diese, weißt du wie sie heißt, wo sie herstammt oder hingehört, ob sie von großer oder von kleiner oder von mittlerer Gestalt ist, ob ihre Hautfarbe schwarz oder braun oder gelb ist, in welchem Dorf oder welcher Burg oder welcher Stadt sie zu Hause ist?‹; und er gäbe ›Nein‹ zur Antwort; und man fragte ihn: ›Lieber Mann, die du nicht kennst und nicht siehst, nach der verlangst du, sehnst dich nach ihr?‹; und er gäbe ›Ja‹ zur Antwort; was meinst du wohl, Kaccāno: hätte nun nicht, bei solcher Bewandtnis, jener Mann unbegreifliche Antwort gegeben?«

»Allerdings hätte, o Gotamo, bei solcher Bewandtnis, jener Mann unbegreifliche Antwort gegeben.«

»Ebenso nun auch, Kaccāno, hast du gesagt ›Jener Glanz, o Gotamo, über den es keinen größeren und helleren gibt, das ist der höchste Glanz‹, und hast diesen Glanz nicht erklärt.«

»Gleichwie etwa, o Gotamo, ein Juwel, ein Edelstein, von reinem Wasser, achteckig, wohlbearbeitet, auf lichter Decke liegend leuchtet und funkelt und strahlt, ebenso glänzend ist die Seele, nach dem Tode genesen.«

»Was meinst du wohl, Kaccāno: ein Juwel, ein Edelstein, der von reinem Wasser, achteckig, wohlbearbeitet ist, auf lichter Decke liegend leuchtet und funkelt und strahlt, oder aber ein Glühwurm, ein Leuchtkäfer in dunkler, finsterer Nacht: wer von den beiden hat größeren und helleren Glanz?«

»Ein Glühwurm, o Gotamo, in dunkler, finsterer Nacht, ein Leuchtkäfer, dieser von beiden hat da größeren und helleren Glanz.«

»Was meinst du wohl, Kaccāno: ein Glühwurm in dunkler, finsterer Nacht, ein Leuchtkäfer, oder aber eine Öllampe in dunkler, finsterer Nacht: wer von den beiden hat größeren und helleren Glanz?«

»Eine Öllampe, o Gotamo, in dunkler, finsterer Nacht, diese von beiden hat da größeren und helleren Glanz.«

»Was meinst du wohl, Kaccāno: eine Öllampe in dunkler, finsterer Nacht, oder aber eine mächtige Fackel in dunkler, finsterer Nacht: wer von den beiden hat größeren und helleren Glanz?«

»Eine mächtige Fackel, o Gotamo, in dunkler, finsterer Nacht, diese von beiden hat da größeren und helleren Glanz.«

[594] »Was meinst du wohl, Kaccāno: eine mächtige Fackel in dunkler, finsterer Nacht, oder aber der Morgenstern in dämmernder Frühe, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind: wer von den beiden hat größeren und helleren Glanz?«

»Der Morgenstern, o Gotamo, in dämmernder Frühe, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, dieser von beiden hat da größeren und helleren Glanz.«

»Was meinst du wohl, Kaccāno: der Morgenstern in dämmernder Frühe, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, oder aber am Feiertage im halben Monat, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, unbeschränkt um Mitternacht der Mond: wer von den beiden hat größeren und helleren Glanz?«

»Der Mond, o Gotamo, am Feiertage im halben Monat, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, unbeschränkt um Mitternacht, dieser von beiden hat da größeren und helleren Glanz.«

»Was meinst du wohl, Kaccāno: der Mond am Feiertage im halben Monat, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, unbeschränkt um Mitternacht, oder aber im letzten Monat der Regenzeit, im Herbste, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, unbeschränkt um Mittag die Sonne: wer von den beiden hat größeren und helleren Glanz?«

»Die Sonne, o Gotamo, im letzten Monat der Regenzeit, im Herbste, wann die Wolken und Nebel verzogen und verschwunden sind, unbeschränkt um Mittag, diese von beiden hat da größeren und helleren Glanz.«

»Nun sind es zwar, Kaccāno, mehr als viele der Götter, deren Licht sich mit dem von Sonne und Mond nicht vergleichen läßt, und ich kenne sie: dennoch aber sag' ich nicht ›Ein Glanz, über den es keinen größeren und helleren gibt‹; während, Kaccāno, du dagegen von jenem Glanze, der dem Glühwurm, dem Leuchtkäfer nachsteht, unterlegen ist, sagst ›Das ist der höchste Glanz‹, und diesen Glanz nicht erklärst. –

