[663] Da ließ der ehrwürdige Aṉgulimālo, während er einsam zurückgezogen sann, das Heil der Erlösung erfahrend, um diese Zeit folgende Weise vernehmen:
»Wer früher törig sorglos war,
Doch endlich seine Schuld erkennt,
Der leuchtet durch die finstre Welt
Gleichwie der Mond aus Wolkennacht.
Wer einst begangne böse Tat
In wahrer Buße tief bereut,
Der leuchtet durch die finstre Welt
Gleichwie der Mond aus Wolkennacht.
Wer noch in holder Jugendkraft
Als Jünger hier dem Sieger folgt,
Der leuchtet durch die finstre Welt
Gleichwie der Mond aus Wolkennacht.
Die Lüfte sollen lauschen meinem Sange
Und lieblich wehen um den Auferwachten,
Die Lüfte sollen grüßen mir die Menschen,
Die Großen, die sich nach der Wahrheit sehnen.
Den Lüften tu' mein Lied ich kund,
Das Lob der Liebe, der Geduld:
O wehet nieder, neigt euch her
Und tragt die Wahrheit weiter dann!
[663] O sei mir jeder wohlgesinnt
Und allem andern was er sieht:
Den höchsten Frieden findet froh
Wer schützt was atmet, schützt was lebt221.
Kanäle schlichten Bauern durch das Feld,
Die Bogner schlichten spitze Pfeile zu,
Die Zimmrer schlichten schlanke Balken ab,
Sich selber, wahrlich, machen Weise schlicht.
Geschlichtet wird gar mancher Streit
Mit Stock und Stachel, Peitsche, Strick:
Doch ohne Stock, doch ohne Stahl
Hat mich der Meister schlicht gemacht.
Einst hat man Friedrich222 mich genannt,
Und Friedensmörder war ich nur:
Den echten Namen führ' ich heut,
Genesen froh als Friedenswalt.
Berüchtigt war das Räuberhaupt,
Aṉgulimālo war der Mord:
Da brach der Strom die Bresche durch
Und trieb mich hin zum wachen Herrn!
Mit Blut befleckt' ich meine Hand,
Aṉgulimālo war der Mord:
Gerettet sieh' mich rasten hier,
Die Daseinsader ist verdarrt.
Der solche Taten ich getan,
Von Unheil schwer, von Unheil schwül,
Genieße reichlich reifen Lohn,
Entsündigt nehm' ich Atzung ein.
Dem leichten Sinn ergeben sich
Erlahmte Männer, ohne Mut;
Den Ernst bewahrt der weise Mann
Als köstlich besten Schatzeshort.
Ergebt euch nicht dem leichten Sinn,
O folget nicht der Liebeslust!
Der ernst in sich gekehrte Mönch
Ist höchstem Heile selig nah223.
[664] Gefunden hab' ich's, nicht verfehlt,
Kein übel Ding bedünkt es mich,
Von allem was die Welt gewährt
Hab' ich das Beste auserwählt.
Gefunden hab' ich's, nicht verfehlt,
Kein übel Ding bedünkt es mich,
Drei Wissenschaften kenn' ich gut,
Erfüllt ist was der Meister will224.«
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Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
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