Fünf Begehrungen, Kaccāno, gibt es: welche fünf? Die durch das Gesicht ins Bewußtsein tretenden Formen, die ersehnten, geliebten, entzückenden, angenehmen, dem Begehren entsprechenden, reizenden; die durch das Gehör ins Bewußtsein tretenden Töne, die ersehnten, geliebten, entzückenden, angenehmen, dem Begehren entsprechenden, reizenden; die durch den Geruch ins Bewußtsein tretenden Düfte, die ersehnten, geliebten, entzückenden, angenehmen, dem Begehren entsprechenden, reizenden; die durch den Geschmack ins Bewußtsein tretenden Säfte, die ersehnten, geliebten, entzückenden, angenehmen, dem Begehren entsprechenden, reizenden; die durch das Getast ins Bewußtsein tretenden Tastungen, die ersehnten, geliebten, entzückenden, angenehmen, dem Begehren entsprechenden, reizenden. [595] Das sind, Kaccāno, die fünf Begehrungen. Was da, Kaccāno, Wohl und Erwünschtes diesen fünf Begehrungen gemäß geht, das nennt man Begierdengenuß. So kommt von Begierden Begierdengenuß, von Begierdengenuß Begierdenhochgenuß, der da hochgeschätzt wird.«

Auf diese Worte sprach Vekhanaso der Pilger zum Erhabenen also:

»Wunderbar, o Gotamo, außerordentlich ist es, o Gotamo, wie da Herr Gotamo so richtig gesagt hat: ›Von Begierden kommt Begierdengenuß, von Begierdengenuß Begierdenhochgenuß, der da hochgeschätzt wird.‹«

»Schwer wirst du, Kaccāno, dieses verstehn, ohne Deutung, ohne Geduld, ohne Hingabe, ohne Anstrengung, ohne Lenkung, was Begierde und Begierdengenuß und Begierdenhochgenuß ist. Die da, Kaccāno, heilige Mönche, Wahnversieger, Endiger sind, das Werk gewirkt, die Bürde abgelegt, das Heil errungen, die Daseinsfesseln zerstört haben, in vollkommener Weisheit erlöst sind, die mögen es verstehn, was Begierde und Begierdengenuß und Begierdenhochgenuß ist.«

So berichtet wurde Vekhanaso der Pilger unwillig und unzufrieden; und den Erhabenen lästernd und den Erhabenen tadelnd und den Erhabenen warnend – ›Ob wohl der Asket Gotamo vollbracht hat‹ – sprach er also zum Erhabenen:

»Ebenso auch reden da gar manche Asketen und Priester, die vom Anfang nichts wissen, das Ende nicht sehn, und dabei ›Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‹ von sich behaupten: denen gereicht diese Rede nur zum Spotte, zum bloßen Namen, erweist sich ganz eitel und nichtig.«

»Die da, Kaccāno, Asketen und Priester sind, und vom Anfang nichts wissen, das Ende nicht sehn, und dabei ›Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‹ von sich behaupten, denen freilich kommt diese Rüge mit Recht zu. Aber, Kaccāno, sei es um den Anfang, sei es um das Ende: willkommen sei mir ein verständiger Mann, kein Heuchler, kein Gleisner, ein gerader Mensch; ich führ' ihn ein, ich lege die Satzung dar. Der Führung folgend wird er in gar kurzer Zeit eben selber merken, selber sehn, daß man also ganz von der Fessel befreit wird, nämlich von der Fessel des Nichtwissens.

Gleichwie etwa, Kaccāno, wenn ein zarter Knabe, ein unvernünftiger Säugling, mit dem Nacken zufünft in Fesseln eingewickelt, eingeschnürt wäre; und wie er erwüchse und die Sinne sich weiterentwickelten, befreite man ihn von den Fesseln; und ›Frei bin ich‹ merkte er da, und keine Fessel: ebenso nun auch, Kaccāno, sei mir ein verständiger Mann willkommen, kein Heuchler, kein Gleisner, ein gerader Mensch. Ich führ' ihn ein, ich lege die Satzung dar. Der Führung folgend wird er in gar kurzer Zeit eben selber merken, selber [596] sehn, daß man also ganz von der Fessel befreit wird, nämlich von der Fessel des Nichtwissens.«


Nach diesen Worten wandte sich Vekhanaso der Pilger also an den Erhabenen:

»Vortrefflich, o Gotamo, vortrefflich, o Gotamo! Als Anhänger möge mich Herr Gotamo betrachten, von heute an zeitlebens getreu173

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 593-597.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon